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Alles beim Alten (Essay)

Nach dem Attentat auf Donald Trump ist die Altersfrage kurz in den Hintergrund gerückt. Allerdings ändert ein überlebtes Attentat nichts an der Tatsache: Beide Kandidaten sind am Lebensende. Warum die Herrschaft der Senioren ein Problem ist, nicht bloß für die Jungen – sondern für die Demokratie.

Essay von Jan Skudlarek (Öffnet in neuem Fenster)

UPDATE: Biden verzichtet. Mein Essay zeigt Wirkung. ;)

Der Grönlandhai erreicht das Erwachsenenalter nach etwa einhundertfünzig Jahren. Das macht ihn zu einem vergleichsweisen Spätzünder. Harriet (Öffnet in neuem Fenster), die Galapagos-Riesenschildkröte von Charles Darwin, wurde circa einhundertfünfundsiebzig Jahre alt und erlebte sowohl die Anfänge der Industriellen Revolution wie auch die Gründung von Facebook. Wir Menschen werden zwar immer älter, aber nicht ganz so hochbetagt. In Deutschland liegt die momentane Lebenserwartung für Männer bei 78,3 Jahren und die für Frauen bei 83,2. Über den Zeitpunkt des Ablebens entscheiden so unterschiedliche Faktoren wie Gene (Öffnet in neuem Fenster), Konsum und Lebenswandel; aber auch Sozialverhalten und Zugang zu medizinischer Versorgung spielen eine Rolle. Frauen werden nach wie vor älter als Männer, aber neuere Studien (Öffnet in neuem Fenster) deuten darauf hin, dass sich der Abstand in der Lebenserwartung immerhin etwas verringert. 

Im Griff der Golf-Opas

In den USA liegt die Lebenserwartung knapp unter der deutschen (Männer 77,4; Frauen 82,4). Anders gesagt: Beide diesjährigen Präsidentschaftskandidaten liegen über dem durchschnittlichen Lebensende ihres Landes. Statistisch gesehen sind sie tot, über dem üblichen Haltbarkeitsdatum. Und trotzdem wollen sie beide erneut zum Präsidenten gewählt werden – und trotzdem wollen sie beide vier weitere Jahre regieren. Während Donald Trump erst kürzlich 78 wurde (und seit der überlebten Gewehrkugel wohl ab jetzt jeden 13. Juli einen zusätzlichen Geburtstag feiert), wird Joe Biden bald 82, zwei Wochen nach der US-Wahl im November. Seit Wochen und Monaten tobt die Diskussion um die Gebrechlichkeit von Biden, aber tatsächlich – man verzeihe das Wortspiel – geht es um die Gebrechlichkeit von beiden.

Um die Frage von Sabine Rennefanz (Öffnet in neuem Fenster) aufzugreifen:

„Wie kommt es, dass ein großes, starkes, vielfältiges Land wie die USA offensichtlich nur zwei Golf-Opas als Kandidaten für das wichtigste politische Amt hervorbringt?“

Ich möchte diese Gedanken ausweiten und ergänzen: Wie kommts, dass die alten Knacker so viel zu sagen haben in unserer Gesellschaft? Warum nehmen wir es überhaupt hin, dass jene unsere Zukunft bestimmen, die sie gar nicht mehr miterleben werden? Jene, die mit einem Bein in der Vergangenheit stehen und dem anderen Bein im Grab? Und was, bitte schön, sollen die Jungen davon halten? Ist der Generationenvertrag überhaupt das Papier wert, auf dem er geschrieben steht? Wobei der Generationenvertrag ja mehr unverbindliche, lose Abmachung ist als eigentlicher Vertrag – was man nicht nur daran sieht, dass er gar kein Papier hat, sondern ebenso daran, dass er permanent gebrochen wird; mittlerweile in einem solchen Ausmaß, dass selbst das Bundesverfassungsgericht regelmäßig daran erinnert, dass es noch eine Zukunft gibt, für die es vorzusorgen gilt, z.B. in puncto Klimaschutz (Öffnet in neuem Fenster). Doch wir dümpeln stattdessen dahin in ewig-senioriger Gegenwart und machen es uns gemütlich im „Weiter so!“.

Vielerorts wird unsere Welt von den Grauhaarigen mehr verwaltet als gestaltet. Das gilt für die USA wie für Deutschland. Groß ist die Liebe für den Status quo naturgemäß unter jenen, die ihn herbeigeführt haben und von den herbeigeführten Machtverhältnissen profitieren.

