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Gespensterbrief #5

Mein liebes Gespenst,

vergangen, gegenwärtig, zukünftig.

Weißt du noch, früher und einfach nur so rumlungern?
Uns gehörte der große Spielplatz im Ort. Der zwischen den alleinstehenden Häusern mit den zwei Geschossen, den gepflegten Vorder- und Hintergärten und den Lauben.
Einmal waren andere Jugendliche auf dem Platz. Wir beschimpften uns und ich rief etwas Schlimmes über ihre Mütter zu ihnen rüber. Ich weiß noch, was es war. Ich sag es nicht. Für die, die in der ersten Reihe standen, gab es Kloppe und ich bin noch nie so schnell gerannt. Ole nahm mich bei der Hand, wir versteckten uns in irgendjemandes Vorgarten hinter dem Rhododendron und sahen dabei zu, wie eine Horde die Straße hinaufkam. Wir wagten nicht, uns zu bewegen und blieben hocken bis wir sicher sein konnten, dass sie weitergezogen waren. 

Wir lungerten auf dem Dorfplatz rum, hörten Techno und Metal auf Kassette über ein kleines Diktiergerät, das ich im Keller fand. Manchmal warf sich Hendi mit Anlauf in die schmuck gestutzten Hecken und verärgerte damit die Anwohnenden. Einer drohte mit der Polizei, ein anderer rief sie gleich. Als einmal der Mülleimer neben der Parkbank brannte, beschuldigte man uns und sie hatten recht. Aber Beweise hatten sie nicht. 

Mit Anne saß ich oft in der überdachten Bushaltestelle gegenüber dem Supermarkt. Jede hatte einen Eimer Eis auf dem Schoß. Löffel hatten wir von zu Hause mitgebracht. Die Busfahrer fuhren irgendwann nur noch an uns vorbei. Zum Rauchen stiegen wir einen kleinen Abhang hinab. Wenn Anne bis zu ihrem 18. Geburtstag nicht von ihrem Vater beim Rauchen erwischt werden würde, kaufte er ihr ein Auto, versprach er. Irgendwann wurde ihr das egal und ein Auto brauchten wir hier eh nicht. Manchmal schlief am Abhang ein Mann - Axel. Er hatte wirres rotes Haar, gebräunte Haut und trug einen grünen Armee-Parka. Liebes Gespenst, grüß ihn von mir.

Ein Teil von mir dachte, es würde immer so weitergehen. 

Wir sind nicht mehr so viele. Nein, Moment. Wir sind nicht mehr vollzählig. Weißt du noch, wie wir vor zwei Jahren alle weinen mussten, obwohl der Anlass ein so fröhlicher war? Aber mehr sind wir dennoch geworden, denn einige von uns haben Kinder bekommen. Seit 20 Jahren versuchen wir, einander um diese Zeit herum zu sehen. Irgendwo, irgendwie die Clique zusammen bekommen und uns gegenseitig daran erinnern, wo wir herkommen.

Wo kommst du her?

Wenn ich auf Freund*innen von früher treffe - jene, die mit mir ihre Milchzähne verloren und später zusammen Mülleimer anzündeten - dann überrollt mich zunächst das Bedürfnis, wegzulaufen. Wirklich nur ganz kurz, versprochen. K., wir verloren die gleichen Zähne und fühlten uns so schwesterlich. Nach sechs Sekunden holt mich das warme Gefühl ab, das mir einflüstert, wie wertvoll es ist, dass wir gar nicht so weit voneinander weg wohnen, einander noch etwas zu erzählen haben und wir nach ein paar weiteren Minuten lachen können. D., deren Augen sich zu Halbmonden formen, wenn sie lacht.

Um zwei kleine Möbelstücke abzuholen, befuhr ich heute einen Pfad. Er führte einen sanften Hügel hinab in einen Wald. Er hat mich verschluckt und wieder ausgespuckt. Ich befand mich zwischen Weiden und Koppeln, die Titelmelodie eines Animes spielte. Ich wünschte mir, einen Meter über dem Boden zu laufen und so schnell der Wind mich trägt auf der bewucherten Insel inmitten der Felder zu landen. Dort zu leben und zu lieben, bis es mich zerreißt.

Eine Frau öffnete mir die Tür und ich wusste, dass ich sie kenne. Ich sagte zur ihr: Ich kenne Sie. Sie sagte, es könne sein. Ich besah die Möbel, wir sprachen über Kunsthandwerk. Dann fiel es mir ein. Ich kenne sie, weil meine Mentorin aus der Uni-Zeit immer gut von ihr sprach. Und weil ich etwas von ihr besitze. Als Künstlerin und Schneiderin hat sie meine Mentorin mit Maßanfertigungen ausgetstattet. Meine Mentorin wiederum hat mich unterstützt und mir einen Satz wunderschöner Alltagsmasken aus den feinsten Stoffen anfertigen lassen, als die Pandemie begann. Damit man sich wenigstens angucken mag, wenn man sich schon verdecken muss. Meine Mentorin ist im vergangenen Jahr plötzlich verstorben. Sie fehlt mir. So wie ihrer Schneiderin. Wir unterhielten uns noch eine Weile und bleiben in Kontakt.

Ich schwebe durch die Raunächte, bin zwischen den toten Tagen ein Mensch, der zurückblickt und sich vergewissert, dass es noch eine Zukunft gibt. Bekomme Besuch aus der unsichtbaren Kammer meines Herzens. Die, die ich sonst nur spüre. Menschen stehen vor mir und erzählen von Altem und Schmerzendem. In unseren Augen liegt die Schwere aus vergangenen Erlebnissen. Wir erkennen einander, so ist es immer. Und dann blicken wir von hier aus den Hügel hinauf und in den Wald hinein. Zwei Pferde reiben ihre Hälse aneinander, ihr Atem kräuselt sich dampfend aus ihren Nüstern.

Man muss dem Verlust etwas entgegensetzen, ansonsten verschlingt es einen. Es gibt Tage, an denen gelingt es mir nicht immer und ich sehe mehr zurück als mir lieb ist und als ich ertragen kann. Es ist nicht so, als hörte Trauer irgendwann auf. Sie gehört zu einem. Ganz unspektakulär wird man zu einem Menschen, der manchmal sehr traurig ist, weil er vermisst. Jemand, der Witze übers Sterben macht und Briefe ans Dazwischen schreibt. Jemand, der hofft, dass es verstanden wird und die richtigen Menschen erreicht. Weil wir nicht wirklich alleine sind.

Grüß sie alle, liebes Gespenst. Ich bin verabredet und schaffe eine neue Erinnerung. Bis bald.

Ich danke euch für das Jahr. Dafür, dass ihr mich begleitet und mir mit eurer Unterstützung ermöglicht, zu schreiben und freie Kunst zu machen. Schreibt mir gerne über die üblichen Kanäle, ich bin überall. Wir sehen uns 2023.

Frau Frieden und ihr Frosch. (2020, Auftragsarbeit)

Weil die Frage aufkam: Ja, die Collagen sind von mir. Ich mache sie seitdem ich ein Kind bin. Es begann mit einer Chormappe, die mir zu langweilig aussah. 25 Jahre später und hier sind wir. Wer Wünsche nach einer eigenen Collage von mir hat, kann sich gerne melden, ich habe Kapazitäten frei. Beizeiten erzähle ich gerne mehr, aber nun muss ich wirklich los.
xoxo
Eure Jess

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