Die unvereinigten Staaten von Europa
„Das kann doch nicht wahr sein?“
„Wie kann man nur so wählen?!!!!“
„Vielleicht muss man nur die Problemlage besser erklären?“
„Die Klimaziele sind nicht mehr zu erreichen. Europa liegt im Sterben. Es ist aussichtslos.“
„Es ist, wie es ist. Machen wir es das nächste Mal besser.“
Während ein Teil des Landes jubelte, durchlebten Millionen Deutsche in der Woche nach der Europawahl das Fünf-Phasen-Modell (Öffnet in neuem Fenster) nach Kübler-Ross. Nicht-wahrhaben-Wollen, Wut, Verhandeln, Depression und schließlich Akzeptanz. Wie bei den Sterbe- und Trauerprozessen, für die dieses psychische Etappenmodell ursprünglich beschrieben ist, zeigt sich auch im gesellschaftlichen Verstoffwechseln der Europawahlergebnisse ein chaotisches Hin und Her. Mal springt man als politisch Interessierter, der sich ein anderes Wahlverhalten erhofft hatte von seinen Mitmenschen, von der Akzeptanz zurück zur Wut; mal wird Akzeptiertes wieder verhandelt, zur Seite Gelegtes neu hinterfragt. Und dann folgt wieder eine allumfassende Niedergeschlagenheit, realpolitische Resignation, ein genug von allem. Basta, danke, Schnauze voll, finito. Dann wieder der Furor: Macht euren Scheiß doch zukünftig allein!
Die Ankunftszeit verzögert sich
Im New Yorker Magazin ging dieser Tage ein Cartoon viral (Öffnet in neuem Fenster). Zu sehen: Ein Flugzeug fliegt aus den USA in Richtung Europa, Durchsage: „Unser Kapitän möchte Sie informieren, dass unsere Ankunft in Europa sich wegen des Rechtsrutsches leider verzögert“. Zu sehen ist unser Kontinent in kollektiver Rechtsbewegung, Grenzen verschieben sich, die Landkarte ordnet sich neu. In den Kommentaren findet sich die spitzfindige Beobachtung: „Durch Amerikas gleichzeitigen Rechtsruck entsteht keinerlei zusätzliche Reisezeit.“ Hm, ja, stimmt. Wie immer alles eine Frage der Verhältnisse.
Die US-Wahl ist erst in ein paar Monaten, doch bei der Europawahl hat der Kontinent – bis auf den Norden (Öffnet in neuem Fenster), wo in Schweden, Dänemark und Finnland entgegen des rechtspopulistischen Trends vermehrt links gewählt wurde – Parteien gewählt, die man getrost als „nationalistisch“ und „klimaskeptisch“ beschreiben kann. Dabei ist das noch die freundliche, wenn nicht sogar verharmlosende Beschreibung. Denn „nationalistisch“ ist der Zwillingsbruder von „rechtsextrem“. Und „Klimaskepsis“ – was soll das schon sein? Man kann sich ja auch nicht sinnigerweise „schwerkraftskeptisch“ oder „zeitskeptisch“ nennen – jedenfalls nicht, ohne sich zum kompletten Volldeppen zu machen. Etiketten hin oder her: Bei der Europawahl haben in Deutschland Parteien gewonnen, die entweder für ein klimaschädliches „Weiter so!“ stehen (CDU) oder, noch schlimmer, den menschlichen Einfluss auf die Klimakrise gleich gänzlich leugnen (AfD). Faktenleugnung, ick hör dir trapsen.
Gegen Rechts reicht nicht
Darüber hinaus hat diese Wahl gezeigt: Gegen rechts zu sein reicht nicht. Jedenfalls nicht allein. Wer primär „gegen etwas“ ist, definiert sich über Bande und vernachlässigt eigene Inhalte. Man verstehe mich nicht falsch: Nicht-Extremismus sollte demokratische Grundeinstellung sein. Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus kollektiv politisch abzulehnen sollte ethischer wie politischer Konsens sein. Daran zu erinnern gebietet der Anstand und die Vorstellung der Gleichwertigkeit aller Menschen. Die Unterlassung rechtsextremer Politik, die vor allem eine Ungleichwertigkeitspolitik ist, wird so zur ethisch-politischen Tugend. So jedenfalls die Theorie.
