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Über den Dächern

Unterwegs mit Luna, Lulu und Saralisa

Mit meiner neuen Boulder-Freundin Luna traf ich mich über den Dächern der Stadt. Wir lernten Lulu aus der Bar kennen – und verbrachten die Nacht zusammen. Zogen vom Dach durch die Straßen Neuköllns und redeten bis tief in die Nacht an den Kanälen der Mitte. Saralisa begleitete mich in Gedanken; die Worte ihres Buches drangen tief in mein Bewusstsein und gaben mir eine andere Sicht auf den Abend.

Grenzenloser Blick

Die Karl-Marx-Straße in Berlin-Neukölln ist ein lauter, mitunter dreckiger Ort. Menschen, Menschen und noch mehr Menschen, Gerüche aller Couleur, Lautstärken jeglicher Art, Tiere, Müll, Abgase – und dennoch mag ich es hier sehr. Ich wohnte mal in der Nähe; vielleicht fühle ich mich deswegen irgendwie heimisch. Wir waren hier oft nachts unterwegs. Es gibt tolle Orte und diese unheimlich vielen interessanten Leute. Sie kommen von überall her nach Neukölln. So auch ich an diesem Abend. Ich laufe immer vom Bahnhof in den Bezirk hinein. Die Karl-Marx-Straße hinunter. 

Süßes Baklava trifft auf Döner. 

Abgase auf blumiges Parfum.

Die Straße platzt aus allen Nähten, auch nachts und mitten in der Woche.

Vom Dach des Glitzerstorches schaue ich auf die Stadt und stelle mir vor, auf dem Fernsehturm in der Ferne würde ein überdimensionaler Storch sitzen. Er öffnet seine Flügel, balanciert auf einem Bein und dreht eine Pirouette. Warum der Glitzerstorch auf dem Parkhausdach so heißt, weiß ich nicht. Aber ich mag den Ort. Mit dem Fahrstuhl verlassen Luna und ich die laute Straße und schweben in die oberste Etage, schlängeln uns durch Beton und tauchen oben wieder auf. Ein Garten mitten in der Stadt, über den Dächern. Der Blick ist grenzenlos.
Luna ist zum ersten Mal hier: „Das ist ja irre, damit habe ich nicht gerechnet“, sagt sie staunend und zückt ihr Handy. Selfie. Fernsehturm im Hintergrund. Wir grinsen.

Wir holen uns etwas zu trinken, später einen Sandwich. Luna erzählt mir vom modernen Dating. Ich bin froh, dass ich diese Zeiten hinter mir habe. 
„Ich glaube, ich könnte das nicht“, sage ich zu Luna.
„Aber wie hast du denn Menschen kennengelernt?“, fragt sie mich verwundert. 
„Immer mit offenen Augen und Ohren durchs Leben“, antworte ich mit einem Satz von Professor Schümchen aus meiner ersten Journalismus-Vorlesung (Öffnet in neuem Fenster) – vor 18 Jahren.
Und dann erzähle ich Luna die Geschichten aus der Bahn, wie ich meinen Mann kennenlernte (Öffnet in neuem Fenster). Ihre Augen leuchten, sie hängt an meinen Lippen und ich finde sie sehr schön. Vor allem ist sie sehr schön jung. Vergangene Woche (Öffnet in neuem Fenster) erst bin ich 38 Jahre geworden, Luna 29.

„Ich wühle mich mit der Pinzette über meine Kopfhaut und versuche, das soeben erblickte graue Haar zu fassen zu bekommen. Als ich es endlich ausgerissen habe, entdecke ich ein neues. Noch bin ich nicht bereit zum Haarefärben. Zum Friseur gehe ich nie. Ich will keine Zum-Friseur-geh-Frau werden. Alle vier Wochen. Oder noch besser alle drei. Über 40 Prozent aller Frauen in Deutschland färben sich monatlich oder alle zwei Monate die Haare. Wie soll das gehen? Mir fehlt die Zeit. Stattdessen stehe ich vorm Hotelspiegel, während in der Lobby Menschen auf mich warten, und durchsuche meinen Kopf nach grauen Haaren, als seien es schädliche Läuse. Ob das zeitsparender ist?“

Aus Saralisa Volm „Das ewige Ungenügend. Eine Bestandsaufnahme des weiblichen Körpers“. Ich fliege durch dieses Buch, erkenne mich wieder, weine mit Saralisa über die Ungerechtigkeiten und ertappe mich. Auf vieles möchte ich hier nicht eingehen, weil es mir zu nahe geht, weil ich manches auch so erlebte und nicht Mut habe, wie sie, darüber zu schreiben. Aber verflucht, Saralisa trifft meinen Nerv.

