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Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht,

aber an diesem Morgen habe ich zum ersten Mal seit Tagen das Gefühl, wieder klar denken zu können. Die letzten Tage habe ich damit verbracht, irgendwie die Hitze fernzuhalten und meinem Alltag nachzugehen, wenn auch ganz anders als sonst. Ich habe gemerkt, dass ich mir selbst weniger abverlange, dass ich besser auf mich achte. Darauf, wie ich mich fühle, wie viele Pausen ich mache, wie viel ich trinke, wie viel ich an einem Tag schaffen kann und wann es auch einfach mal genug ist.

Diese Fähigkeit zur Selbstsorge tragen wir alle in uns, das wird an solchen Tagen deutlich. Ebenso wie die Fähigkeit, auf andere achtzugeben und zu erkennen, ob ihnen etwas fehlt. Möglicherweise lehrt uns diese zermürbende Hitze etwas. Dass wir nicht einfach immer so weitermachen können. Dass es Situationen gibt, in denen wir unsere Routinen, unsere Rhythmen, unsere Zeiten anpassen müssen.

Andere Kulturen sind besser darin geübt, diese Tatsache hinzunehmen und danach zu leben. Das beschrieb schon vor vielen Jahren der Sozialpsychologe Robert Levine in seinem Klassiker der Zeitforschung Die Landkarte der Zeit. Levine beschreibt darin auf Grundlage eigener Forschungen in allen Teilen der Welt, welche Faktoren unser Zeitverständnis beeinflussen. Er fand heraus, dass das Lebenstempo in kühleren Regionen höher ist. Deutschland zählt seinen Erkenntnissen nach zu den Ländern mit dem höchsten Lebenstempo. Wir sind es einfach gewohnt, in Eile zu sein.

Die Arbeitsethik, die wir in Deutschland verinnerlicht haben, bringt uns dazu, pflichtbewusst unsere Aufgaben zu erledigen, bis sie eben erledigt sind. Etwas beiseitezulegen, zu pausieren, es gut sein zu lassen, ist in unserem Arbeitsverständnis nicht vorgesehen. Diese tief eingeprägte Einstellung wird noch verstärkt durch die uns auferlegte Verdichtung und Beschleunigung von Arbeit. Zeitdruck ist in der gesamten Arbeitswelt verbreitet. In dem Ende 2019 veröffentlichten DGB-Index Gute Arbeit (Öffnet in neuem Fenster) gaben 53% der befragten Arbeitnehmer*innen an, dass sie sich bei der Arbeit oft oder sehr häufig gehetzt fühlten. Fast genauso viele Befragte (49%) behaupteten, dass sie Pausen regelmäßig verkürzten oder ganz ausfallen ließen. Und jede*r Vierte gab an, dass die geforderte Arbeitsmenge nicht in der dafür vorgesehenen Zeit zu bewältigen sei. Der DGB spricht in der Untersuchung von einer systematischen Überlastung der Beschäftigten.

An Tagen, an denen uns schon das bloße Existieren an körperliche Grenzen bringt, müssen wir umsteuern. Deutschland ist darauf ganz offensichtlich nicht vorbereitet. Hitzefrei für Arbeitnehmende gibt es nur in sehr seltenen Fällen. Für Schwangere oder Menschen mit einer Herz-Kreislauf-Erkrankung kann die Arbeit als unzumutbar gelten, sie können hitzefrei bekommen. In allen anderen Fällen muss der Arbeitgeber dafür sorgen, dass die Temperatur am Arbeitsplatz erträglich ist. Erst ab einer Temperatur von 35 Grad am Arbeitsplatz dürfen Beschäftigte der Arbeit fernbleiben. Wer draußen arbeitet, hat Pech gehabt. Zwar gibt es eine Fürsorgepflicht und Schutzmaßnahmen, die Unternehmen einhalten müssen. Aber keine festgelegte Grenze, bei welcher Temperatur nicht mehr gearbeitet werden darf. 

Wenn es einen gesellschaftlichen Bereich gibt, der sich beharrlich der Beschleunigung entzieht, dann ist das die Politik. Die Politik hat Zeit. Regeln und Schutzkonzepte, verpflichtende Hitzeschutzpläne, Aufklärungskampagnen? Gibt's noch nicht. Dabei kommen Hitzeperioden natürlich nicht gerade überraschend. Auch die Diskussion über die Schlüsse, die wir daraus ziehen müssen, ist nicht neu. Bereits vor drei Jahren, während einer Hitzewelle, forderte der DGB längere Pausen und die Einrichtung von Ruheräumen: "Die Belastungen steigen, viele Arbeitnehmer verkürzen  inzwischen ihre Erholungspausen oder lassen sie ganz ausfallen. Aber Arbeiten ohne Pause geht an die Substanz und führt zu Überlastung, erst recht bei großer Hitze", sagte damals DGB-Vorstand Annelie Buntenbach in einem Interview (Öffnet in neuem Fenster). Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, rief zum Umdenken auf: (Öffnet in neuem Fenster) "Wichtig ist, bei großer Hitze die Schlagzahl etwas  herunterzufahren und – wenn irgendwie möglich – die eine oder andere  Pause extra einzulegen." Zeit Online berichtete vor wenigen Tagen (Öffnet in neuem Fenster), dass die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von "Schäden durch  Hitze und Sonnenlicht" in den vergangenen zehn Jahren deutlich zugenommen und sich mindestens verdoppelt haben.

