Wir haben den Anfängen nicht gewehrt
Disclaimer: Das ist kein typischer Naturarium-Newsletter, und normal mache ich sowas nicht. Aber ich finde, dass man aktuell jede Möglichkeit ergreifen sollte, sich zu positionieren und laut gegen die aktuellen Entwicklungen in unserer Gesellschaft zu stellen. Deshalb gibt es in 3 Jahren Naturarium jetzt die erste Ausnahme: Einen politischen Meinungsbeitrag von mir zur kommenden Wahl, weil ich finde, Menschen mit öffentlicher Reichweite sollten sich laut positionieren.
Dieser Text hat dennoch etwas mit dem Naturarium zu tun, wenn auch im weiteren Sinne. Trump hat gezeigt, wie schnell Wissenschaft, Forschung und Informationsfreiheit unter Druck geraten können: eingefrorene Förderungen für wissenschaftliche Forschung, Abschaffung der entsprechenden Meetings zwischen Regierung und Forschenden, der Austritt aus dem Klimaabkommen und der WHO – mit verheerenden Folgen für Natur und Gesundheit. Auch in Deutschland gibt es Kräfte, die in diese Richtung drängen, mit massiven Auswirkungen auf Umwelt und Wissenschaft. Die Auswirkungen wären massiv und betreffen genau das, wofür das Naturarium steht: den Schutz der Natur, den Wert von Forschung und das Wissen, das uns allen zugutekommen sollte. Deshalb verzeih mir bitte diese immense Abschweifung, danach gibt es wieder ganz normale Naturkolumnen.
Heute ist der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz – ein Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust und eine Mahnung, niemals zu vergessen. Es macht mich fassungslos, dass ich an einem solchen Tag das Bedürfnis habe, so einen Text schreiben zu müssen. But here we go.
Vor fast zehn Jahren habe ich einen Blogartikel geschrieben, der den Titel trug: "Wehret den Anfängen? Wir sind schon mittendrin”. Er ging viral und wurde über 100.000 Mal gelesen. Damals fand ich, die Sache sei klar: Wir erkennen das Problem, wir handeln, und es wirkte eine zeitlang auch so, als würden wir es hinkriegen. Aber ich lag falsch. Zehn Jahre später hat sich nicht nur nichts verbessert – es ist schlimmer geworden. Wir sind nicht nur mittendrin im Rechtsruck, wir stehen knietief in der Scheiße. Klassisch rechtsextreme Positionen sind längst in der Mitte der Gesellschaft und in der Politik angekommen, und während Millionen Menschen gegen diese Entwicklung protestieren, reagiert die Politik mit einer Mischung aus Ignoranz und Schulterzucken.
Die Frage ist nicht mehr, ob wir den Anfängen wehren können. Die Frage ist, warum ein Land, das aus seiner Vergangenheit so viel hätte lernen können, stattdessen entscheidet, mit Anlauf in dieselben Abgründe zu springen, aus denen wir uns vor nicht allzu langer Zeit mühsam herausgearbeitet haben.
Politik im Dornröschenschlaf
Im vergangenen Jahr sind Millionen Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Straßen gegangen (Öffnet in neuem Fenster), um eine Kehrtwende in der aktuellen, immer weiter nach rechts driftenden politischen Debatte zu erreichen. Millionen! Das ist keine Zahl, die man einfach übersehen kann, oder? Nun ja, anscheinend doch, zumindest wenn man in der Bundesregierung sitzt. Es reicht offenbar, 500 wütende Bauern und Bäuerinnen mit Traktoren oder ein paar Pegida-Spinner:innen mit Transparenten zu sehen, und schon spricht man von den "Sorgen der Bürger:innen", die man "ernst nehmen" müsse. Es gibt Gespräche, es wird auf Sorgen und Forderungen eingegangen. Aber wenn ein millionenschwerer Anteil der Bevölkerung fordert, endlich gegen rechte Hetze und Diskriminierung vorzugehen, passiert – nichts.
