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„Mach dich frei!“

Erwartungen ist ein großes Wort.

Ich weiß gar nicht, was mich diese Woche geritten hat, aber auf einmal stand dieses Wort vor meinem inneren Auge. Ich schreibe hier über Themen, die ich versuche, leicht und lebendig zu verpacken, weil ich finde, es gibt genug ernste Texte. Und ernst ist auch nicht das, was ich gut kann. Ich schreibe über Themen, die mich bewegen und teile sie mit einer kleinen, feinen Runde. Diese Woche hat mich vor allem mal wieder C. bewegt, aber ich will darüber nicht mehr schreiben. Und dann hatte ich ja sowieso die Erwartung an mich selbst, dass ich doch leicht daher kommen will. Da stand es plötzlich im Raum, dieses Wort mit E. Erwartung ist ein verdammt großes Wort, so groß, dass ich glaube, ein Bier trinken zu müssen, während ich diese Zeilen tippe. So groß, dass ich diese Worte nachts schreibe, weil sie mich nicht loslassen. Erwartungen gehören zu meinem Leben, immer schon. Ohne Erwartungen könnte ich keine Pläne machen und wäre wahrscheinlich ziemlich ziellos. Die Vorstellungen, wie das Leben funktionieren soll, ist geprägt von Erwartungen. Erwartungen an mich selbst, an mein Tun und Sein und natürlich auch an andere. Also los gehts, dann versuche ich mir das mal leicht zu trinken. Prost.

Liebende Erwartungen

Da kommt mein verrückter Triathlon-Mann (Öffnet in neuem Fenster) vom Schwimmtraining nach Hause und gesellt sich mit einem Bier zu mir. „Worüber schreibst du diese Woche?“, fragt er mich und ich erkläre ihm, dass ich mich ein bisschen schwertue. Manchmal habe ich wohl zu hohe Erwartungen. „Warum erwartest du denn was?“ Ja, was erwarte ich eigentlich? Als wir uns kennenlernten hatten wir kaum Erwartungen. Wir fanden uns einfach nur toll. Ich sah ihn in der S-Bahn mit seiner blauen Bommelmütze und der roten Jacke und freute mich über die Farbe im ewigen Grau des Berliner Winters. Und dann wünschte ich mir, dass wir ins Gespräch kommen würden. Es passierte und dann ließen wir es einfach laufen. Manchmal ist es ohne Erwartungen am allerbesten. Zu Beginn unserer Zeit hatten wir einmal ein Gespräch, indem wir über unsere Wünsche lamentierten. Wir waren und sind uns immer noch einig, wie wichtig es ist, dass wir wir selbst bleiben.

In unserer Beziehung, nein Ehe muss ich ja vielmehr schreiben, gibt es eine Regel: Mindestens einmal, eher zweimal im Jahr verbringt jeder ein Wochenende alleine. Ganz klar, kinderfrei und partnerfrei. Vergangene Woche war ich dran, diese Woche war es mein Mann. Ich treffe meistens Freundinnen oder fahre mit ihnen weg. Mein Mann macht etwas mit Triathlon. Eine längere Radtour (Öffnet in neuem Fenster) oder ein Fortbildungswochenende für Trainer. Ich tanze dann zwei Tage (Öffnet in neuem Fenster) und er steht morgens um sechs Uhr auf und geht schwimmen oder laufen und redet den ganzen Tag über Laktat, Bikefitting, Atmung und Beweglichkeit. Die Erschöpfung ist am Ende ähnlich, das Glücksgefühl auch. Jeder muss ab und zu mal nur ohne den anderen sein. Wir schicken den anderen raus, lassen uns frei und finden am Ende wieder zueinander. Das ist uns wichtig und vielleicht erwarte ich genau das: Freiheit und gleichzeitig Geborgenheit. Wir gönnen dem anderen nur das Beste. Das ist ein bisschen wie bei Eltern und Kindern. Sie wollen auch das Allerbeste für ihre Kinder, wobei da Erwartungen auch erdrückend sein können.

