Zeit der Legenden
Über Paradeplätze, den Mantel des Schweigens und einen zu schweren Rucksack
von Katharina Burkhardt
Meine Mutter wuchs in Rochlitz auf, einem kleinen Ort in Sachsen. Dort steht noch ihr Elternhaus. Und es gibt eine Grabstätte in der meine Urgroßeltern und mein Großvater bestattet sind. Ich habe frühe Erinnerungen an Rochlitz, da war ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Ich sehe das alte Haus vor mir, ein Schlafzimmer mit einem riesigen Bett, in dem ich mit meiner Mutter schlafe, das Aquarium im Wohnzimmer, den Hof mit den Garagen, vor denen ich mit den Kindern aus der Wohnung im Erdgeschosss spiele – »aber Vorsicht, der Vater ist ein Spitzel!«
Ich sehe mich im Bett liegen, höre Autos auf der Straße, die anders klingen als die Autos bei uns im Westen, sehe mich mit meinem Bruder Eis kaufen, das wir aus Waffelschalen essen. Ich sehe mich mit meiner Großmutter zum Bahnhof laufen und am Zaun vor dem Bahnsteig warten, um irgendwen zu empfangen, vielleicht meine Tante aus Berlin.
Und ich sehe mich mit meiner Mutter über den Friedhof gehen. Wir machen an einem Grab an einer Ecke halt. Der Grabstein ist aus rotem Porphyr, der wird in Rochlitz abgebaut. Es ist Sommer und sehr warm, meine Mutter begibt sich auf die Suche nach einer Gießkanne. Sie spricht mit dem Friedhofsgärtner, einem ehemaligen Klassenkameraden ihres Bruders. Ich hocke auf dem Boden und starre auf rot-schwarz gemusterte Käfer, die auf dem feinen Kies umherkrabbeln, mit dem die Grabstätte bedeckt ist. Das sind meine allerersten Erinnerungen an Friedhöfe überhaupt. Vielleicht haben sie sich deshalb so eingeprägt.
Das Foto unten entstand in den fünfziger Jahren. Ganz links schaut vermutlich meine Mutter aus dem Zugfenster, rechts daneben ihre Schwester (ich erkenne es nicht genau). Schon lange halten keine Züge mehr in Rochlitz, der Bahnhof wurde vor vielen Jahren stillgelegt.
Viel ist nicht mehr da, wenn alle Menschen bereits gestorben sind, die man nach den eigenen Wurzeln befragen könnte. Da bleiben nur Ortschaften, Friedhöfe, Häuser und die eigenen Erinnerungen. Die sind oft lückenhaft und verfälscht, unser Gedächtnis spielt uns gern Streiche. So war ich erstaunt, als ich kürzlich erfuhr, dass es auf dem Rochlitzer Friedhof zwei Gräber meiner Familie gibt. Eins an prominenter Stelle direkt neben der Kapelle, jeder muss daran vorbeigehen. Diesen Platz kaufte mein Urgroßvater für sich. Alle sollten Hempel Emil, wie er genannt wurde, über den Tod hinaus huldigen. Bislang nahm ich an, dass neben ihm seine Frau Martha und sein Schwiegersohn Karl beigesetzt sind. Doch Martha liegt in einem anderen Grab, irgendwo am Rand des Friedhofs, weit weg von ihrem Mann.
Ich erinnere mich nicht daran, dass meine Großmutter oder meine Mutter oder ihre Geschwister jemals über diese Merkwürdigkeit sprachen. Niemand erwähnte, dass Emil sein eigenes Andenken offenbar wichtiger war, als neben seiner Frau beerdigt zu werden. Es gibt nicht mal Fotos von Marthas Grab, während das große Familiengrab mehrfach abgelichtet wurde. Aber vielleicht trügen mich meine Erinnerungen und alles war ganz anders. Dennoch stelle ich mir Fragen.
Da Martha vor Emil starb, liegt die Vermutung nahe, dass er erst nach ihrem Tod auf die Idee kam, für sich selbst den Paradeplatz neben der Kapelle zu kaufen. Vielleicht hatte er diesen Coup aber auch von langer Hand geplant und sich den Platz viele Jahre vor seinem Ableben gesichert. Auf Fotos stehen die Eheleute, über die alle nur mit größtem Respekt sprachen, friedlich Seite an Seite. War ihre Ehe wirklich so friedlich und liebevoll, wie es scheint, oder nahmen sie den Spruch »Bis dass der Tod euch scheidet« sehr wörtlich? Vielleicht war Martha auch die Sorte Frau, die es aufgegeben hatte, sich über die Eskapaden ihres Mannes aufzuregen. Vielleicht sagte sie: »Mach doch deinen Scheiß allein, ich will nach meinem Tod meine Ruhe haben und nicht von allen angegafft werden.« Ich habe meine Urgroßeltern nicht mehr kennengelernt, aber allen Erzählungen zufolge waren sie beide starke Persönlichkeiten. Da bleiben Konflikte nicht aus.