Das Problem ist nicht, dass niemand hinsieht. Das Problem ist, dass bewusst und mit bemerkenswerter Kaltschnäuzigkeit weggeschaut wird. Die Frage ist nicht, ob die Politik weiß, dass Millionen Menschen gegen den Rechtsruck protestieren. Natürlich weiß sie es. Die Frage ist, warum sie es ignoriert. Weil diese Menschen nicht laut genug schreien? Weil wir als normale Bevölkerung nicht wütend genug wirken, nicht radikal genug, nicht gefährlich genug? Weil von uns keine brennenden Barrikaden oder Eskalationen zu erwarten sind? Es ist bequem, diejenigen zu ignorieren, die friedlich und sachlich bleiben – leichter, als sich mit ihren berechtigten Forderungen auseinanderzusetzen. Schließlich bedrohen sie keine Machtstrukturen, zumindest nicht so direkt wie die Extremist:innen, von deren Wut man sich erpressen lässt.
Wir werden für dumm verkauft
Deutschland steht vor einer Krise. Einer Krise, die nicht durch Migration verursacht wurde – Newsflash für Friedrich Merz und Co.! –, sondern durch Ignoranz. Die Inflation reißt Löcher in die Geldbeutel, die Wohnungsnot treibt Familien an den Rand der Verzweiflung und Kinderbetreuung ist ein Privileg für Glückliche. Die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen stagniert seit Jahrzehnten, die Renten werden immer kleiner und Altersarmut immer häufiger. Der Klimawandel brennt sich in Wälder, in Städte und in unsere Leben, aber ein gar nicht kleiner Teil der Politik tut immer noch so, als sei das alles bloß eine Ausnahmesituation und nicht mittlerweile schon Standardprogramm. Das Gesundheitssystem knirscht unter der Last, Fachkräfte fehlen an allen Ecken und Enden, der Forschungsstandort Deutschland wird immer unattraktiver und wer gesetzlich versichert ist, darf sich mit Wartezeiten auf Facharzt- und Psychotherapietermine abfinden, die so lang sind, dass man in der Zeit gefühlt ein Studium abschließen kann. Die Sozialabgaben werden immer höher, die -leistungen aber nicht, die Löhne stagnieren, während die Preise in den Supermärkten und überall sonst auch massiv steigen, und der Verkehr tötet Jahr ums Jahr immer weiter Radfahrer:innen und Schulkinder, weil unsere Städte noch immer darauf ausgelegt sind, Autos Priorität zu geben. Läuft bei uns!
Doch anstatt Lösungen zu finden, dreht sich alles um Migration. Als wäre das unser größtes Problem? Als wäre Migration der Grund dafür, dass Städte keine Wohnungen für Normalverdienende bauen, dass Krankenhäuser schließen oder dass der Klimawandel uns überrollt. Alles wird vermischt. Es geht aber sowieso nicht um Lösungen, nicht um Sachthemen oder Fakten. Es geht um Stimmungen, um das, was gerade auf der Straße oder im Internet gut ankommt. Es geht um Rassismus. Dieser Fokus auf Migration ist kein Versuch, reale Probleme zu lösen. Weder, um die tatsächlichen Herausforderungen wie Terrorismus, die Bildung von Parallelgesellschaften oder religiösen Fundamentalismus ernsthaft anzugehen, noch, um die Ursache zu bekämpfen, die überhaupt erst dazu führt: eine desaströse Integrationspolitik, die lautstark fordert, aber nichts bietet. Sie schützt nicht, sie sichert nicht ab – sie lässt Menschen alleine, um sie anschließend für das Scheitern verantwortlich zu machen, das man selbst produziert hat. Nein, diese “Debatte” ist ein Ablenkungsmanöver. Die Methode ist altbekannt, schon in der Weimarer Republik suchte man einfache Antworten auf komplexe Fragen. Damals waren es die Juden, heute sind es die Geflüchteten. Donald Trump hat diese Strategie gerade an die Macht gebracht. Statt zu erklären, warum die Politik bei den echten Problemen scheitert, wird ein Sündenbock präsentiert. Migration wird zur universellen Erklärung für alles, was schiefläuft, Merz spricht sogar davon, erworbene Staatsbürgerschaften bei Fehlverhalten wieder abzuerkennen (es gibt einen historischen Grund, wieso das nicht gehen darf, Stichwort NS-Zeit, aber ach, wer erinnert sich schon an damals, ne?), während die eigentlichen Krisen – Wohnungsnot, Inflation, Klimawandel, Modernisierungsstau und zerfallende Infrastruktur – weiter ignoriert werden.