Die Praxis belehrt uns nämlich eines anderen. Es ist ein klarer Erfolg der Rechts von Donald „Diktator für einen Tag“ (Öffnet in neuem Fenster) Trump bis zur Alternative „nicht alle SS-Leute waren Verbrecher“ (Öffnet in neuem Fenster) für Deutschland, dass man dies überhaupt betonen muss. Nicht ohne Grund verbucht der Soziologe Wilhelm Heitmeyer solche Strömungen unter dem Label „autoritärer Nationalradikalismus“ (Öffnet in neuem Fenster). Die Neo-Nationalisten haben es geschafft, ihre politischen Vorstellungen so weit zu normalisieren, dass sich demokratische Parteien verschiedener Ausrichtung genötigt sehen, auf Wahlplakaten und in den Medien ihre Wähler anzuflehen, der Rechtswahl bitte zu widerstehen. Dabei gehört, so dachte man, die Ablehnung nationalistischer Ideen im Mutterkontinent mehrerer Weltkriege zu den politischen Selbstverständlichkeiten, zur demokratischen DNA, zu den ganz grundlegenden Wahrheiten. Wasser ist nass, nachts ist es dunkel, Faschismus nein danke. Falsch gedacht. Mit der Wahl von Meloni in Italien und Menschen wie Björn Höcke und seiner Truppe werden solche elementaren Wahrheiten fundamental hinterfragt – und somit ihr Status als Wahrheiten.
Wenn wir Freunde wären
Wahr ist allerdings auch, dass die etablierten Parteien viele Menschen nicht überzeugen konnten hinsichtlich ihrer Problemlösungskompetenz. Sie nicht abgeholt haben, wo sie stehen. Einerseits kaum verwunderlich mit einer Ampel-Regierung, die in etwa so viel Harmonie versprüht wie die Girlgroup Tic Tac Toe auf ihrer letzten Pressekonferenz ("Wenn wir Freunde wären, dann würdest du so’n Scheiß überhaupt nicht machen!!!"). Einer Regierung, die so offensichtlich Vernunftehe und Zweckgemeinschaft ist, dass ihr Fortbestehen selbst für ihre Beteiligten keine Selbstverständlichkeit sein dürfte. Selten waren Neuwahlen greifbarer, möglicher.
Andererseits wären die großen Probleme und Krisen – Klima, Krieg und Inflation, um nur ein paar Großbaustellen zu nennen – wohl auch kaum durch eine harmonisch-einige Bundesregierung zu lösen (falls es sie je gab, gibt, geben wird). Und die Show der Opposition, die sich als große, allzeit bereite, von der politischen Realität ignorierte Problemlöserin inszeniert, ist vor allem eins: Show. Eine Opposition, die nicht laut und deutlich „Das könnten wir ALLES besser!!!“ schreit, hat ihre Rolle missverstanden.
Der Politikwissenschaftler und Populismusforscher Marcel Lewandowsky (Öffnet in neuem Fenster) schreibt (2024, Was Populisten wollen, S. 17):
„Populistische Parteien sprechen diejenigen an, die sich für die wahren Demokraten halten (aber oft keine sind), die glauben, nicht in einer Demokratie zu leben (obwohl sie es tun), und die »echte« Demokratie wollen (die in Wahrheit keine wäre).“
Mir gefällt diese Populismusdefinition deshalb, weil sie den Populismus beschreibt als Weltmodell mehrerer Missverständnisse. Als Kollision zwischen gefühlter und faktischer, empirischer Wirklichkeit.
Und abermals schließt sich der Kreis hin zu den Narrativen, hin zu den Gefühlen. Hin zu Wut, Niedergeschlagenheit, Verhandeln. Denn auch das stimmt: Die parteiübergreifende Unsicherheit nach der Europawahl ist auch eine Unsicherheit ins Wanken geratener Erzählungen. Eine Unsicherheit, die uns buchstäblich um Luft ringen lässt, denn „Geschichten sind so etwas wie die Atemzüge des Geistes. Wir können nicht ohne sie“, wie Samira El Ouassil und Friedemann Karig treffend schreiben in ihrem Buch Erzählende Affen (Öffnet in neuem Fenster) – Mythen, Lügen und Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen (2023, S. 27).
Wer sich nach der Wahl also zurückgeworfen sieht auf seine Gefühle, sich allein fühlt mit wankenden Narrativen, der ist keineswegs wirklich allein. Wichtig wäre jetzt, eine gemeinsam gefühlte Bedrohungslage zu nutzen – zum Aufbau gesellschaftlicher Abwehrmechanismen. Denn es bringt nichts, in der Niedergeschlagenheit zu verharren. Noch kein Problem wurde durch stumpfe Wut und Enttäuschung gelöst. Es gilt, die Wut in Richtung einer Problemlösung zu kanalisieren, die Unzufriedenheit mit dem Status quo zu nutzen als Triebfeder und Motivation. Bob Blume bringt es auf den Punkt (Öffnet in neuem Fenster):
„Es gibt nichts schönzureden an diesen Ergebnissen. Für mich persönlich bedeutet das tatsächlich eine Schippe draufzulegen. Aus meiner Sicht müssen wir alle den Arsch hochkriegen. Natürlich auch im Netz, aber vor allem auch auf der Straße.“
Aufstehen, Krone richten, weiter geht’s.
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