Kleinkind-Wut und bedürftiges Baby – Wie werde ich beiden Kindern gerecht?
Für alle, die den Beratungstext anhören möchten: Die Audioversion findet Ihr am Ende des Artikels und im Podcast-Feed!
Hallo. Ich habe im Alltag ein großes Problem: Wie kann ich Wutausbrüche meiner Dreijährigen begleiten, wenn zur gleichen Zeit mein Baby auch ein sehr dringendes Bedürfnis hat? Ich kann gerne große Gefühle wie Wut begleiten – klar, das klappt manchmal besser, manchmal schlechter, aber wenn ich gleichzeitig ein weinendes Baby auf dem Arm habe, das Hunger hat – oder hundemüde ist, dann fällt es mir sehr, sehr schwer. Zumal meine große Tochter vor Wut wirklich laut schreien kann.
Die letzte Situation fand in unserem Badezimmer statt: Die Große wollte sich nicht die Hände waschen. Sie liegt also auf dem Boden und schreit. Ich würde zwar gerne bei ihr bleiben, aber es tat mir und der Schwester echt in den Ohren weh, weil es so laut war. Gehe ich mit dem Baby und lasse sie alleine? Was lernt sie dann? Oder bleibe ich bei ihr und das Baby wird dann noch unruhiger?
Auch finde ich es schwierig, wenn sich die Wut oder Überforderung dann gegen die kleine Schwester richtet. Klar, gerade wenn sie eifersüchtig ist, braucht sie ja eigentlich Zuwendung. Wenn ich jedoch alleine mit beiden bin, muss ich ja auch erstmal die Kleine trösten, wenn sie jetzt zum Beispiel gerade aus Wut gekratzt wurde. Ich bin wirklich auf die Antwort gespannt. Liebe Grüße, eine etwas verzweifelte Mama.
Erstmal vielen Dank für diese so wertvolle Frage. So viele Mehrfacheltern stellen sich jeden Tag aufs Neue diese Frage und als Dreifachmama kann auch ich mich sehr gut in dich einfühlen. In jedem neuen Moment immer wieder zu entscheiden, welches Bedürfnis gerade oberste Priorität hat (und Achtung, jetzt wird’s verrückt: das darf auch unser eigenes sein! :-) ), gehört zu den schwierigsten Aufgaben bedürfnisorientierter Elternschaft!
Aus meiner Sicht macht es Sinn, als Erstes in Bezug auf wiederkehrende Konflikte zu überlegen, wie du es dir im Alltag leichter machen kannst. Für den Fall, dass du alleinbegleitend sein solltest, ist das nochmal wichtiger.
Wir machen es uns oft unbewusst so schwer. Wie wichtig ist dir zum Beispiel das Händewaschen in der konkreten Situation wirklich? Hat mein Kind vielleicht gerade geholfen, die Katzentoilette zu säubern, kann es durchaus wichtig sein, dass es sich danach die Hände wäscht. In anderen Situationen, wie etwa „einfach nur“ vor dem Essen, kann ich mir überlegen, ob ich vielleicht einen Waschlappen anbiete oder das Waschen einfach ganz weglasse. Das hört sich vielleicht nach einer Kleinigkeit an, aber wenn wir uns das in Bezug auf viele vermeintlich kleine Situationen überlegen, kann das im Familienalltag einen großen Unterschied machen und unseren Energietank schonen.
Und egal, wie sehr du auch schaust, was dir wirklich wichtig ist und was nicht: Es wird immer wieder Situationen geben, wie du sie in deinem Text beschrieben hast, wo beide Kinder gerade etwas von dir brauchen und du dich fragst, was du tun sollst. Und auf diese Frage gibt es – wie so oft – leider keine pauschale Antwort. Was ich dir als Impuls jedoch gerne mitgeben möchte, ist, dass du dich selbst immer wieder neu fragen kannst: Wer leidet mehr?Wo ist die Not am größten? Und können wir als Eltern damit falsch liegen? Durchaus. Geben wir dennoch unser Bestes? Auf jeden Fall!