Und so verkommt der Wahlkampf wieder einmal zu einem monotonen Theaterstück, in dem die immer gleichen Parolen wiederholt werden: "Grenzen schützen", "Migration begrenzen". Kein Wort darüber, warum ein Stück Butter zum Luxusgut wird oder warum man mit einem normalen Gehalt keine normale Wohnung mehr findet, was bei einer Bundestagswahl eigentlich Thema sein sollte. Kein Plan für die überfällige Energiewende. Wenig zum Klimawandel. Stattdessen: Ablenkung, Stillstand, Kapitulation. Am Ende verlieren wir alle. Denn was bleibt von einem Land, in dem Angst wichtiger ist als Fortschritt, in dem Sündenböcke wichtiger sind als Lösungen? Die Strategie der Rechten mag kurzfristig erfolgreich sein, aber sie ist ein Gift, das unsere Gesellschaft langsam, aber sicher zerstört.
Friedrich Merz möchte anscheinend König werden?
Wir müssen über Merz reden, auch wenn es mich ankotzt. Friedrich Merz will Kanzler werden – mit einer Mischung aus populistischer Rhetorik, wirtschaftlichen Naja-Entscheidungen und autoritärem Führungsstil. Doch wer sich näher mit seinen Positionen, Aussagen und seiner Vergangenheit beschäftigt, erkennt schnell: Merz ist kein Kanzler für die Mehrheit der Menschen in Deutschland. In meinen Augen ist er der Kandidat für Eliten, für Stillstand und für die Rückkehr in eine Gesellschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten mühsam überwunden wurde. Gucken wir uns kurz an, wieso ich das denke.
Inhaltliches Kuscheln mit der AfD: Brandmauer oder Brandbeschleuniger?
Merz behauptet, es gäbe eine klare Brandmauer zur AfD. Doch seine Handlungen und Aussagen sprechen, nun, eine "etwas"andere Sprache?! Mit Sätzen wie „Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich sage nur, ich gehe keinen anderen“ (ZEIT, 24.01.2025) zeigt er recht deutlich, dass er bereit ist, AfD-Stimmen für seine migrationspolitischen Ziele zu akzeptieren. Geiler Gegensatz zu früher, wo er jene imaginäre Brandmauer mit seinem “persönlichen Schicksal” verknüpft sah, lol. Mit seinem neuen Kurs gibt er der rechtspopulistischen Partei nicht nur indirekt immer mehr Einfluss, sondern legitimiert sie auch als politischen Partner im Hintergrund. Prima. Die AfD hat Merz’ Annäherung an ihre Positionen natürlich mit sichtlicher Freude aufgenommen. Parteichefin Alice Weidel erklärte: „Die Brandmauer ist gefallen!“ (Deutschlandfunk, 24.01.2025). Sie begrüßte ausdrücklich Merz’ Ankündigungen zur Verschärfung der Migrationspolitik und lobte, dass er inhaltlich endlich AfD-Positionen übernehme. What could possibly go wrong?