Da manche Leser und Leserinnen jetzt empört den Kopf schütteln, direkt die Anschlussfrage: Warum empört und provoziert uns das Hinterfragen der Gerontokratie (Öffnet in neuem Fenster), der Herrschaft der Alten? Ist es der Wunsch, selbst einmal zu altern? Selbst einmal zu herrschen? Zustände herbeizuführen, von denen wir selbst profitieren? Sind wir deshalb so nachsichtig? Oder sind wir einfach eine bequeme, eine kraftlos-konservative Spezies, die wortwörtlich gern alles beim Alten belässt?   

Früher war mehr Lametta

Bei einem Text übers Älterwerden darf die Nabelschau nicht ausbleiben. Auch ich werde alt; und das ist auch grundsätzlich gut so. Allerdings birgt dieses Altern, wie bei uns allen, skurrile Augenblicke nicht nur der Gegenwart, sondern der Rückschau. Noch gut erinnere ich mich an den Moment, in dem ich erfuhr, dass mein damaliger Lieblingsrapper Eminem dreißig war – dreißig! Das war aus meiner damaligen Perspektive steinalt. Ich ging in die Oberstufe und war sechzehn. Marshall Mathers, wie der Mann laut Geburtsurkunde heißt, war somit fast doppelt so alt. Fassungslos versuchte ich zu begreifen, warum man mit dreißig immer noch rappt und, und nicht, keine Ahnung, häkelt oder seine Modelleisenbahn pflegt oder Lindenstraße guckt.  

Dieser Schockmoment ist nun schon über zwanzig Jahre her. Und die Tatsache, dass ich selbst nicht mehr der Allerjüngste bin, lässt sich allein an Sätzen ablesen wie „Vor zwanzig Jahren habe ich gerne Rapper XY gehört“ – Sätze also, die ein richtig junger Mensch gar nicht sagen kann. Richtig junge Menschen waren vor zwanzig Jahren Kleinkind oder Baby oder prä-existent, was jeweils für sich genommen einen ausgeprägten Musikgeschmack erschwert.

Zurück zum großen Ganzen. Das große Ganze sagt: Der deutsche Vorstandsvorsitzende ist durchschnittlich 56 Jahre alt. Das große Ganze sagt: Der deutsche Bundestagsabgeordnete liegt im Schnitt bei 47,3. Beim Wahlvolk sieht es nicht besser aus, im Gegenteil. Bei der letzten Bundestagswahl waren die meisten Wähler und Wählerinnen älter als 50 Jahre (Öffnet in neuem Fenster). Geht man nach Jahrzehnten, ist Ü70 besonders dominant (Öffnet in neuem Fenster). Betrachtet man Ostdeutschland isoliert: Neun von zehn (!) der ältesten EU-Regionen (!!) liegen im deutschen Osten (Öffnet in neuem Fenster). Wäre der Osten ein Mensch, er sähe aus wie Joe Biden.

Das große Ganze sagt also: Bist du heute jung in Deutschland, bist du klar in der Minderheit. Gelte selbst ich, mit meinen vergleichsweise juvenilen 38 Lenzen, im Altersheim Deutschland etwa noch als jung? Und falls ja: Was läuft hier falsch?

Nein, Quatsch, jung bin ich nicht mehr; richtig jung zumindest nicht, da hilft auch keine Demografie und keine Autosuggestion. Ein bisschen Ehrlichkeit mit sich und anderen reicht. Ein schöner Moment, als ich gemerkt habe, dass ich nicht mehr zur jungen Generation gehöre, war in einem meiner Ethik-Seminare. Um zu veranschaulichen, worum es bei Ethik geht, zeigte ich einen kurzen Ausschnitt aus Terminator 2 (1991). In dieser Szene (Öffnet in neuem Fenster) versucht der vierzehnjährige John Connor seiner alterslosen, aber damals vom vierundvierzigjährigen Arnold Schwarzenegger gespielten Tötungsmaschine zu erklären, warum das Töten keine kleine Sache ist, sondern ein moralisches Problem:

John Connor:
You just can't go around killing people.

The Terminator:
Why?

John Connor:
What do you mean why? 'Cause you can't.

The Terminator:
Why?

John Connor:
Because you just can't, OK? Trust me on this.

https://www.youtube.com/watch?v=Hab1MOE6iqk (Öffnet in neuem Fenster)

Das Tötungsverbot und seine Begründung. Ein durch und durch ethischer Dialog also. Perfekt fürs Ethikseminar! Nach dem Vorführen dieses Filmausschnittes hoffte ich auf exakt jene Transferleistung: Tötungsverbot! Die Begründung von Normen! Handlungsbewertung zwischen „gut“ und „böse“! Für mich lagen die Antworten auf der Hand. Zwischen Thanatos und Terminator liegt doch fast das ganze Alphabet.