Kaum eine Falte erkenne ich in Lunas Gesicht und frage mich, ob das bei mir mit Ende 20 auch so war. Das mit den grauen Haaren versuche ich schon gar nicht mehr. Das erste graue Haar (Öffnet in neuem Fenster) ist schon lange ausgerissen. Aber drei Sachen kann ich trotz einiger grauer Haare noch richtig gut: Um die Häuser ziehen, meinen Hintern nach den Beats der Nacht schwingen und mit den jungen Frauen einen trinken.
In der ZEIT lese ich: „Feiern geht nicht, weil Kater so schlimm. Campen nicht wegen des Rückens. Der Grund: das Alter! Bullshit. Wer nicht mehr feiern will, hat echt ganz andere Probleme.“

Ich gehöre nicht dazu. Wirklich nicht. Im Artikel (Öffnet in neuem Fenster) steht, wie wichtig es ist, auch mit über 30 noch auszugehen, andere Leute zu treffen und Neues zu erleben. Und genau das ist es, was auch mich rauszieht, das Leben.

Neuköllns Straßenschluchten

Wir verlassen das Dach des Einkaufszentrums, schlängeln uns durch die dunklen Straßen Neuköllns und landen im Vieh. Ich fühlte mich wie eine geschmeidige Miezekatze, die sich auf der Schaukel der Terrasse niederlässt und herrlich umsorgt wird. Ein Barkeeper, der seinem eigenen Klischee wunderbar entspricht, kommt und kümmert sich um uns. 
Schön und zuvorkommend. 

Freundlich und professionell. 

Liebenswürdig und nicht aufdringlich. 

„Kann ich euch helfen?“, fragt er und dann mischt er uns je einen individuellen Drink. Fragt, was wir mögen und wonach uns heute ist. Ich hätte gerne mitgeschrieben, um jetzt charakterliche Schlüsse ziehen zu können. Nach dem Motto: „Ich mixe dir einen Cocktail und sage dir was über deine Persönlichkeit.“

Bei einer kurzen Recherche dazu bekomme ich nur merkwürdigen Informationen, die sich hier nicht zu teilen lohnen. 


Viel lieber denke ich noch über unseren Cocktailmischer nach, den ich mir auch gut am Strand aus seinem Surferbus steigend, vorstellen kann. Die langen Haare wild im Gesicht und das bunt-karierte Hemd, das aus der Shorts heraushängt. Trägt er Flip-Flops?

Die Cocktails sind wunderbar, aber wir wollen noch mehr. Dienstag ist ein schwieriger Tag zum Ausgehen, aber auf die Visionäre ist Verlass. Bevor wir gehen, mache ich noch einen Ausflug zur Toilette. Im Gang vor dem Klo hängt ein großer Spiegel. Ich betrachte mich eingehend, zuppel‘ an meinem Rock herum, werfe die Haare ins Gesicht. Der Surfer-Kellner steht plötzlich hinter mir und grinst. Ertappt.

„Ich will mich nicht mehr fragen, ob meine Beine für eine bestimmte Veranstaltung rasiert sein müssen und ob mein Hintern in der Hose zu fett aussieht. Und auf gar keinen Fall will ich mich wohlfühlen müssen, um das Haus zu verlassen. Ich will einfach gehen. In Shorts oder hübschem Kleid, mit großen Poren und mit guter oder schlechter Laune. Ich will High Heels tragen oder Sneaker. Ich will ignorieren, was ich gelernt habe, und leben. Diese Freiheit kann ich mir leisten, auch wenn ich trotzdem immer wieder in die In-den-Spiegel-starren-Falle tappe.“

Mister Surf-Kellner zieht eine Augenbraue hoch: „Ist doch alles ok, oder?!“, sagt er.
Ich nicke: „Ja klar“, erwidere ich und möchte mit Saralisa anstoßen.

Am mittleren Kanalufer

Luna will Uber fahren, und so sitzen wir kurze Zeit später in einem ziemlich abgerammelten Gefährt und lernen Lulu kennen:

„Hey Göööörls,“ sagt sie. Ich bin Lulu aus der Bar, aber heute Nacht mache ich ein paar Fahrten für meinen Freund.“

Luna und ich schauen uns etwas ungläubig an und kichern. Warum erzählt sie uns das, und überhaupt: „Was ist denn das für ein Name?“, flüstert mir Luna zu.
„Habt ihr Mädels-Abend?“, grätscht Lulu in unsere Gedanken hinein. „Wochenende ist aber besser zum Ausgehen.“

„Wochenende kann jeder“, sage ich zu Lulu. Sie lacht laut und stimmt mir zu. 
Dann erzählt sie von ihrem eigentlichen Job, in einer Bar. „Versteht ihr? Lulu aus der Bar.“ Deswegen nennt sie sich so, alle nennen sie wohl so. 