Statt eine klare Haltung gegen rechte Positionen einzunehmen und eine klare Grenze zu rechten Parteien zu ziehen, öffnet Merz also lieber die Tür für solche Narrative und lässt sich von der AfD vor sich her treiben. Seine Bereitschaft, AfD-Stimmen für CDU-Initiativen in Kauf zu nehmen, zeigt nicht nur eine gefährliche inhaltliche Annäherung, sondern sendet auch ein fatales Signal an die Wähler:innen: Es geht nicht mehr um klare Abgrenzung, sondern um Macht um jeden Preis. Passt wohl zur Parteilinie? Wenigstens ein Teil der CDU ist ehrlich, postete Julia Glöckner doch dieses Sharebild am 09.01.25 auf Instagram:
Ob ihr jemand mal ausrichten kann, dass das, was die AfD will, nicht demokratisch ist und es dementsprechend keine demokratische Alternative dafür geben kann?
Merz, der Möchtegern-König
Ein weiterer Punkt: Merz hat von der Funktionsweise einer Demokratie offenbar eine etwas … kreative Vorstellung. Seine Ankündigung, an Tag eins seiner Kanzlerschaft ... <checks notes> ... „per Richtlinienkompetenz“ die Grenzen dichtzumachen (ZEIT, 24.01.2025), zeigt eine haarsträubende Ignoranz. Kleine Erinnerung an den Sachkundeunterricht in der Grundschule: Deutschland hat keine Monarchie, und ein Kanzler ist kein König, der Erlasse erteilen kann, wie es ihm passt. Doch genau so inszeniert sich Merz: als autoritärer Entscheider, der glaubt, das Land nach seinen Vorstellungen umbauen zu können – ohne Rücksicht auf rechtliche oder demokratische Hürden. Diese Haltung offenbart nicht nur einen erschreckenden Machtanspruch, sondern auch eine fundamentale Unkenntnis der Grenzen, die das Amt des Bundeskanzlers mit sich bringt. Merz war nie Minister, nie Bürgermeister, hat also noch nie direkte Verantwortung für eine Bevölkerung getragen, für Menschen und den Ort, in dem sie leben – und glaubt dennoch, er könne ein ganzes Land regieren. Was er dabei übersieht: Demokratie ist kein Ort für Alleinherrscherphantasien. Vielleicht sollte ihm das mal jemand ins Ohr flüstern.
Frauenrechte? Da sieht es mit Merz düster aus
Beim Thema Frauenrechte zeigt sich Friedrich Merz immer wieder von seiner rückwärtsgewandtesten Seite. Aufs Thema Schwangerschaftsabbrüche muss man hier gar nicht tiefer eingehen, da weiß man eh, was er davon hält. Aber auch politisch treiben seine in meinen Augen wirklich deutlich frauenfeindlichen Positionen Blüten. Er sprach sich kürzlich in der Sendung RTL/N-TV Frühstart gegen Geschlechterparität in einer möglichen unionsgeführten Bundesregierung aus. Seine Begründung? „Das ist so schiefgegangen in der letzten Bundesregierung mit der Verteidigungsministerin.“ Damit spielte er auf Christine Lambrecht (SPD) an und fügte hinzu: „Wir tun damit auch den Frauen keinen Gefallen“ (Handelsblatt, 19.10.2024). Alles klar, Freddy. Diese Aussagen offenbaren meiner Meinung nach nicht nur sexistische Gedankenwelten, sondern auch ein veraltetes Gesellschaftsbild, in dem Frauen immer noch auf die Gunst von Männern angewiesen sind, um politische Ämter zu bekleiden. Auch seine Bemerkung zu Annegret Kramp-Karrenbauers Rücktritt spricht Bände: „Es ist übrigens reiner Zufall, dass Tiefs im Augenblick Frauennamen tragen.“ (Tagesspiegel, 18.02.2020). Ich sag mal so: Wenn jemand nicht nur durch Taten, sondern auch ganz entspannt mit seinen Worten zeigt, wer er ist, sollte man ihm glauben.
