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Alles muss raus

Thilo Mischke, der Erzähler

Natürlich bin ich aufgeregt. Meine erste Moderation nach einer gefühlten Ewigkeit. Heute Abend begrüße ich Thilo Mischke auf der Bühne der Backfabrik im Prenzlauer Berg, dort wo mein Vater als Jugendlicher in der DDR an einem Fließband Brote und Brötchen für Ostberlin produziert hat. Thilo Mischke, der Extrem-Journalist, der in Ländern wie Afghanistan, Syrien und El Salvador unglaubliches erlebt hat, der sich immer dann hineinstürtzt, wenn andere wegrennen, der in Bagdad eine Halle aufsucht, um schwimmen zu gehen.

Ich bekomme am Nachmittag eine Nachricht von Thilo. Er schreibt: Ich bin aufgeregt. 

Sofort bin ich erleichtert, denn zu zweit aufgeregt sein macht mehr Spaß, als alleine aufgeregt sein. Normalerweise habe ich Flo, den Techniker, der es immer wieder schafft, meine Aufregung vor einem Auftritt runterzufahren. Er ist der beste Mann in der Backfabrik. Kümmert sich um Musik, Mikros und Licht an einem Tisch, direkt hinter dem Publikum. Er ist aber auch deshalb der beste Mann, weil wir seit zehn Jahren die Vereinbarung haben, dass er mit dem Klatschen beginnt, wenn geklatscht werden soll, sich aber niemand traut. Heute Abend wird Flo nicht einmal als Erster klatschen. Das braucht er nicht. Die Leute klatschen von sich aus. Für Thilo Mischke.

Das Publikum dieses warmen 6. Aprils ist aber auch mucksmäuschenstill. Weil das Licht auf der Bühne grell ist, sehe ich meistens die Gesichter vor mir nicht und verlasse mich stattdessen auf die Geräusche, die mir die Stimmung im Raum verraten. Höre ich Kichern, sind die Leute meistens gut unterhalten, bei Getuschel sind sie gelangweilt und höre ich, wie Flaschen und Gläser umfallen, was meistens zum Ende hin passiert, dann weiß ich, die Leute werden unruhig und es wird Zeit zum Schluss zu kommen. 

Heute Abend ist das Publikum also still. So still, wie ich es noch nie erlebt habe, weil es die Luft anhält, wenn Thilo Mischke aus seinem Buch ALLES MUSS RAUS (Öffnet in neuem Fenster) vorliest. Sein Oberkörper ist nach vorne gelehnt, die Lesestimme entspannt, er blickt nicht einmal nach oben. Wir sind in El Salvador. Dort wird in einem sandigen Tal zusammen mit einem Forensiker die Leiche eines ermoderteten Sechzehnjährigen geborgen. Vermutlich war der Junge in einer Gang. El Salvador ist eines der kriminellsten Länder der Welt. Mittendrin steht Thilo Mischke mit einem Spaten, der nicht weiß, was er empfinden soll, bei der Suche nach einem toten Körper. Dass es mir auch so geht, ist die große Stärke des Textes. Was Thilo Mischke dort später ausgegraben sieht, prägt ihn. 

Thilo Mischke blickt hoch. Ich will wissen, warum er dort mitgräbt und nicht einfach nur daneben steht. Ich frage: „Warum fällt es dir so schwer, nicht neutral zu bleiben?“ Er antwortet: „Das kann keiner.“ Und er erklärt die Unmöglichkeit der Beobachtung eines Journalisten, was dieser Beruf soll und was er will und dabei fällt mir auf, dass ich ihm wirklich gerne zuhöre. Die Stimmung im Raum ist jetzt gelassen. Allen geht es so wie mir. Thilo Mischke ist ein wahnsinnig guter Erzähler. Er redet über Kriminalität in El Salvador, die man nicht kennt, aber sofort versteht. Wie im Buch auch. Die Einzigartigkeit seiner Erlebnisse und die Worte mit denen er sie beschreibt, ist tatsächlich zum Luft anhalten, ist bemerkenswerte Literatur. Und mir ist noch nie jemand begegnet, der mit einem Jetlag so aussieht als hätte er keinen Jetlag. Ein Tag vorher stand Thilo Mischke nämlich noch an einem Flughafen in El Salvador. Die zweite Reise, sechs Jahre nach dem sandigen Tal. Auch hierüber spricht Thilo Mischke. Und es hinterlässt gedanklich etwas bei mir. Dieses Zurückkehrenwollen an Orte, mit denen man nicht abschließen kann. Ein Satz, den ich am nächsten Morgen in mein Notizbuch schreiben werde. Dahinter eine Uhrzeit. 01:23. So spät ist es gerade in El Salvador, als mein Kaffee fertig gezogen ist und ich den Stift in der Hand halte. Mit zwei welligen Linien unterstreiche ich die Notiz.

Am Ende der Lesung sage ich: „Das Buch ist eine Herausforderung, das man mit Hingabe liest.“ Ich sage es zweimal. Und ich denke, noch auf der Bühne, der Abend unterscheidet sich eigentlich nicht davon. Und ich weiß es ganz sicher, als ein Paar mich im Zwischengang lächelnd anspricht. Ich frage sie, wie der Abend war. Der Mann, der das Buch eingeklemmt in seiner Armbeuge trägt, er sagt: „Dieser Abend war wie ein Rausch.“ Zwei Wellen in meinem Notizbuch. 

Anmerkung der Redaktion: Am 19.05.2022 ist Thilo Mischke mit seinem Buch in Erfurt. Infos und Tickets hier (Öffnet in neuem Fenster). Weitere Lesungen sind geplant. Ansonsten findet man ihn auch bei Instagram @thilomischke (Öffnet in neuem Fenster).

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