Fernweh
Über erste Flüge, Hippieleben und sperrige Wohnmobile
von Katharina Burkhardt
Vor genau dreißig Jahren, im September 1994, flog ich nach Kreta. Es war meine erste Flugreise, ich starb fast vor Aufregung, zumal ich ohne Begleitung reiste. Ein Hotel hatte ich nicht gebucht, ich wollte herumfahren und schauen, wo es mir am besten gefiel. Noch vor dem Abflug traf ich auf eine Frau in meinem Alter, mit der ich später die halbe Nacht auf dem Flughafen in Heraklion verbrachte, bis die ersten Busse in die Stadt fuhren. Dort setzten wir uns in ein Café und frühstückten, dann fuhr ich alleine weiter ans andere Ende der Insel. Der Bus war voll mit alten Frauen, die sich an jeder Kirche, an der wir vorbeikamen, bekreuzigten. Überall lag Müll herum, das erschütterte mich besonders. Ich weiß nicht, ob das heute noch so ist, aber damals schienen die Griechen ihren gesamten Müll in die Landschaft zu kippen.
Ich stieg in dem kleinen Ort Lentas aus, wo Frauen an der Bushaltestelle warteten, die mir und anderen Rucksacktouristen Zimmer anboten. Ich mietete ein hübsches, aber recht teures Zimmer, das ich bereits am nächsten Tag wieder verließ. Ich hatte gehört, dass man an einem Strand auf der anderen Seite des Berges wild campen konnte. Der Weg war mit dem voll beladenen Rucksack beschwerlich, zumal es brüllend heiß war. Ich war dankbar, dass mich zwei alte Männer in ihrem klapprigen Pritschenwagen mitnahmen, auf dem sie Kartoffeln geladen hatten. Am Strand westlich des Berges zelteten tatsächlich viele Leute, die meisten liefen nackt herum. Ich tauchte für ein paar Tage ein in diese Hippiewelt, schlief ebenfalls am Strand, bestaunte den Vollmond, wurde von Sandflöhen gebissen und tauschte Telefonnummern mit einem Engländer, von dem ich nie wieder hörte.
Später fuhr ich im Bus weiter über die halbe Insel und übernachtete in billigen Hotels oder Jugendherbergen. Ich lernte viele Menschen kennen, vor allem junge Männer. Ihre Annäherungsversuche abzuwehren, war mühsam. Beim Lesen meiner alten Tagebücher wurde mir bewusst, wie anstrengend es für junge Frauen sein kann, wenn sie allein unterwegs sind. Ein Franzose reiste mir tagelang nach, weil er mein Nein nicht verstand oder nicht akzeptieren wollte. Vielleicht war ich auch aus falscher Höflichkeit heraus nicht deutlich genug in meinen Ansagen gewesen. Andere Begegnungen waren netter, lustiger und auch nachhaltiger. Mit zwei deutschen Studenten unternahm ich eine eindrucksvolle Wanderung durch die Samaria-Schlucht, die aus 1200 Metern fast bis zum Meer hinabführt und eine der längsten Schluchten Europas ist. Zu einem der beiden Studenten hatte ich noch jahrelang Kontakt, wir telefonierten immer mal wieder und einmal besuchte er mich sogar.
Als ich jung war, hatte ich oft Fernweh. Ich sehnte mich fort aus meinem Leben, weg von Menschen, Dingen, Umständen. Ich träumte davon, ferne Länder zu bereisen und die ganze Welt zu erkunden. Geworden ist daraus nicht viel. Ich bin nie über Europa hinausgekommen. Entweder fehlte das Geld oder die Zeit oder die Reisebegleitung. Etliche Reisen machte ich allein, aber nie in die ganz große Ferne, den Mut hatte ich nicht. Rückblickend klingt das absurd, denn meine ersten Reisen allein waren so abenteuerlich und kosteten mich manchmal so viel Mut, dass es egal gewesen wäre, ob ich tausend oder zehntausend Kilometer von zuhause fortgewesen wäre.
Meine erste Reise allein unternahm ich 1990, da hatte ich gerade mein erstes Semester an der Uni hinter mir. Eine Freundin ging als Au-pair nach Glasgow. Ich besuchte sie dort. Damals machte man solche Reisen noch nicht mit dem Flugzeug. Ich kaufte mir ein Interrail-Ticket und fuhr mit dem Zug von Hamburg nach Hoek van Holland, von dort mit der Fähre nach Harwich und dann weiter mit dem Zug. Insgesamt war ich mehr als vierundzwanzig Stunden unterwegs, diverse Umstiege und Verspätungen inklusive. In Glasgow tauchte ich in das Au-pair-Leben meiner Freundin ein, bekam den Alltag einer schottischen Upper class-Familie mit, ging in Ausstellungen, Cafés und Pubs und tanzte die halbe Nacht in einem Club.