Ein Kanzler für Eliten
Friedrich Merz war Aufsichtsratschef des deutschen Ablegers von Blackrock, einem der mächtigsten und umstrittensten Finanzunternehmen der Welt. Blackrock verwaltet weltweit über zehn Billionen Dollar, hat Einfluss auf Rüstung, Energie, Wohnen und Finanzen und wird von Kritiker:innen als „größte Schattenbank der Welt“ bezeichnet (Augsburger Allgemeine, 09.11.2024). Merz selbst bezeichnete sich damals laut Zeitungsberichten als „aktiven Verkaufschef“, der die Interessen von Blackrock in die politische und wirtschaftliche Elite getragen habe. Dass er heutzutage eine kapitalgedeckte Altersvorsorge fordert – ein Modell, das Unternehmen wie Blackrock immense Gewinne bringen würde, während die Risiken auf die Bevölkerung abgewälzt werden – ist vermutlich reiner Zufall. Die Frage bleibt: Wie unabhängig ist ein Politiker, der so eng mit einem Unternehmen verbunden war, das weltweit für soziale Ungleichheit und demokratiegefährdende Machtzentralisierung kritisiert wird? Das kann sich jeder selbst überlegen.
Sehr lächerlich finde ich, wie Merz sich auch gern als Vertreter der Mittelschicht darstellen möchte. Hey, ich bin einer von euch! Doch seine Realität sieht "etwas" anders aus: Man liest von mehreren Privatjets, von protzigen Sylt-Auftritten, von Privatvermögen von 12 Millionen Euro (Stuttgarter Zeitung, 11.12.2024) und einem hohen Gehalt, von dem die meisten nur träume dürfen. Das zeigt, wie weit er tatsächlich von der Lebensrealität der meisten Menschen entfernt ist. Sein lächerlicher Versuch, sich in die „gehobene Mittelschicht“ einzuordnen, ist unfassbar peinlich. Schon allein der Gedanke, dass er geglaubt hat, dass ihm das jemand abkauft, disqualifiziert ihn in meinen Augen schon direkt für jegliche politische Position. So unfähig kann doch niemand sein.
Friedrich Merz ist kein Kanzler für die breite Bevölkerung, nicht einmal für die Stammwählerschaft der CDU. Er ist ein Mann, der allem Anschein nach nur noch auf populistische Rhetorik, neoliberale Wirtschaftspolitik und gesellschaftlichen Rückschritt setzt. Seine Nähe zur AfD, seine autoritär anmutenden Fantasien und seine Vergangenheit bei Blackrock zeigen für mich, dass er vor allem eines will: Macht – und das anscheinend um jeden Preis. Seine politischen Forderungen spiegeln keine Lösungen für die drängenden Probleme Deutschlands wider. Stattdessen setzt er auf Rückschritt, Blockade und die Stärkung konservativer Machtstrukturen.
Wieso nimmt Friedrich Merz hier jetzt so viel Raum ein?
Warum widme ich Friedrich Merz hier so viel Platz? Weil er symbolisch für eine CDU steht, die sich massiv verändert hat. Ich bin selbst nicht konservativ und würde diese Partei nicht wählen – das war schon immer so. Aber ich konnte damit leben, wenn andere das taten. Es gab eine Zeit, in der die CDU trotz politischer Differenzen eine gewisse Bodenhaftung hatte. Eine Partei, die als bare minimum den demokratischen Grundkonsens verkörperte, die konservative Werte mit einer gewissen, wie soll ich sagen: Anständigkeit vertrat. Zumindest einigermaßen. Doch diese CDU gibt es in meinen Augen nicht mehr, sie hat sich selbst zur Beute für immer radikalere Positionen gemacht. Die heutige Partei hat sich unter Merz in eine Richtung entwickelt, die mir massiv Sorgen bereitet. Statt den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, scheint sie zunehmend darauf aus zu sein, rechte Narrative zu bedienen und demokratische Werte zu verwässern. Dass Merz sich von der AfD beeinflussen lässt, ist schon schlimm genug. Aber auch andere führende Figuren wie Carsten Linnemann, der eng mit Merz verbunden und für mich eine wandelnde Red Flag ist, stehen in meiner Wahrnehmung immer mehr für eine CDU, die weiter und weiter nach rechts rückt. Linnemann, ein recht strenggläubiger Katholik, tritt für eine Weltanschauung ein, die meiner Meinung nach den gesellschaftlichen Fortschritt behindert – von der Gleichstellung der Geschlechter bis zur Akzeptanz vielfältiger Lebensweisen.
