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Dieses neue System ist für Menschen, die sich einbringen und kooperieren und nicht für die wenigen, die das nicht tun

Es gehört zu den Eigenheiten des Nachrichtengeschäfts, dass ein Thema die Schlagzeilen dominiert, erbittert darum gestritten wird und es kurz darauf wieder aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit verschwindet. So habe ich auch die Diskussion über das Bürgergeld wahrgenommen. Nachdem es der Ampel nicht gelungen ist, die Reform durch den Bundesrat zu bringen und der anschließende Kompromiss mit der Union die ursprünglichen Pläne stark abgeschwächt hat, erschienen noch einige Bürgergeld-FAQ-Artikel. Damit schien das Thema erledigt.

Was mir in den Diskussionen besonders unangenehm aufgefallen ist, ist die Unsachlichkeit, mit der argumentiert wurde. Eine immer wieder vorgetragene Position lautete, dass die beim Arbeitslosengeld üblichen Sanktionen erhalten bleiben sollten, weil sonst "überhaupt keine Möglichkeit mehr" bestehe, jemanden zu motivieren. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der das sagte, setzt damit ganz selbstverständlich voraus, dass Sanktionen, also Leistungskürzungen, und deren Androhung eine motivierende Wirkung haben. Nicht nur in der Union, auch in der Bundesregierung, bei der FDP, gab es Befürchtungen, beim Bürgergeld werde die Leistungsgerechtigkeit nicht genug berücksichtigt.

Belege für die unausgesprochene Unterstellung, Arbeitslose seien nicht motiviert zu arbeiten und die explizite Behauptung, Sanktionen hätten eine motivierende Wirkung, fanden sich in den Aussagen nicht. Trotzdem verfingen die Aussagen in der Bevölkerung. Die Mehrheit der Bevölkerung (58%) findet das neue Bürgergeld laut ZDF-Politbarometer (Öffnet in neuem Fenster) eher schlecht. Die Kritik, dass es zu wenig Anreize für einen neuen Job biete, fanden 68% der Befragten berechtigt. Strengere Sanktionen wurden von den Anhänger*innen aller im Bundestag vertretenen Parteien mehrheitlich befürwortet.

Die Debatte ist nun erst einmal beendet. Was bleibt, sind eine Reform, die nur noch wenig mit ihren ursprünglichen Zielen zu tun hat, und das sich weiter festgesetzte Bild des Arbeitslosen, der angeblich nichts leistet und dem es nicht zusteht, Geld ohne Gegenleistung zu erhalten.

Nicht nur das Bürgergeld hätte eine Chance sein können. Auch die Diskussion darüber wäre eine Gelegenheit gewesen, verschiedene Lebenrealitäten besser zu verstehen und Misstrauen zu überwinden. Statt die Leistung und die Lebenszeit eines Arbeitslosen erneut zu entwerten und ihn oder sie als unproduktiven, bedürftigen Menschen darzustellen, wäre es, wie ich finde, an der Zeit gewesen, die unwürdigen und unsinnigen Bestandteile des Hartz-4-Systems offenzulegen, zu erklären und wirklich zu überwinden.

Ich verstehe, dass das der selten mit einer Stimme sprechenden Ampel-Regierung vielleicht gar nicht gelingen konnte. Was ich aber nicht verstehe, sind die tiefer liegenden Fragen: 

Warum denken wir, dass andere Menschen weniger verdienen? Warum denken wir, dass andere nichts leisten? Und selbst wenn es zutreffen sollte, warum sollte es nicht in Ordnung sein, auch einmal eine Phase zu durchleben, in der wir unproduktiv sind und uns neu orientieren müssen?

Sollte die Politik für diese Übergänge nicht auch Lösungen schaffen statt davon auszugehen, dass man ein Berufsleben lang auch pausenlos berufstätig sein kann? Und wenn die Pause zum Normalzustand wird, wie bei etwa einer Million Menschen in Deutschland, warum glauben wir, diese Menschen stärker fordern und motivieren zu müssen?

Was wissen wir über ihre Leben, über das, was sie jeden Tag leisten? Warum misstrauen wir einander, statt Menschen die Möglichkeit zu geben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und Verantwortung zu übernehmen?

Ein weiteres Bild aus der Reihe À la recherche du bonheur von Lena Nikcevic. Mehr über die Arbeit der Künstlerin, die zum dritten Mal eine Ausgabe meines Newsletters illustriert, findest du hier (Öffnet in neuem Fenster).

Ich habe über diese Fragen mit Mansour Aalam gesprochen. Er ist Direktor der Stiftung Grundeinkommen (Öffnet in neuem Fenster), die die Wirkungsweise und Anwendbarkeit von Grundeinkommensmodellen untersucht und eine konstruktive Diskussion auf Grundlage empirischer Erkenntnisse führen möchte. (Also genau das, was die Bürgergeld-Debatte vermissen ließ.) Mansour Aalam setzt sich für ein Sozialsystem ein, das nicht auf Kontrolle, sondern auf Vertrauen setzt. Und er glaubt, dass wir uns längst auf dem Weg in Richtung Grundeinkommen befinden.

Zum Jahreswechsel wird schrittweise das neue Bürgergeld eingeführt, Hartz 4 soll damit Geschichte sein. Eigentlich war eine sechsmonatige Vertrauenszeit vorgesehen, in der Bezieher*innen des Bürgergelds nicht sanktioniert werden können. Nun wird auf diese Vertrauenszeit komplett verzichtet. Finden Sie das richtig?

Mansour Aalam: Die Vertrauenszeit wäre ein wichtiges Signal gewesen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen an die Menschen im Bezug, denen man dadurch sagt: „Ich gehe davon aus, dass wir gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten werden. Ich habe erst einmal überhaupt keinen Anlass, daran zu zweifeln.“

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Kategorie Interview

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