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Gespensterbrief #8 |Herzkammermusik|

Mein liebes Gespenst,

mein Herz ist ein Friedhof, Baby. Jede Kammer ein Mausoleum. Darin zwei Plätze freigehalten für uns in einer Ewigkeit.

Im schlimmen Alter von elf Jahren saß ich im Wohnzimmer meiner Oma und sah HIM bei Viva Overdrive performen. Dieses Konzert (Öffnet in neuem Fenster) sprach die mir per Geburt innewohnende Melancholie an wie nichts anderes zuvor.

Ich verliebte mich sofort in alles, was sie da taten und beschloss, von diesem Moment an nur noch schwarz zu tragen. Ich fuhr in die Stadt und kaufte mir eine schwarze Hose und einen schwarzen Pullover bei H&M, setzte mir größere Creolen ein und mochte meine lockigen Haare noch ein kleines bisschen mehr, weil sie denen von Ville Valo, dem Sänger, so ähnlich waren. Die Hose befindet sich übrigens noch immer in diesem Haushalt, etwas umgeändert und wird manchmal hervorgeholt. Die Qualität von H&M-Sachen war früher echt passabel.

Als HIM sich 2017 auflösten, dachte ich Uff. Aber gut, Dinge müssen sich verändern, es muss weitergehen. Irgendwie seltsam, wenn Musiker:innen es über Gebühr ausreizen und nur noch sich selbst kopieren. Ich war auf drei Konzerten von KISS, ich weiß es einfach. (Es hat natürlich trotzdem Spaß gemacht. Man bekommt genau das, was man erwartet.)

Gleich kaufe ich mir ein Bahnticket, um damit in die große Stadt zu fahren. Später sehe ich Ville Valo und ich bin aufgeregt. Ich habe meine Haare nachgefärbt, meine Sachen gewaschen, neue Socken gekauft und billige Regenschirme, die geklaut werden dürfen. Die Texte des neuen Albums Neon Noir sitzen noch nicht ganz sicher, aber das ist okay.

Ich nehme mich damit selbst an die Hand und führe meine innere Melancholikerin zur Quelle. Sage ihr, wie sehr ich sie liebe und bewahre, behüte und begleite.

Musik ist für mich die Quelle an Inspiration und Freiheit, aus der ich täglich schöpfe. Konzerte bieten mir einen Safespace, in dem ich ganz ich sein kann und wo ich mich in meiner Umgebung selbst erkennen darf. Wenn die heutige Nacht vorbei ist, habe ich alle Bands, Musiker:innen, Solo-Artists und Performer:innen gesehen, die ich sehen wollte. Das ist ein krasser Moment für mich, denn die Klimax wird Ville Valo mit seinem ersten Soloalbum sein. Ich nehme mich damit selbst an die Hand und führe meine innere Melancholikerin zur Quelle. Sage ihr, wie sehr ich sie liebe und bewahre, behüte und begleite.

Liebe Unterstützer:innen, ich kaufe mir das Bahnticket von dem Geld, mit dem ihr mich supportet. Dafür möchte ich danke sagen. Dafür, dass ihr mir meinen Weg erleichtert. Wenn ich heute tanze, dann denke ich auch an euch.

Nachtrag I

*Augenaufschlaggeräusch*

Ville Valo

Bereits eineinhalb Stunden vor Einlass standen die Menschen schon ums Eck. Draußen war es kalt, aber schön, man macht so etwas nicht für jede:n und darum zieht man es durch, wenn man schon da ist. Es wurde langsam dunkel, wir waren frei. Drinnen schmiegten die Klänge sich an meinen Körper, legten meinen klirrenden Gedanken die Hand auf. Nun war alles nach oben hin offen. Musik, die wie Liebe klang, quoll in die Fabrik. Ein Ort, der Heimat ist, wenn es so etwas gibt.

In all der Unwirklichkeit gab es Lieblingslieder und einige, die es noch werden. Es gab Berührungen, Lachen und einen Blick, der Begegnung war. Das wollte ich nicht einmal unbedingt und habe es doch bekommen. 🖤

Kælan Mikla

Wenn ihr Bauhaus, She Past Away, Faith and the Muse, The Cure mögt, dann schaut euch mal eine Live-Performance von Kælan Mikla (Öffnet in neuem Fenster) an. Sie waren epic als Vorband. Ich wünschte, ich könnte so schreien wie sie. Ich solle üben, sagten sie. So ist es immer, nicht wahr? Tun und üben und weitermachen.

Nun ist alles ruhig.

In den darauffolgenden Tagen wurde ich krank. Ich bin eine Person, die, sobald ein Konzert stattfindet, für einen Moment vergisst verdrängt, was ist. Brause aus einem Becher, der garantiert von jemandem am oberen Rand berührt wurde? Zum Wohl! Pommes mit den Händen essen? Guten Appetit! Herz an Herz mit Menschen tanzen und einander ansingen? Wo darf ich unterschreiben?
Irgendwann rufe ich meiner Begleitung entgegen: Ich werde hiernach bestimmt total krank! Und dann werde ich natürlich todeskrank. Meine Stimme ist weg. Ville hat sie mitgenommen.

Schweigen.

In mir sucht es. Björk ist auf Tour. Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten liegt mit Beinbruch im Krankenhaus. Alexa Feser (Öffnet in neuem Fenster) ist bald hier und ich freue mich auf sie und meine Freundin Kathi, die in ihrem natürlichen Habitat wundervoll sein wird, wenn sie Merch macht und ich sie auf einer Station dieser Tour treffen darf. Es fehlt mir immer etwas, wenn ich mich nicht auf ein Konzert freuen kann. Es ist wichtig, auf etwas hinzuleben, nicht wahr?

Nachtrag II

Ich wurde so richtig krank. Erst heute konnte ich erste Gedanken an Texte fassen. Immer wieder habe ich es versucht, doch Kranksein nimmt mir jede Kreativität. Heute saß ich auf unserem großen lila Sofa, vor mir ein Stapel kleiner Notizbücher, die ich durchblättern wollte, um mich zu erinnern, wer ich bin. Zum Glück steht es immer irgendwo und am Ende schreibe ich ein Gedicht.

Sieh mich an
Du hast so tiefe Augen
Sterne auf den Lidern
Die Welt geht unter
Wenn du blinzelst

Du machst neues Licht
Mit deinen Blicken
Von Wimpern sprühen Funken
Da ist die neue Welt
Ende, alles ist neu

Wir lösen uns ab und auf
An uns hängt die Zukunft
Gemacht aus Stille und Staub
Wir sind Galaxien in Schwarz
und einer Ewigkeit

Aus den Herzkammerarchiven

Ein Moment

Auf dem Weg zur Tanzfläche wurde man immer umarmt; von Menschen und den Nischen, die sich auftaten.

Mort und ich und viele andere tolle Leute und Brett Andersons Umarmung

Containerliebe – Phillip Boa and the Voodooclub – Konzertbericht

https://jesstartas.de/containerliebe/ (Öffnet in neuem Fenster)

666 XOXO

Eure Jess


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