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“Wie die Sprache uns prägt” (Gastbeitrag Natalya Nepomnyashcha)

Soziale Mobilität, d.h. die Bewegung zwischen soziökonomischen Schichten, ist nach wie vor ein wichtiges Thema - in Deutschland vor allem deshalb, weil diese Mobilität leider oft ausbleibt. Natalya Nepomnyashcha hat mit “Wir von unten. Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet” (Öffnet in neuem Fenster) ein spannendes Buch geschrieben; ein Buch übers Aufsteigen, ein Buch über Umwege. Daher möchte ich euch heute einen kurzen Auszug aus ihrem Werk präsentieren als Gastbeitrag. Unter allen, die diesen Beitrag in den sozialen Medien teilen, verlosen Ullstein und ich drei Exemplare von “Wir von unten”.

Wie die Sprache uns prägt

Die Sprache prägt unser Weltbild genauso, wie unser Weltbild die Sprache prägt. Menschen aus ärmeren Verhältnissen werden auf eine Art beschrieben, die sie abwertet. Sie werden aber auf diese Art beschrieben, weil sie von der Gesellschaft und damit meine ich die dominanten oberen Schichten der Gesellschaft mit Deutungshoheit – abgewertet werden. So kann man Ungleichheit rechtfertigen, indem man ärmeren Menschen die Schuld an ihrem Untensein gibt und reicheren Menschen ihr Obensein als ihr Verdienst anrechnet.

Diese Erzählung unterstellt allerdings, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben. Blöderweise besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Kinder in Deutschland mit äußerst ungleichen Chancen starten. Die Chancengleichheit des Bildungssystems ist in Deutschland sogar schlechter als im OECD-Durchschnitt. Die Chancen, dass ein Deutscher, der in die unteren Schichten geboren wurde, in eine höhere Einkommensklasse steigt, liegen niedriger als in den USA.

Die Klassenverhältnisse oben (»besser«) und unten (»schlechter«) spiegeln sich in der Sprache wider. In Deutschland ist Klasse als Begriff schon länger »out«. Dabei war es eine der wenigen Kategorisierungen, die ohne eine explizite Hierarchie ausgekommen ist, auch wenn die Hierarchie implizit war.

Der Elitenforscher Michael Hartmann erklärt das Klassensystem folgendermaßen. Es gibt:

  • das Großbürgertum (Eigentümer von Unternehmen mit mindestens 100 Beschäfigten, hohes Management, hohe Staatsbeschäfigte etwa in Ministerien, an Hochschulen oder in der Bundeswehr sowie sehr wohlhabende akademische Freiberufler),

  • das gehobene Bürgertum (Selbstständige mit hohem Umsatz im Rechts-, Finanz- oder Medizinsystem, leitende Führungskräfte in Ämtern oder Unternehmen),

  • die Mittelschicht (Selbstständige mit kleinerem Umsatz in der Landwirtschaft, im Gesundheitswesen, in Medien oder Kultur sowie untere, mittlere und gehobene Angestellte, Staatsbedienstete im niederen bis gehobenen Dienst etwa bei der Polizei, Bahn, Zoll, Lehrkräfte)

  • und die Arbeiterschaft (alle übrigen).

So gesehen verstehe ich durchaus, warum wir den Begriff »Klasse« nicht mehr verwenden. Denn er klingt wie aus dem 19. Jahrhundert.

Im Jahr 2024 gibt ChatGPT die Antwort, warum wir in Deutschland nicht mehr von Klasse sprechen. Der KI-generierte Text ist einleuchtend und lustig zugleich: Klasse anhand der sozialen Herkunft sei nicht mehr so relevant (!); das Gleichheitsprinzip sei in Deutschland wichtig, und von Klasse zu sprechen, suggeriere etwas anderes (!); politische Korrektheit (sic!) und nicht zuletzt die Globalisierung hätten alles komplexer gemacht.