Meiner Großmutter waren Sitte und Anstand wichtig. Das äußere Bild ging über alles. »Was sollen denn die Leute denken?«, sagte sie oft. Manchmal, als sie ihre Heimat schon lange verlassen hatte, ging sie mit uns in die Stadt. Denkbar, dass einer von uns Geburtstag hatte und sie etwas Schönes kaufen wollte, ein Armband zum Beispiel. Dann gingen wir zum Juwelier. Das war fatal, denn es war Oma Else peinlich, den Laden unverrichteter Dinge zu verlassen. Also drängte sie uns, irgendetwas zu kaufen, egal ob es uns gefiel. Hauptsache, der Juwelier dachte nicht, sie sei geizig oder unhöflich. So machte sie es wohl auch mit den Gräbern ihrer Eltern. Damit es kein Gerede gab, legte sie den Mantel des Schweigens über die Geschichte.
Else gehörte einer Generation an, der das Leben viel Disziplin und Härte abverlangte. 1908 geboren erlebte sie zwei Kriege, Hungersnöte, Diktaturen und Besatzungsmächte. Ihr Vater war ein einfacher Mann, der mit einem großen Korb auf dem Rücken zu Fuß durch die Dörfer seiner sächsischen Heimat zog und Wäsche und Stoffe verkaufte. Else musste ihm als junges Mädchen bei dieser schweren Arbeit zur Hand gehen. Hempel Emil war geschäftstüchtig, er kannte jeden, quatschte mit jedem und war stadtbekannt. Als ich älter war, besuchte ich noch einmal mit meiner Mutter Rochlitz. Genau wie ihr Großvater besaß sie die Gabe, mit jedem Menschen ins Gespräch zu kommen. So sprach sie damals eine fremde Frau an, die in ihrem Garten arbeitete. Die Frau merkte schnell, dass wir aus dem Westen waren, in einer Mischung aus Neugier und Abwehr ließ sie sich auf ein Gespräch ein. »Kannten Sie Hempel Emil?«, fragte meine Mutter. »Nu freilisch«, kam es in bestem Sächsisch zurück. »Alle kannten ihn«, sagte meine Mutter voller Stolz zu mir.
Emil erlangte durch harte Arbeit einen bescheidenen Wohlstand, kaufte ein großes Haus und übernahm ein Geschäft am Rochlitzer Marktplatz, eine Bettfedernreinigung, in der er auch Bettwäsche, Handtücher und Nachtwäsche verkaufte. Es war ein Familienbetrieb, seine Frau und Tochter halfen im Laden mit, auch später noch, als meine Großmutter ihre eigene Familie gegründet hatte. Sie heiratete 1927 Karl Köhler, einen Standesbeamten, der sechzehn Jahre älter als sie war. Vor der Ehe ging sie ein halbes Jahr auf eine Hauswirtschaftsschule, um Kochen und Nähen zu lernen, damit sie ihrem Mann in Vollendung den Haushalt führen konnte. Karl war ein stattlicher Mann, wie Else zu sagen pflegte. Ihr Leben lang sprach sie voller Achtung und Respekt von ihm. Ob sie ihn aus Liebe geheiratet hat, oder nur, weil er eine gute Partie war, weiß ich nicht, aber sicher ist, dass die beiden für damalige Verhältnisse eine gute Ehe führten. Die junge Frau betete ihren Mann an und ordnete sich ihm unter. Sie lebte mit ihm, den vier Kindern, ihren Eltern und ihrer Schwiegermutter unter einem Dach. Das funktionierte angeblich hervorragend, weil alle die Grenzen der anderen respektierten. Nach der Entdeckung mit den zwei Grabstätten hege ich jedoch gewisse Zweifel an dieser Legende.