Wenn es einmal eine Hitzewelle gibt, die wieder verschwindet, ist es einfach, sie wieder zu vergessen ohne Konsequenzen daraus zu ziehen. Nach den Erfahrungen der letzten Tage, nach den Berichten über die zerstörerischen Wald- und Feldbrände, haben nach meiner Wahrnehmung endlich alle ein Bewusstsein dafür gewonnen, dass das hier keine Ausnahme darstellt. Es ist kein Jahrhundertsommer mehr, vielleicht ein Rekordsommer, doch der Rekord dürfte nicht lange halten. 

Wir sind gezwungen, klimapolitisch gegenzusteuern, genau wie wir gezwungen sind, uns an die unvermeidlichen und längst bestehenden Klimafolgen anzupassen. Dazu gehört auch, sich selbst in die Lage zu versetzen, in einen neuen Arbeits- und Lebensmodus zu wechseln. Die fast unerträgliche Hitze wird von nun an zum Alltag gehören. Aktuell gibt es laut dem aktuellen Klimawandel-Rechner der Süddeutschen Zeitung (Öffnet in neuem Fenster) in meinem Landkreis, dem Kreis Steinfurt im Münsterland, im Schnitt 8,4 heiße Tage im Jahr mit Temperaturen über 30 Grad. Sollten die klimapolitischen Maßnahmen auf einem eher schlechten Niveau bleiben, gibt es im Jahr 2100 knapp 21 heiße Tage. Nicht unwahrscheinlich, dass meine Kinder das erleben. 

Ich bin sehr froh, dass ich gerade ein wenig durchatmen kann. Zum Wochenende sind schon wieder Temperaturen über 30 Grad gemeldet. Dann werden die meisten Orte wieder zu eher arbeitsfeindlichen Umgebungen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Tatsache zu akzeptieren und als Gesellschaft die richtigen Bedingungen zu schaffen, um das jetzt und in Zukunft besser zu meistern. Dazu gehören zum Beispiel flexible Arbeitzeiten, großzügige Pausenregelungen, Abbau von Überstunden, mobiles Arbeiten. Wenn die Hitze also etwas Gutes hat, dann, dass sie uns die Gelegenheit gibt, den eigenen Arbeitsrhythmus zu hinterfragen, neue Pausenroutinen zu entwickeln und das eigene Tempo zu drosseln.

Wir müssen, egal ob an heißen oder kalten Tagen, lernen mit einer Vielfalt von Zeiten umzugehen. So formuliert es auch der vielleicht bekannteste Zeitforscher Karlheinz Geißler in seinem Buch "Lob der Pause". Er rät, nicht eine, sondern viele Zeiten zu leben:

"Die Welt hat erheblich mehr Zeitqualitäten, als unsere Tempogesellschaft zulässt. Im Garten der Zeit wachsen und gedeihen viele unterschiedliche Zeitblumen, darunter markante, auffallende, aber auch zurückhaltende und unscheinbare, man findet dort prächtige und weniger prächtige, hübsche und nicht ganz so hübsche."

Zu den herausragenden Zeitqualitäten gehöre die Schnelligkeit, schreibt Geißler. Sie habe unseren Vorfahren die Flucht vor wilden Tieren ermöglicht und ermögliche uns heute, mit dem Flugzeug zu fliegen.

"Im eher schattigen Teil des Zeitgartens finden wir die Langsamkeit in enger Nachbarschaft mit der Geduld, dem Zögern, der Pause und dem Warten. Daneben noch ganz viele andere, darunter beliebte, weniger beliebte, auch bedrohte und einige, die hin und wieder als Unkraut bezeichnet werden."

Es seien die unterschiedlichen Zeitqualitäten, die unseren Zeiterfahrungen und Zeiterlebnissen ihre spezifische Farbe und ihre besondere Qualität verleihen. Alle Erfahrungen, Orte, Entwicklungen, Prozesse, Gegenstände, Personen und Gemeinschaften hätten ihre eigene Zeit. Diese Zeitvielfalt, die Grundlage unserer Zeitkultur sei, gelte es zu entdecken und zu erspüren und anzuerkennen, zuweilen auch zu beeinflussen "und mit den eigenen Zeiten und Zeitbedürfnissen in eine fruchtbare Balance zu bringen". 

Von diesem Donnerstagmorgen, bei weit geöffnetem Fenster und der Stille, die in der grauen, schwülen Luft liegt, geht eine eigenartige Stimmung aus. Wahrscheinlich geht es nur mir so. Vielleicht befinde ich mich in dem von Unkraut überwucherten Teil des Zeitgartens, einer merkwürdigen, undefinierbaren Zwischenzeit, die ich kaum benennen kann. Ich kann nur benennen, dass bei mir, aber ich glaube auch bei vielen anderen, das Bewusstsein eingesetzt hat, dass wir in einer Zeit permanenten Wandels und permanenter Krise leben, die die regelmäßigen Pausen noch dringender braucht als sonst, um das alles zu begreifen, um bei sich zu bleiben oder wieder zu sich zu finden.

Genau damit fange ich jetzt an und lege eine kleine Pause ein. Nachdem ich alles Mögliche abgearbeitet habe, ist dieser Newsletter die letzte Task auf meiner Liste. Ich tauche für eine Weile ab, lebe eine andere Zeit und hoffe, dass dir das in dieser unruhigen Zeit auch gelingt. Niemand kann in einem dauerhaften Krisenmodus leben, auch wenn die aktuelle Nachrichtenlage das zu verlangen scheint. Ich kann mir kaum einen besseren Zeitpunkt für eine Pause vorstellen als jetzt und kaum ein besseres Schlusswort als dieses des Zeitforschers Karlheinz Geißler: "Ich mache Pause, also bin ich."

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