Und das Gute ist, auch wenn es dafür keine wissenschaftlichen Beweise gibt, gehen wir aktuell davon aus, dass Kinder schon sehr früh spüren, aus welcher Motivation heraus wir sie warten lassen. Ob wir denken: „Das Kind muss jetzt auch mal lernen, zu warten!" oder ob wir gerade tatsächlich verhindert sind und dem Baby oder dem Kind zurufen „Ich komme gleich zu dir, mein Schatz.“ Das Kind wird in beiden Fällen frustriert sein. Und das darf es auch. Unsere Haltung entscheidet jedoch darüber, ob sich das Kind in seinem So-Sein von uns angenommen oder falsch gemacht fühlt.
Es kommt auf die Grunderfahrung an, die Kinder im Alltag mit uns machen.
In der Entscheidung, wo die Not gerade am größten ist, kann uns unter anderem das Alter eine Orientierung geben. Mit elf Monaten fällt es deiner jüngeren Tochter entwicklungsgemäß deutlich schwerer, ein Bedürfnis aufzuschieben als deiner dreijährigen Tochter. Vor allem, wenn es sich um Grundbedürfnisse handelt, wie Nahrung, Schlaf oder körperliche Nähe. Gleichzeitig lernt ein Baby circa gegen Ende des ersten Lebensjahres, dass die Eltern auch dann noch existieren, wenn es sie gerade nicht sieht (die sogenannte Objektpermanenz) und ein kurzes Warten fühlt sich nicht mehr nach einer existenziellen Bedrohung an.
Wenn deine ältere Tochter jedoch oft zurücksteckt, steigt auch die Dringlichkeit ihres Bedürfnisses, zum Beispiel nach Zuwendung.
Außerdem ist der emotionale Erregungszustand in der jeweiligen Situationein wichtiger Punkt. In Bezug auf dein Beispiel könnte es dementsprechend Tage geben, wo sich die Gefühle deiner älteren Tochter von der Intensität her auf einem Erregungslevel bewegen, dass du dich als Erstes um sie kümmern möchtest, weil sie vielleicht regelrecht in Panik ist.
An anderen Tagen, wo der emotionale Erregungszustand deiner älteren Tochter weniger intensiv ist und du Hunger oder Müdigkeit bei deinem jüngeren Kind vermutest, holst du vielleicht erstmal etwas zu essen oder du nimmst sie bei Müdigkeit in die Trage, bevor du dich deiner älteren Tochter zuwendest.
Und jetzt kommt das Wichtigste: Beides ist ok! Kinder sind in der Lage, auch schwierige Erfahrungen in ihre Bindungsbiographie zu integrieren, ohne dass sie daran Schaden nehmen. Es kommt auf die Grunderfahrung an, die Kinder im Alltag mit uns machen. Wenn wir grundsätzlich für unser Kind da sind und dann gibt es immer mal wieder diese Momente, wo wir eben nicht direkt reagieren können, ist das völlig unproblematisch für die Eltern-Kind-Bindung.
Und egal wie du reagierst, schau gerne, dass du dir einen kleinen Moment nimmst, um als allerersten Schritt vorher kurz für dich zu sorgen. Wir sind oft sehr schnell im Reiz-Reaktions-Modus. Wenn ein Kind auf die Straße läuft, ist das natürlich wichtig. In unserem Familienalltag geht es oft aber gar nicht ums Überleben. Auch wenn es sich so anfühlt.
Was kannst du also für dich tun, bevor du dich um deine Kinder kümmerst? Dir vielleicht Ohropax holen, das Fenster aufmachen (wenn dir die frische Luft wichtiger ist als das, was die Nachbarn denken – auch damit können wir lernen umzugehen). Vielleicht hift es dir auch, zwei oder drei Mal lange auszuatmen (das beruhigt erwiesenermaßen das Nervensystem) oder deine Hand für einen kurzen Moment auf dein Herz zu legen und dir selbst innerlich das zu sagen, was du gerade fühlst. Das könnte so etwas sein wie: „Puh, ist das grad anstrengend.“.