Es geht mir hier also in erster Linie nicht nur um Friedrich Merz. Es geht um eine CDU, die ihre politische Identität verliert und sich von einer Partei des demokratischen Konservatismus zu einer Partei der Spaltung entwickelt. Eine CDU, die ihre Orientierung so weit nach rechts verschiebt, dass sie für viele Menschen – und ja, das sage ich als Person, die nie konservativ war – keine akzeptable Wahl mehr ist. Das ist es, was mich beunruhigt. Es geht nicht um politische Differenzen. Es geht um den Schutz der Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den diese Partei einst mitgestaltet hat – und der heute durch sie gefährdet wird.
Die AfD
Muss ich wirklich noch was zu ihr schreiben? Ja, die AfD ist unsozial: Sie will Steuern für Spitzenverdiener:innen und Unternehmen senken, den Solidaritätszuschlag für die reichsten zehn Prozent abschaffen und jegliche Vermögens- oder Erbschaftssteuer verhindern. Sie lehnt ein höheres Rentenniveau ab, fordert längeres Arbeiten und will Milliarden aus der sowieso schon zusammenbrechenden Rentenkasse für eine „Gebärprämie“ umleiten, die nur der „einheimischen“ Bevölkerung zugutekommen soll. Sie hält wenig von Kündigungsschutz, hat gegen die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro gestimmt und eine Corona-Prämie für systemrelevante Berufe abgelehnt – mit der Begründung, „der Markt solle das regeln“, sie wirft ihre eigene Wählerschaft unter den Bus, yadda yadda yadda. Das wissen wir doch alles.
Ich will auch nichts zur Fremdenfeindlichkeit sagen. Ich kann dieses "Wir entzaubern die AfD, indem wir aufzeigen, wie undemokratisch und rechtsextrem sie ist" nicht mehr hören – und werde jetzt sicher nicht selbst damit anfangen.
Wir wissen längst, dass Rassismus in der Partei Alltag ist.
Wir wissen, dass die Partei in vielen Bundesländern als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird und unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht.
Wir wissen, dass antisemitische Tendenzen ein fester Bestandteil ihrer Ideologie sind.
Wir wissen, dass sie nationalistisch denkt und EU sowie Euro hinter sich lassen will – wie gut das funktioniert, sieht man gerade in Großbritannien, wo diese Entscheidung längst bitter bereut wird.
Wir wissen, dass ihr Frauenbild aus einem längst vergangenen Jahrhundert stammt, und es würde wohl niemanden überraschen, wenn sie uns Frauen am liebsten alle wegsperren würden.
Wir wissen, was die AfD wirklich von trans Menschen und Homosexuellen hält. Es ändert nichts, dass sie ihre lesbische Parteichefin wie ein Feigenblatt vor sich hertragen. Die Autorin Katja Berlin hat dazu übrigens eine sehr gute Torte der Wahrheit auf ihrem Instagram-Kanal gepostet:
Wir sind hier nicht bei Katapult und wollen die AfD und ihre Positionen "entzaubern" und dann haben sich alle total lieb und außerdem kommen dann Einhörner zum Feiern vorbei. Jesses. Ich kann es nicht mehr hören. Wir wissen doch, dass Leute diese Partei nicht "trotz" der schlimmen Sachen, die gesagt werden, wählen – sondern WEIL. Und deshalb muss ich das hier jetzt alles nicht noch aufzählen, da das ja auch eure Intelligenz als Leser:innen beleidigt.