Den Krieg überstand die Familie einigermaßen gut, das kleine Rochlitz blieb von schweren Bombardierungen, wie Leipzig oder Dresden sie erlebten, verschont. Dennoch erzählte meine Mutter oft vom Fliegeralarm und den Nächten im Keller, wo sie mit ihren Geschwistern stundenlang Karten spielte, um die Angst zu vertreiben. Ob meine Großmutter Angst hatte, weiß ich nicht. Sie erzählte nur von den Hühnern und Ziegen, die ihr Vater im Hof hielt und schlachtete, um die Familie in kargen Zeiten zu ernähren. Und davon, wie sie ihre Wertsachen und alles, auf dem ein Hakenkreuz abgebildet war, im Garten vergruben, als nach dem Krieg die Russen kamen.
Die Russen beschlagnahmten das Haus und zwangen die Großfamilie, in eine Wohnung über der Sparkasse umzusiedeln, in der sie jahrelang in beengten Verhältnissen lebte. Mein Großvater verlor im Zuge der Entnazifizierung seine Stelle und seinen Beamtenstatus, obwohl er kein Nationalsozialist war. Aber dafür verbürge ich mich nicht, es war die Zeit der großen Legenden. Eine dieser Legenden geht so: Im Hungerwinter 1946, in dem es kaum Lebensmittel gab und zudem extrem kalt war, gingen Else und Karl wie viele andere Menschen, die unter den Kriegsfolgen litten, hamstern. Bei Schnee und Eis zogen sie zu Fuß über die Dörfer und bettelten den Bauern Nahrung ab – hier ein paar Kartoffeln, da ein Stück Speck oder etwas Mehl. Ein entwürdigendes, demütigendes Unterfangen. Einmal brach Karl, von Hunger und Verzweiflung gezeichnet, auf dem Heimweg erschöpft zusammen. Er warf seinen Rucksack von sich und wollte ihn zurücklassen. Da lud sich die kleine, zierliche Else, die ebenfalls viel schleppte, seinen Rucksack auch noch mit auf und trug die schwere Last alleine heim. »Zuhause warteten doch meine Kinder und die hatten Hunger«, erklärte sie schlicht, wenn sie diese Geschichte erzählte.
Das Bild unten zeigt meine Großeltern, Else und Karl Köhler. An meinen Großvater habe ich leider keine Erinnerung, er starb 1969.
Auch mein Urgroßvater verlor alles. Sein Geschäft wurde enteignet, im Sozialismus war kein Platz für Unternehmertum und Individualität. Hempel Emils Ära ging zu Ende. Innerhalb weniger Jahre starben seine Frau, sein Schwiegersohn und er selbst. Meine Großmutter war gerade sechzig, als sie ihren Mann verlor. Statt sich in das triste Leben einer alternden Witwe zu fügen, fing sie noch einmal ganz neu an. Sie verkaufte das Haus zu DDR-Konditionen, also unter strengen Auflagen und weit unter Wert, und übersiedelte 1974 in den Schwarzwald. Drei ihrer Kinder lebten bereits im Westen, in ihrer Heimat hielt sie nichts mehr.
Doch das Leben schenkte ihr nichts. Kaum im neuen Zuhause angekommen, starben plötzlich und unerwartet innerhalb eines Monats ihre jüngste Tochter und ihre Schwiegertochter. Der Tod der beiden jungen Frauen war eine Tragödie, ich erinnere mich gut an jenen dunklen Herbst, in dem ich gerade eingeschult worden war, an die traumatischen Umstände, die Verzweiflung meiner Mutter, und die unbestimmte Angst, die mich damals erfasste und lange nicht mehr losließ. Meine Großmutter, die sonst immer Stärke zeigte, hatte bis an ihr Lebensende Tränen in den Augen, wann immer sie von ihrer Tochter sprach, die viel zu früh ging und zwei kleine Kinder hinterließ.
Else ließ sich nicht unterkriegen und baute sich im Schwarzwald ein neues Leben auf. Sie zog in ein großes Apartmenthaus, das ihr Sohn gebaut hatte. Dort verwaltete sie Ferienwohnungen, mit großer Gewissenhaftigkeit, Kompetenz und Strenge. So lebte sie auch. Diszipliniert und in christlich geprägter Frömmigkeit. Sie war dankbar für das, was sie hatte und schaute selten zurück.
Wir Kinder liebten Oma Else. Für uns war sie eine Bilderbuchoma: klein, rundlich (dass sie bei ihrer Hochzeit 45 Kilo gewogen haben soll, konnten wir uns nie vorstellen), mit kunstvoll hochgesteckten weißen Haaren. Als Kind war mir nicht klar, wie lang ihre Haare waren, bis ich einmal einen Blick darauf erhaschte, als sie sich noch nicht frisiert hatte. Ich erschrak, mit den fast hüftlangen offenen Haaren sah meine Oma aus wie eine Hexe. Doch normalerweise bekamen wir Kinder sie nur adrett gekleidet und perfekt frisiert zu Gesicht.