Stattdessen blickte ich in ratlose Gesichter. Meine Seminarteilnehmerinnen – überwiegend junge Frauen, in den Neunzigern geboren, schwarzeneggerfrei sozialisiert – hatten Terminator natürlich nie gesehen. Und dann stand ich da, in der einen Minute noch der vermeintlich coole Dozent, der sich mühelos der Popkultur bedient, in der anderen Minute schon der alte Sack, der kryptische Filmausschnitte zeigt aus Filmen, die älter sind als man selbst. Am Ende dieser Seminarsitzung hatte ich ein paar graue Haare mehr.

Den eigenen Tod, den stirbt man nur

Langsam wird klar, dass wir es beim alternden Menschen mit mehreren in Konflikt stehenden Dimensionen zu tun haben. Zunächst ist da, ganz offensichtlich, die biologische. Wie auch beim Gröndlandhai und der Riesenschildkröte gibt es bei Menschen – und so ziemlich jeder Spezies – zunächst einen biologischen Aufbauprozess, der Kindheit und Adoleszenz umfasst und sich bis ins Erwachsenenalter zieht. Danach beginnt ein langsamer, ein gradueller, ein zunächst unmerklicher Abbauprozess, der sich im gesunden Körper über Jahre, beim Menschen meist vier, fünf Jahrzehnte zieht (laut Biomedizin (Öffnet in neuem Fenster) geht’s in den Zwanzigern, spätestens in den Dreißigern bergab). An seinem Ende steht ein sukzessives Nachlassen kognitiver und biologischer Vitalfunktionen, bis der Körper, nach und nach, irgendwann ganz den Dienst quittiert.

Und dann ist da die soziale Dimension. Während die Biologie schon nicht ganz einfach ist – Wo genau beginnt der Mensch? Zellteilung? Embryo? Fötus? Wo endet er, wann exakt beginnt sein Tod? Beim Hirntod? Beim Herztod? Beides? –, sind die sozialen Aspekte des Lebens und des Sterbens noch kniffliger. Vor allem: Sie sind Verhandlungssache.

Nehmen wir die Lebensphasen zum Beispiel: Kindheit, Jugend, Alter. Wir vergessen es gerne, aber: Kulturhistorisch gesehen sind die heutigen Lebensphasen ein modernes, ein geradzu revolutionäres Konstrukt. Die Vorstellung eines arbeitsfreien Lebensabends wäre den Menschen früherer Jahrhunderte als regelrecht utopischer Wunschzustand vorgekommen. Das Rentenalter mit einer gesetzlichen Rente, einer gesetzlichen Grundsicherung, die für viele zwar nicht üppig ist (Spötter würden sagen: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel) – diese Lebensphase existiert erst seit dem 19. Jahrhundert, u.a. seit der Sozialgesetzgebung Otto von Bismarcks (Öffnet in neuem Fenster).

Anders gesagt: Es gibt heute lebende Schildkröten und Grönlandhaie, die älter sind als unsere aktuellen Vorstellungen vom Alter. Dasselbe gilt für die Lebensphase Kindheit. Die Kindheit als Phase des umsorgten, behüteten Heranwachsens, geschützt von den Widrigkeiten und Brutalitäten des Erwachsenenlebens – auch dies ein modernes Konstrukt. Die Realität war über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, eine andere. In den präindustriellen Agrargesellschaften des europäischen Mittelalters hat man so früh gearbeitet, wie man konnte, d.h. bereits als Kleinkind; und auch so lang, wie man konnte, d.h. bis ins Greisenalter. Falls man es, als statistische Anomalie, überhaupt ins Hochalter geschafft hat.

Kindheit als Schutzraum, das Alter langsamer Abschied – das sind keine historischen Selbstverständlichkeiten, sondern zivilisatorische Kulturleistungen. Vom möglichst schmerzlosen, medizinisch und palliativ adäquat umsorgten Übergang in den Tod ganz zu schweigen. Und selbst jetzt, selbst heute: Nach wie vor erfüllt uns der Tod mit Ehrfurcht und metaphysischer Spekulation, Jahrtausenden des Sterbens zum Trotz. Nach wie vor hinterlässt er die Hinterbliebenen, die Überlebenden ratlos. Die Dichterin Mascha Kaléko schrieb (Öffnet in neuem Fenster): „Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben.“

Es geht um Gerechtigkeit

Aus dem Fokus gerät mitunter, worum es eigentlich geht bei solchen Fragen des intergenerationellen Miteinanders. Es geht um Gerechtigkeit. Es geht um den Sinn von Politik und Ethik überhaupt: Es geht um das gute Leben. Es geht um ein gutes Leben, das viele gerade dort in Gefahr sehen, wo die Alten an der Macht kleben und den Jungen somit die Zukunft versperren. Fridays for Future, die größte Jugendbewegung unserer Zeit, sorgte vor ein paar Jahren für einen Shitstorm, als sie twitterten (Öffnet in neuem Fenster):

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