Es ist ein Marathon, kein Sprint
Keine Ahnung, ob viele den Text bis hier unten durchhalten. Diese Wahl ist ein Wendepunkt, es ist die erste Wahl, vor deren Ausgang ich tatsächlich richtig Angst habe. Nicht nur Sorge, sondern: Angst. Unsere Freiheit steht auf dem Spiel. Wir haben in vielen Ländern gesehen, was passiert, wenn rechte und rechtskonservative Kräfte an die Macht kommen. Das jüngste Beispiel, die USA, zeigt uns, wie schnell demokratische Werte ausgehöhlt und Institutionen zerstört werden können. Wenn wir den Kräften nachgeben, die Spaltung, Hass und autoritäre Strukturen herbeisehnen und fördern, riskieren wir, alles zu verlieren, was unser Land lebenswert macht: Solidarität, Vielfalt und die Freiheit, unsere eigene Zukunft zu gestalten. Diese Wahl ist keine gewöhnliche Wahl – sie ist eine Entscheidung darüber, ob wir die Werte unserer Demokratie bewahren oder sie Stück für Stück opfern.
Was können wir tun? Nun, am Wichtigsten: Wir dürfen nicht schweigen. Sprecht mit euren Freund:innen, Kolleg:innen, Nachbar:innen. Klärt auf, was auf dem Spiel steht. Zeigt, wie sehr rechte Politik unsere Gesellschaft spaltet und zerstört. Demokratie lebt davon, dass wir sie aktiv verteidigen – und das beginnt im Kleinen. Geht wählen und überzeugt andere, das Gleiche zu tun. Jede Stimme zählt, und gerade in Zeiten wie diesen ist Nichtwählen keine Option. Informiert euch über die Parteien, über ihre Programme, über die Konsequenzen ihrer Politik. Wählt für eine Zukunft, in der Zusammenhalt wichtiger ist als Spaltung.
Protestiert, wenn es nötig ist. Geht auf die Straße, schließt euch Demonstrationen an, unterstützt Organisationen, die sich für Menschenrechte und demokratische Werte einsetzen. Zeigt, dass ihr bereit seid, für das einzutreten, was dieses Land stark macht: Solidarität, Respekt und Vielfalt.
Und vor allem: Hört nicht auf, Hoffnung zu haben. Wandel ist möglich, und es liegt an uns, ihn zu gestalten. Unsere Zukunft ist nicht vorgezeichnet – sie wird durch unsere Entscheidungen bestimmt. Also lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass diese Wahl ein Sieg für die Demokratie wird.
Danke fürs Zuhören.
Jasmin
Update 28.01.: Es gibt jetzt eine sehr interessante Recherche von Correctiv zur Causa Merz: “Schon jetzt stimmt das CDU-Wahlprogramm teils wortgenau mit Forderungen der Chemie- und Metallindustrie überein.”
https://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2025/01/28/bester-mann-der-grosskonzerne-das-lobby-netzwerk-von-friedrich-merz/ (Öffnet in neuem Fenster)P.S.: Wenn ich mir mal die Wahlprogramme der Parteien im Hinblick auf Natur- und Umweltschutz angucken und analysieren soll, schreibt mir gern einen Kommentar hier unter diesen Post. Ich will euch ja nicht dauernd mit Politik nerven und mache das ja ansonsten (bis auf diese Ausnahme hier) nur, wenn es von euch gewünscht wird.
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„AfD – Feind der Beschäftigten“, DGB, 2024, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.dgb.de/gerechtigkeit/demokratie/afd-der-feind-der-beschaeftigten (Öffnet in neuem Fenster).
„Blackrock wirft noch immer einen Schatten auf Friedrich Merz“, Augsburger Allgemeine, 9. November 2024, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/blackrock-wirft-noch-immer-einen-schatten-auf-friedrich-merz-102990002 (Öffnet in neuem Fenster).