Vielleicht ist es aber auch etwas ganz anderes, das dir in dieser Situation gut tun würde. Es ist erstaunlich, was so ein kurzer Moment ausmachen kann in Bezug auf unser Handeln und vor allem unsere Haltung. Und um in unserer Haltung und bei unseren Werten zu bleiben und ein Kind – das sich mit seinem Nervensystem in unser Nervensystem einklinkt – ko-regulieren zu können, ist die Selbst-Regulation grundlegend. Wie die Sauerstoffmaske im Flugzeug, die wir zuerst uns aufsetzen und dann anderen. Abgesehen davon können wir nicht kreativ sein, wenn wir unter Stress sind. Und Kreativität braucht es, wenn wir uns am liebsten in Zwei teilen würden.
Und mal sind wir zufrieden mit unserem Verhalten und mal nicht. So ist das. Wir Eltern sind Menschen. Und wir machen Fehler. Und dann können wir danach zu unserem Kind gehen und sagen, dass es uns leid tut und die Verantwortung für unser Handeln übernehmen.
Ganz allgemein ist es in den jeweiligen Situationen übrigens auch überhaupt kein Problem, dass wir uns als Eltern umentscheiden. In deinem Fall könnte das sein, dass deine Tochter doch nicht Händewaschen muss, obwohl du sie vorher darum gebeten hast. Wenn wir das nicht andauernd tun und unser Nein grundsätzlich etabliert ist, ist das völlig in Ordnung. Und gleichzeitig kann es auch sein, dass es gar nicht ums Händewaschen geht, sondern dass deine ältere Tochter – kompetent wie sie ist – Psychohygiene betreibt und in diesem Moment eine Möglichkeit sieht, um ihren Gefühlen Raum zu geben, die sie in Bezug auf ihren Alltag gerade umtreiben. Und auch wenn sie nicht Händewaschen muss, kommen die Gefühle dann vielleicht an anderer Stelle an die Oberfläche.
Und in Bezug auf dein zweites Beispiel, wenn deine jüngere Tochter weint, weil sie gekratzt wurde und deine ältere Tochter gerade wütend ist, gilt dasselbe: Wer leidet gerade mehr?
Grundsätzlich übernehmen in solchen Situationen oft noch alte Muster und wir wenden uns automatisch ausschließlich dem Kind zu, dem weh getan wurde. Mittlerweile wissen wir: „Ein Kind in Wut ist ein Kind in Not.“ Es kann also sein, dass die Entscheidung auch hier schwer ist. Im besten Fall bietet man beiden Kindern körperliche Nähe an. Es gibt Kinder, die das unter der Wut nicht möchten. Was wir ihnen dennoch signalisieren können, ist, dass wir für sie da sind. Und zwar weniger über Worte. Bei starken Emotionen ist der kognitive Teil des kindlichen Gehirns nur schwer bis gar nicht erreichbar, das Kind kann uns also nicht verstehen. Was beim Kind aber auch unter der Wut ankommt, ist Mimik, Gestik und Tonfall. Das Kind spürt darüber ganz genau, ob wir es in seinem Schmerz sehen oder ob es uns schwerfällt, mitfühlend zu sein.
Und dann kann es sein, dass sich da noch ein drittes Kind zeigt, nämlich das eigene innere Kind. Je nachdem, was die Situation möglicherweise für alte Wunden in uns berührt – aufgrund unserer Geschichte oder beispielsweise unserer eigenen Geschwisterkonstellation und der Erfahrungen, wie mit uns als Kind umgegangen wurde, wenn wir wütend waren – kann da ein weiteres (inneres) Kind in Not sein, das auch gehört und vor allem gefühlt werden möchte.
Und all das können wir immer wieder üben. In kleinen machbaren Schritten und einem lebenslangen Lernen. Und vor allem daran denken, uns immer wieder zu feiern für jede Situation, die wir im Einklang mit unseren Werten gemeistert haben und mitfühlend mit uns zu sein, wenn es anders gelaufen ist, als wir es uns wünschen. Immer in dem Wissen: Der nächste kleine Schritt ist genug. DU bist genug.
Ich wünsche dir und deiner Familie von Herzen alles Gute!
Maria
Dr. Maria Rockenfeller ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin, familylab-Familienberaterin und Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation.
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