Nach dieser Auflistung folgt noch ein Absatz, fast wie ein Nachtrag, den mir ChatGPT hinter vorgehaltener Hand zuflüstert: »Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass soziale Ungleichheit und soziale Klassen nach wie vor existieren, auch wenn sie nicht mehr so stark betont werden. Die Diskussion über soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit ist in Deutschland weiterhin präsent, auch wenn sie möglicherweise unter anderen Begriffen geführt wird.«

Aha. Selbst ChatGPT durchschaut den Mist. Klassen existieren noch, vielleicht nicht mehr wie früher, denn sie sind mehr als nur die Produktionsverhältnisse von Marx, aber dennoch sind sie da. Nur sprechen wir nicht mehr darüber. Heutzutage wird in der Wissenschaft häufig eine Matrix aus drei Faktoren verwendet, um ein etwas differenzierteres Bild von der sozialen Herkunft abzubilden. Diese drei Faktoren sind: der Bildungsgrad der Eltern, das Einkommen der Eltern und die Tätigkeit der Eltern. Diese korrelieren so stark miteinander, dass man für praktische Zwecke auch nur zwei oder nur einen Faktor nehmen kann, wenn die anderen schwer zu erfassen sind. Häufig wird dafür der Bildungsgrad herangezogen, weil dieser Effekt am eindeutigsten ist. Deshalb haben wir in Deutschland häufig mit der Kategorisierung Akademikerkinder und Arbeiterkinder bzw. Nichtakademikerkinder zu tun. Grundsätzlich steigt der Lohn mit jedem höheren Bildungsgrad. Denn ein Studium beeinflusst das Einkommen und die Jobauswahl in Deutschland am stärksten. Das Gehalt einer deutschen Arbeitnehmerin, die einen Universitätsabschluss hat, liegt heutzutage knapp 65 Prozent über dem Einkommen einer Arbeitnehmerin mit Abitur.

Angesichts der Tatsache, dass meine Eltern keiner der klassischen Klassenkategorien angehören und ich also auch nicht der Kategorie »Arbeiterkind« zugeordnet werden kann, stoßen wir zwangsläufig auf das Wort »arbeitslos«.

Ist es nicht lustig, dass streng genommen sowohl Menschen ganz »oben« in der Pyramide als auch die Menschen ganz unten »arbeitslos« sind? Sie üben meistens keine Lohnarbeit aus. Menschen, die viel Geld geerbt oder ein Unternehmen erfolgreich verkauft haben, leben oft als Privatiers. Sie arbeiten nicht. 809.000 Menschen in Deutschland bestreiten im Jahr 2021 laut Statistischem Bundesamt ihren Lebensunterhalt überwiegend durch eigenes Vermögen – das entspricht etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung. 2010 waren es noch halb so viele. Allein seit 2020 wuchs die Zahl rasant um knapp 100.000. Viele dieser Menschen würden vermutlich sagen, sie »arbeiten« trotzdem. Sie managen ihr Vermögen (mithilfe von Family Offices, Vermögens- oder Steuerberatungen), investieren in Immobilien und Aktien, spenden vielleicht sogar einen Teil davon. Diese Art der Arbeitslosigkeit gilt als etwas Besonderes. Erstrebenswert sogar.

Meine Eltern und andere arbeitslose Menschen sind übrigens ebenfalls sehr mit dem Management ihres Vermögens beschäftigt, nämlich dem Management des Mangels. Das kann sich wie ein Vollzeitjob anfühlen. So zu wirtschaften, dass man für seine Familie mit zu wenig Geld zurechtkommt, ist alles andere als entspannend. Dazu kommt die ständige Bearbeitung von Formularen und Anträgen, die vielen Termine und das Aushalten der Angst, etwas zu übersehen oder falsch auszufüllen. Viele sind außerdem noch mit der Pflege von Angehörigen oder sich selbst beschäftigt, wenn sie mit einer Krankheit oder Behinderung leben. Oder sie engagieren sich in der lokalen Community, um gegenseitig den Mangel zumindest ein wenig auszugleichen. Sehr viele der Menschen in Bürgergeld gehen durchaus einer Lohnarbeit nach, nur verdienen sie zu wenig, um davon leben zu können. Sie müssen »aufstocken«. Außerdem ist ein beträchtlicher Teil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten gar nicht arbeitslos, da sie nämlich nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen – zum Beispiel, weil sie Kinder erziehen, Angehörige pflegen, noch zur Schule gehen oder krank sind. Sie leben in alles andere als »einfachen Verhältnissen« und sind keinesfalls »einfache Menschen«.

Aus: Natalya Nepomnyashcha

Wir von unten

Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet

© 2024, Ullstein, S. 28-32.

(Öffnet in neuem Fenster)

 

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