Teenage Hubert Hitler Schnörres
Hubert Aiwanger wird von der Geschichte eingeholt. Der eigenen, aber auch der deutschen. Wegen des Oberstufenschülers Hubert Aiwanger droht die Karriere des Politikers Hubert Aiwanger zusammenzustürzen wie der Führerbunker. Ersterer soll angeblich ein menschenverachtendes Flugblatt (Öffnet in neuem Fenster) verfasst und verteilt haben (vielleicht auch nicht), leidenschaftlich Hitler imitiert haben (womöglich), eine Kopie von „Mein Kampf“ griffbereit gehabt haben (so sagt man). Abgerundet wurde das rechtsextreme Auftreten mutmaßlich durch Judenwitz und Hitlergruß. Als gesichert gilt, dass ein widerwärtiger Text und diverse unschöne Erinnerungen (Öffnet in neuem Fenster) ehemaliger Mitschüler existieren; und dass der, um den es geht, vom allermeisten nichts wissen will.
Die 1980er Jahre treffen den bayerischen Wirtschaftsminister wie ein biografischer Bumerang.
Während einiges unstrittig ist – ja, der Text des Flugblatts ist widerlich und wurde bei ihm gefunden; ja, Hitler-Verehrung ist keine Kleinigkeit; und ja, der Jugendhubert ist echt verdächtig frisiert (Öffnet in neuem Fenster) – sehen wir uns mit einem Polit-Skandal konfrontiert, der Fragen offenlässt und Raum bietet für Interpretation und Grundsatzfragen. Was gilt noch als Jugendsünde? Wie viel biografische Nachforschung müssen Personen des öffentlichen Lebens ertragen? Wo überwiegt das Recht auf Privatsphäre, wo das öffentliche Interesse? Was ist wann verjährt?
Fragen, die auch deshalb im Raum stehen, weil Hubert Aiwanger alles dafür getan hat, um sie stehen zu lassen. Anstatt die Recherchen der SZ frühzeitig zu adressieren und Verantwortung zu übernehmen für die zahlreichen Vorwürfe ehemaliger Mitschüler, tat der stellvertretende bayerische Ministerpräsident erst nichts, dann stritt er ab, dann präsentierte er seinen Bruder als Autor des rechtsextremen Flugblattes, respektive präsentierte Helmut sich selbst, wortwörtlich Bauernopfer seines Bruders, des studierten Landwirts. Er, also Helmut Aiwanger, habe den Text verfasst, nachdem er wütend über sein Sitzenbleiben (Öffnet in neuem Fenster) gewesen war. Wer kennts nicht: Mathe nervt, schlechte Noten, Ehrenrunde, Wut auf Lehrer und die böse, böse Welt und bevor man zu Sinnen kommt, hat man ein antisemitisches Hassblatt inklusive Einladung zum „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ verfasst, kopiert und im Umfeld verteilt. Komplett übliches Schülerverhalten.
Nachdem Schweigen, Abstreiten und zur allgemeinen Belustigung den Bruder präsentieren (Öffnet in neuem Fenster) auf wundersame Weise nicht ausreichte, um die angebliche jugendliche Hitlerei zu erklären, kam nun, was kommen musste. Eine halbherzige Entschuldigung (Öffnet in neuem Fenster). „Es ist ein negatives Bild von mir in den letzten Tagen gezeichnet worden. Das bin nicht ich, das ist nicht Hubert Aiwanger.“ Und ansatzweise gelang etwas, das, wäre es eher geschehen, vielleicht diesen bayerischen Bumerang früher in der Luft aufgelöst hätte. Anstatt zu schweigen, abzustreiten und spontanschuldige Familienmitglieder zu kredenzen, bat Aiwanger "alle Opfer des NS-Regimes, deren Hinterbliebene und alle Beteiligten an der wertvollen Erinnerungsarbeit" um Entschuldigung – allerdings nicht ohne im nächsten Atemzug zum Gegenangriff überzugehen. Gegen ihn laufe eine Schmutzkampagne, Ziel sei nicht weniger als seine Zerstörung.
Als Zerstörungsfantasie konnte man wiederum einen Literaturtipp deuten, den Helmut Aiwanger, der Bruder, im Schaufenster seines Waffenladens (Öffnet in neuem Fenster) hinterließ. „Buchempfehlung: Heinrich Böll 1974, Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ hieß es da. Hinterm Glas des Waffenladens, der momentan Sammelpunkt vieler Journalisten ist, nun also ein Buchtipp zu einem Roman, in dem die Protagonistin einen Reporter erschießt. Inhaltlich kaum vergleichbar, aber definitiv das zweite verstörende Schriftstück im Aiwanger-Kosmos. Das muss die berüchtigte „Clan-Kriminalität (Öffnet in neuem Fenster)“ sein, so einige User. Weniger kritische Beobachter werden auch diese Entgleisung in bester „Boys will be Boys“-Manier abhaken, selbst wenn die Boys Ü50 sind und der Typ, der hier offenbar mit Gewalt droht, einen Waffenladen besitzt.
Von einem Rücktritt will Hubert Aiwanger, also der Bruder des Bruders, allerdings nichts wissen. Zu groß der Drang, abzustreiten, was abzustreiten ist, und das nicht Abstreitbare als Jugendsünde (Öffnet in neuem Fenster) zu verbuchen. Und tatsächlich scheint der Wille, zu verzeihen, bei einigen groß (Öffnet in neuem Fenster). Selbst ehemalige Bundestagsabgeordnete sehen weniger Bedarf an Aufarbeitung und Rechenschaft und vielmehr eine linksgrünversiffte SZ-Medienkampagne mit „hidden Agenda“ (Öffnet in neuem Fenster). Aluhut, ick hör dir rascheln.
„Rücktritt“ scheint zum Fremdwort zu werden. Durchaus erstaunlich in einem Land, in dem die ehemalige Bundesfamilienministerin Anne Spiegel zurücktrat, weil sie nach der Ahr-Flut in einen längeren Urlaub flog. Aber die ist ja bei den Grünen. Und eine Frau. Ist man nicht bei den Grünen und keine Frau, sondern ein Mann, ein weißer Mann, der sich beim besten Willen nicht an irgendwelche Hitlergrüße erinnern (Öffnet in neuem Fenster) kann, an die andere sich aber sehr wohl erinnern können, dann bleibt man halt im Amt; dann bleibt man im Amt als Menschenfreund (Öffnet in neuem Fenster); und sowieso kann „das ein oder andere so oder so interpretiert“ werden, wie Aiwanger mit philosophischer Finesse die Presse wissen ließ. Na, dann ist ja alles klar (Öffnet in neuem Fenster). Oder nicht?