Kindliche Erwartungen

Ich schaue aus dem Fenster: Es ist schon dunkel. Fühlt sich (fast) nach Winter an. Aber die dicke Jacke will ich noch nicht anziehen. Meine Tochter nötige ich dazu. Sie wehrt sich beinahe jeden Tag. Aber wenn sie morgens das Haus verlässt, sind manchmal nur fünf Grad und kalter Wind. Ganz leise im Hinterkopf höre ich die Stimme meines Papas, wie er mir sagt, ich solle mich (jetzt seine Enkelin) warm anziehen. Bloß nicht krank werden. Dann kann man nicht in die Schule gehen.

Meine Tochter bringt neuerdings ständig Einsen mit nach Hause, was uns natürlich unendlich stolz macht. Trotzdem habe ich den Eindruck, ich muss ihr klar machen, dass es in Ordnung ist, auch mal keine eins zu haben. Eine Zwei, Drei oder gar eine Vier – alles ist völlig ok und macht sie nicht zu einer schlechten Schülerin. Schon jetzt hat sie einen so hohen Anspruch an sich selbst, dass ich mich Sorge, wie sie dem später gerecht werden will. Nach der Aktuellen eins sagte ich deshalb zu ihr: „Weißt du Süße, egal welche Note du bekommst, ich bin so oder so stolz auf dich!“ Sie schaute mich beinahe verwundert an und fragte „aber warum denn Mama?“ Für mich zählte nur eine Antwort: „Weil du bist, wie du bist und das ist genau richtig. Weil du einmalig und (m)ein Geschenk bist. Du bist großartig.“ Mein Mädchen lächelte ein bisschen verlegen und reagierte dann „Aber eine eins ist schon am besten.“ Jetzt musste ich ihr natürlich schon zustimmen, denn für sie ist es wichtig, dass ich ihre Meinung teile. Aber ich versicherte ihr dennoch erneut dass ich eben auch stolz sei, weil sie regelmäßig in die Schule geht und sich Mühe gibt. Ich erwarte nicht, dass sie nur gute Noten bekommt.

Bei meinen Worten muss ich an meine Oma Elli (Öffnet in neuem Fenster) denken, sie ist letztes Jahr gestorben, und wenn ich in den Ferien zu ihr kam, hat sie mir immer Geld zugesteckt „Fürs Zeugnis mein Kind.“ Am Anfang hatte ich den Schriebs noch dabei, später nicht mehr. Und ich hatte meine Gründe: „Aber Oma,“ sagte ich ängstlich zu ihr „ich habe doch das Zeugnis gar nicht mit.“ Das war natürlich pure Absicht, denn es waren nicht nur Einsen darauf. Oma sagte dann: „Hast du ein Zeugnis bekommen?“ Ich nickte verwirrt und sie sagte: „Na siehst du, also warst du regelmäßig in der Schule und hast dir somit das Geld verdient.“ Ich schämte mich, denn in meiner Vorstellung waren Vieren auf dem Zeugnis sehr schlecht. In der fünften Klasse wollte ich mich mal umbringen, weil ich im Mathe-Test eine Vier hatte. Meine erste vier. Am Gymnasium lernte ich dann schnell, dass Vieren Alltag sein können. Auch fünfen übrigens. Ich bin Oma so dankbar für diese Lektion und dieses Vertrauen! Sie erwartete nichts und bekam alles von mir.

Was andere erwarten

Klar wünsche mir, dass mein Kind aufs Gymnasium geht, Abitur macht und dann was Schönes studiert – worauf sie Lust hat – was sie glücklich macht. Erwartungen, Erwartungen, Erwartungen. Ich will keinen Druck ausüben. Vor allem glücklich soll sie werden. Aber das ist doch schon der Zwiespalt, muss ich sie nicht eigentlich schon viel eher darin bestärken, sich nicht unter Druck zu setzen und erst mal im Leben anzukommen. Dinge auszuprobieren, anstatt irgendwelchen Erwartungen zu entsprechen.