„Der Laden brummt“, erzählt Lulu und ist sichtlich stolz auf ihre Cocktails. 
Wir kommen ins quatschen: Ausbildung, Beziehung, Schule, Penisse, Studium, Städte, Familie. Zwischendrin wundere ich mich noch kurz über diese Entwicklung, aber dann denke ich wieder an den Text aus der ZEIT und freue mich einfach nur über diese beiden jungen Frauen.

„Wisst ihr was, Ladys, ich finde euch richtig cool“, sagt Lulu aus der Bar auf einmal.
„Hättet ihr was dagegen, wenn ich euch begleite?“

Wir schauen uns an, schauen sie an, nicken: „Gerne!“

„Kannst du denn schon Feierabend machen?“, fragen wir noch.
Aber Lulu winkt ab.
 „Ich habe schon genug Fahrten heute, ich mache einfach eine Pause – und die verbringe ich mit euch.“

Kaum sind wir die Treppen zum Kanal runter gehüpft, verschwindet Lulu auf der Tanzfläche; sie bewegt sich im Rhythmus der Musik, als würde sie nie etwas anderes machen. An der Bar bestellt sie Wasser. Später wird sie uns erzählen, dass sie keinen Alkohol trinkt. Sie neige zu Suchtverhalten.

„Aber, woher weißt du dann, wie deine Cocktails schmecken?“, fragt Luna.
„Ich weiß, wie alles schmeckt!“ Lulu lacht und dann zieht sich aus. Nur in einem weißen Strick-BH schwingt sie ihren Körper. Ich könnte Luna und Lulu stundenlang zuschauen.

Dann werde ich angequatscht oder vielmehr angelallt. Ich hoffe, den Kerl mit einem „Ich bin zu alt für dich“ von mir abhalten zu können. Aber schwupp habe ich seinen Atem an meinem Hals und sein Raunen im Ohr. „Du bist doch höchstens 28.“ 

Das macht mich wütend, Mitte 30 ok, aber das ist doch Scheiße. Ich will nicht mehr 28 sein und so sehe ich auch nicht mehr aus, Alter.

„Natürlich mochte ich gerne jünger aussehen, aber als zu meinem 36. Geburtstag jemand bewusst zum 29. gratulierte, war ich sauer. Was soll das? Ich will nicht mehr 29 sein. Ich war schon 29. Das war ganz gut, jedenfalls war es viel besser als mit 19 oder mit 24. Doch vieles fehlte damals noch, was heute zu meinem Leben gehört. Und nicht mal für den besseren Look will ich in diese Zeit zurück. Das liegt hinter mir, vor mir liegt Neues, Unergründetes. Das ist viel Spannender.“

Ich liebe diese Worte, dieses Buch, es passt so gut. Es ist treffend formuliert und mit den passenden Fakten gespickt. Chapeau Frau Volm!

Gute Zufälle

Ich stoße den Kerl etwas unsanft von mir weg und staune nicht schlecht, als hinter Lulu plötzlich ein Kerl tritt. Er legt die Hände von hinten um ihren Bauch, schmiegt seinen Kopf an ihren Hals und zusammen bewegen sie sich zur Musik. Lulu dreht sich langsam um und dann beginnen sie sich zu küssen. Luna und ich starren sie an, wir verfallen in einen regelrechten Glotz-Modus. 

Was ist das schön: Wir sehen Zungen, Lippen, hören das Seufzen, seine Hände auf ihrem Rücken, im Nacken. 

Als sie voneinander ablassen, kommen Luna und ich aus dem Glotzen gar nicht mehr heraus. Denn Lulu stellt uns jetzt ihren Freund vor.

„Das ist Bruno, wir sind schon zwei Jahre zusammen. Wir denken über Kinder nach“, erklärt sie uns strahlend.

Bruno reicht uns hochoffiziell die Hand, und dann erkenne ich ihn auch,- deswegen grinst er so. Bruno ist der Surfer-Kellner, und in Lulus Bar waren wir heute schon. Die Welt ist so klein, und der Abend geht zu Ende. Lulu und Bruno bringen Luna in ihrem Uber nach Hause. 

Noch an der Nachtbushaltestelle lese ich Lunas Nachricht; sie und Lulu haben Nummern getauscht.

„Stell dir vor Heli, Lulu bouldert auch und sie will sich uns anschließen.“ 
Ich freue mich. Wie schön es ist, immer wieder neue Menschen zu treffen.

In diesem Sinne, startet leicht und lebendig in den Hochsommer. Ich mach mich auf zur Insel (Öffnet in neuem Fenster).

Hasta logo, Helen

„Das ewigige Ungenügend, eine Bestandsaufnahme des weiblichen Körpers” von Saralisa Volm ist bei Ullstein erschienen. Kauf das Buch im Buchladen, es ist großartig.

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