„Das AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen“, DIW Berlin, 2023, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.diw.de/de/diw_01.c.879742.de/publikationen/diw_aktuell/2023_0088/das_afd-paradox__die_hauptleidtragenden_der_afd-politik_waeren_ihre_eigenen_waehler_innen.html (Öffnet in neuem Fenster).
„Geschlechterparität in der Bundesregierung? »Wir tun den Frauen keinen Gefallen«, sagt Merz“, Der Spiegel, 16. Oktober 2024, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/friedrich-merz-ueber-geschlechterparitaet-in-der-bundesregierung-wir-tun-damit-auch-den-frauen-keinen-gefallen-a-84ec18ef-67ad-4085-a928-2dea15b525be (Öffnet in neuem Fenster).
„Altlasten des CDU-Politikers: Was Friedrich Merz früher forderte - und wie er abstimmte“, Der Tagesspiegel, 18.02.2020, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.tagesspiegel.de/politik/was-friedrich-merz-fruher-forderte-und-wie-er-abstimmte-6603298.html (Öffnet in neuem Fenster).
„Die Brandmauer ist gefallen: AfD-Chefin Weidel begrüßt Merz’ Ankündigungen zur Verschärfung der Migration“, Deutschlandfunk, 24. Januar 2025, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.deutschlandfunk.de/die-brandmauer-ist-gefallen-afd-chefin-weidel-begruesst-merz-ankuendigungen-zur-verschaerfung-der-mi-100.html (Öffnet in neuem Fenster).
„Friedrich Merz war für Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe – wegen einer Klausel stimmte er jedoch 1997 gegen den Gesetzentwurf“, Correctiv.org (Öffnet in neuem Fenster), 21. November 2024, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://correctiv.org/faktencheck/2024/11/21/friedrich-merz-war-fuer-strafbarkeit-der-vergewaltigung-in-der-ehe-wegen-einer-klausel-stimmte-er-jedoch-1997-gegen-den-gesetzentwurf/ (Öffnet in neuem Fenster).
„Wahlkampf: Die Merz-Zäsur“, Die Zeit, 24. Januar 2025, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-01/friedrich-merz-cdu-aschaffenburg-wahlkampf-populismus/komplettansicht (Öffnet in neuem Fenster).
„Analyse der Demos gegen Rechtsextreme: Tausendmal Tausende für Vielfalt“, Die Tageszeitung: taz, 1. März 2024, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://taz.de/Analyse-der-Demos-gegen-Rechtsextreme/!5995645/ (Öffnet in neuem Fenster).
„Kommentar: Friedrich Merz ist für die meisten Frauen unwählbar geworden“, Handelsblatt, 19. Oktober 2024, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-friedrich-merz-ist-fuer-die-meisten-frauen-unwaehlbar-geworden/100080035.html (Öffnet in neuem Fenster).
„Debatte über Migration: SPD wirft Merz Spaltung vor“, Tagesschau.de (Öffnet in neuem Fenster), 2025, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.tagesschau.de/inland/bundestagswahl/merz-asyl-spd-scholz-100.html (Öffnet in neuem Fenster).
„Wahlprogramm der AfD - Bundestagswahl 2025“, Bundestagswahl BW, 2025, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.bundestagswahl-bw.de/wahlprogramm-afd (Öffnet in neuem Fenster).
„Wie die AfD Deutschland in den Abgrund führen würde“, Webseite des Bundestagsabgeordneten Ingo Schäfer, 14. Februar 2024, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://xn--ingo-schfer-s8a.de/wie-die-afd-deutschland-in-den-abgrund-fuehren-wuerde/ (Öffnet in neuem Fenster).
„Was verdient Friedrich Merz?“, Stuttgarter Zeitung, 2025, zugegriffen am 27. Januar 2025, https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.was-verdient-friedrich-merz.92abdea6-3e80-42a7-a12b-e1d9d2505f13.html (Öffnet in neuem Fenster).