In einer Mitfahrgelegenheit traf ich mal eine junge Frau, da habe ich selber noch studieret, sie studierte ebenfalls. Jura. Die Frau stand kurz vor dem Referendariat in einer renommierten Kanzlei und dann brach sie alles ab. Kündigte den Vertrag, brachte ihre Anzüge in die Kleiderspende und färbte sich die Haare. Denn sie wollte ihr Leben lang nichts anderes machen als frisieren. Schon als kleines Mädchen schminkte und kämmte sie alles und jeden mit größter Leidenschaft. Aber alle um sie herum erwarteten von ihr, sie hatte herausragende Schulnoten, dass sie studiert und etwas aus sich macht. Sie war zu dem Zeitpunkt, als wir uns trafen, im ersten Lehrjahr und glücklich wie nie, sagte sie. Ich habe sie bewundert für ihren Mut, ihre Intelligenz und die Freiheit, die sie sich genommen hat. Nämlich zu tun, was sie glücklich macht.

Zufriedene Erwartungen

Die Psychologin Elisabeth Raffauf spricht in einem Interview über erbliche Anlagen und elterliche Erwartungen und erklärt, warum viele mit ihren Kindern immer noch oft in alte Rollenbilder verfallen.

„Der Druck auf uns als Individuen nimmt seit Jahren immer stärker zu. Wir müssen stets perfekt funktionieren, im Job Hochleistungen bringen, nach außen glänzen und auch noch die Leistungsträger von morgen großziehen. Das vermitteln uns Gesellschaft, Umfeld und auch manche Medien. Und wir Erwachsenen geben das weiter an die Kinder und Jugendlichen.“

Ich muss darüber echt nachdenken, denn auch ich habe mich viele Jahre unter Druck gesetzt und von mir selbst etwas Großes erwartet. Vor allem im Job, ich wollte privat immer sehr ungebunden und frei leben mit einem besonderen Beruf und viel Geld. Aber letztendlich stellte ich fest, dass es mich eher andersherum glücklich macht.

Die Schauspielerin Sibel Kekilli hat es sehr treffend formuliert:

„Der Blick geht nicht nach außen, sondern nach innen. Man macht, was man will und nicht, was von einem erwartet wird. Der Sinn des Lebens ist für mich auch nicht über den Sinn des Lebens nachzudenken. Das hindert dich nur daran, wirklich zu leben.“

Das hier ist meine Form von Freiheit, ich habe mich auf einen Mann und eine Familie mit Haus festgelegt, dafür brauche ich die Freiheit im Job. Ich arbeite mal hier und da schreibe meine Texte, lebe meine Fantasien in Geschichten aus. Ab morgen gehe ich übrigens dann und wann im Baumarkt arbeiten. Es gab Zeiten, da habe ich gedacht „Das entspricht aber nicht meinen Erwartungen“ und hätte es nicht gemacht. Aber heute weiß ich, ich brauche genau das. Ich brauche die Abwechslung. Und der Job hat absolut nichts mit meinem sonstigen Schaffen zu tun, es ist etwas völlig anderes. Die Arbeit ist sachlich, korrekt und endet. Ich sehe, was ich geschafft habe. Danach gehe ich heim und setzte mich an mein nie endendes Schreiben. So hat sich mein Plan umgekehrt, aber die Erwartung von Freiheit hat sich dennoch erfüllt. Was ich damit sagen will ist, dass wir uns manchmal frei machen müssen von den Dingen, die wir einst so unbedingt für notwendig gehalten haben, um dann vielleicht dahin zu kommen, wo wir zufrieden sein könnten.

Bleibt leicht&lebendig,

Helen

Zum Weiterlesen:
Sibel Kekilli über das Leben. (Öffnet in neuem Fenster)
Das Interview mit Elisabeth Raffauf. (Öffnet in neuem Fenster)

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Kein RauschVonWorten ohne Sophie Schäfers Illustration! Danke.

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