Sie erfüllte uns viele Wünsche und schickte uns große Pakete zum Geburtstag. Wenn wir ihr beim Abwaschen halfen, drückte sie uns hinterher ein Geldstück in die Hand. Sie backte den besten Pflaumenkuchen der Welt und auch die beste Eierschecke, eine sächsische Variante des Käsekuchens. Ich probierte kürzlich ihr Rezept aus, das noch überliefert ist – die Aktion endete in einem Fiasko. Auch die Rindfleischsuppe mit Nudeln, die es immer an unserem Anreisetag gab, kriege ich nicht so gut hin wie sie. Die eingemachten Senfgurken habe ich gar nicht erst ausprobiert.
Wenn wir Oma Else besuchten, wohnten wir oft in einer der Ferienwohnungen, in ihrer eigenen Wohnung gab es nicht genug Schlafplätze für meine große Familie. Ich fand die schicken Wohnungen mit den Fernsehern toll und verbrachte Stunden damit, auf das Pausenbild zu starren, in der Hoffnung, dass irgendwann mal etwas anderes zu sehen sein würde. Wir hatten zuhause keinen Fernseher, das Konzept der Fernsehprogramme, die zu festen Uhrzeiten liefen, hatte ich noch nicht verstanden.
Oma Else war aber nicht nur die liebe Omi, sie konnte sehr streng sein. Wehe, jemand zerbrach ein Glas oder gar ein Teil des Meißner Porzellans mit dem Goldrand! Und wehe, wir brachten Schmutz mit in die Wohnung oder machten Lärm und verärgerten die eigenwilligen Nachbarn. Dann verwandelte Oma Else sich in einen kleinen Feldwebel.
Sie fügte sich nicht nur dem Willen der Männer, sie verstand es auch perfekt, sie für ihre Bedürfnisse einzuspannen und ihnen Arbeiten aufzudrücken, die sie selbst nicht bewältigte. Zum Dank erhielten sie immer die größten Stücke vom Kuchen, das beste Stück Fleisch – und den Ehrenvorsitz an dem Esstisch mit den schweren Lehnstühlen. Nur die Stühle an den Stirnseiten hatten Armlehnen, alle anderen nicht. Diese Plätze waren, sofern anwesend, den männlichen Familienmitgliedern vorbehalten. Ihnen brachte Else den meisten Respekt entgegen. Dann erst kamen wir Frauen und Mädchen an die Reihe. Die strenge Ordnung, in der sie lebte, verschaffte ihr finanzielle und emotionale Sicherheit, aus der eine innere Freiheit erwuchs, die sie bis ins hohe Alter zu einer starken und auch sehr zufriedenen und dankbaren Frau machte.
Meine Großmutter starb nach kurzer Krankheit wenige Tage nach ihrem 87. Geburtstag. Ich übernahm Jahre später ihre Schlafzimmermöbel, die ich teilweise bis zu meinem Umzug behielt. Das große Bett, in dem ich bereits in Rochlitz geschlafen hatte, stand lange in meinem Schlafzimmer. Ich mochte den Gedanken, dass darin meine Mutter gezeugt und zur Welt gebracht worden war. Das Bett stellte für mich eine Verbindung zu meinen Ahnen dar. Doch irgendwann hatte es ausgedient, der Staub der Vergangenheit war zu dick geworden.
Der Esstisch mit den schweren Stühlen stand eine Weile bei meinem Bruder. Einmal besuchten meine Schwester und ich ihn gemeinsam. Sie ließ sich schwungvoll auf einen der Lehnstühle fallen. »Endlich kann ich hier auch mal sitzen!« Mein Bruder sah sie erstaunt an. Ich aber wusste genau, was sie meinte.
Mittlerweile erinnern nur noch wenige Dinge an meine Großeltern und Urgroßeltern. Das Haus in Rochlitz steht noch und sieht äußerlich fast unverändert aus. Die Grabstätte neben der Kapelle existiert auch noch. Aber die Schrift auf dem Stein ist so verwittert, dass man sie kaum noch lesen kann. Das Nutzungsrecht erlischt im kommenden Frühling und der Familienrat hat beschlossen, es nicht mehr zu verlängern. Alles hat seine Zeit, ganz besonders Paradeplätze für selbstverliebte Männer.
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