Von Glasgow reiste ich weiter zu Freunden meiner Eltern, die in einem idyllischen Ort in den Highlands lebten. Einige Tage später quartierten sie mich wiederum bei Freunden von ihnen in Edinburgh ein, weil ich dort keinen Platz in der Jugendherberge fand. George war ein pensionierter Geistlicher, er und seine Frau Mary wohnten in einem georgianischen Stadthaus und erzählten jede Menge Anekdoten, unter anderem, wie sie im Urlaub in Österreich dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und seiner Familie begegnet waren. »Die Frau und die Söhne konnten recht gut Englisch, aber er sprach kein Wort.« Sie waren, wie alle Schotten, denen ich begegnete, humorvoll und warmherzig und umsorgten mich wie ihre Tochter – was mir natürlich irgendwann auf die Nerven ging, ich war jung und wollte die Welt entdecken und nicht bemuttert werden.
Also zog ich weiter, erst nach England, dann nach Frankreich, ständig auf der Suche nach Wärme und Sonne, was im März gar nicht so einfach war. In Biarritz tauchte ich ein in die Welt der Surfer, leider bei weniger Sonnenschein als erhofft. Den fand ich erst in der Provence, wo ich mich von verschlafenen Örtchen verzaubern ließ und in Aix-en-Provence auf den Spuren von Paul Cézanne wandelte.
Dann fand ich ein ganz billiges, besonders schmuddeliges Ein-Stern-Hotel, das trotz allem irgendwie seriös wirkte.
Meistens übernachtete ich in Jugendherbergen, in denen ich auf andere junge Menschen traf, die ein Stück Weg mit mir gemeinsam gingen, für ein paar Stunden oder Tage. Manchmal schlief ich auch im Zug, um die Übernachtungskosten zu sparen. In meinen Tagebüchern erzähle ich davon, wie ich mich immer mehr treiben ließ, wie das Reisen zur Selbstverständlichkeit wurde, wie ich neugierig Städte und Regionen erkundete und Pläne für kommende Reisen schmiedete.
In den achtziger und neunziger Jahren war das Rucksackreisen durch Europa extrem beliebt. Es gab eine ganze Jugendbewegung, die jeden Sommer per Interrail die Nachbarländer erkundete. Fernreisen machte fast noch niemand, selbst Flugreisen innerhalb Europas waren die Ausnahme. Heute kann ich mir selbst kaum noch vorstellen, wie wir damals reisten – ohne Internet und Handy, um uns Hilfe zu holen, uns zu informieren oder in einsamen Momenten die tröstende Stimme eines geliebten Menschen zu hören.
Ich notierte in meinem Tagebuch akribisch alle wichtigen Ereignisse. In den vier Wochen, die ich per Interrail unterwegs war, stand da nur ein einziges Mal, dass ich meine Eltern anrief. Ich erinnere mich sogar an den Moment, ich war auf irgendeinem Bahnhof in London, wo ich umsteigen musste. Telefonieren war teuer, für die Münzfernsprecher brauchte man die passenden Münzen, die in rasender Geschwindigkeit durch den Automaten rasten. Ich brüllte aufgeregt »Hallo, es geht mir gut, macht euch keine Sorgen« in den Hörer, für ausführlichere Berichte blieb keine Zeit. Wie sehr sich meine Eltern sorgten, weiß ich nicht. Es war ja normal, dass man unerreichbar war, sobald man das Haus verließ. Schnell eine WhatsApp schicken mit Fotos vom Eiffelturm, mit der Info, dass man sein Portemonnaie verloren hat (»Mama, was mach ich denn jetzt?«) oder der Bitte, doch mal die nächste Zugverbindung zu recherchieren, ist ein Luxus, den wir noch gar nicht so lange genießen. Aber ist es wirklich Luxus? Oder machen wir uns stärker voneinander abhängig? Verlernen wir dadurch, mit Unvorhersehbarkeiten umzugehen?
Wie ich auf meinen Reisen die Zugverbindungen quer durch Europa herausfand, weiß ich tatsächlich nicht mehr. Ich glaube, dafür gab es Kursbücher, die man mit sich herumschleppen musste. Die Jugendherbergen standen jedenfalls in einem entsprechenden Verzeichnis. Manchmal überließ ich die Weiterreise auch dem Zufall, fuhr einfach zum Bahnhof und schaute, welcher Zug als nächster fuhr. Irgendwie ging es, und es machte mich auf eine gewisse Art selbstständiger, weil ich aktiv Dinge organisieren und regeln musste, noch dazu in Fremdsprachen, die ich kaum beherrschte.
Per Interrail reiste ich nie wieder durch Europa, es ergab sich einfach nicht. Dafür unternahm ich andere Reisen. 1993 war ich erneut in Frankreich, diesmal mit Freunden. Wir fuhren im Auto durch das halbe Land bis zum Atlantik, am Schluss besuchten wir Paris. Ich erinnere mich an Zeltplätze in Pinienwäldern, gewaltige Dünen, viel Regen in Bordeaux und die höllischen Schmerzen einer Blasenentzündung. Und daran, wie ich mit meinem spärlichen Wortschatz telefonische Reservierungen auf den Campingplätzen vornahm. Ich hasste es, zu telefonieren, noch dazu in einer Sprache, die ich nur rudimentär beherrschte, aber meine Begleiter sprachen überhaupt kein Französisch, also blieb mir keine Wahl.
Unsere Ausrüstung war spartanisch, wir schliefen zu dritt in einem Zelt, hockten auf Isomatten auf dem Boden und aßen Fertiggerichte, die wir auf einem Gaskocher erhitzten. Abends rauchten die Jungs Pfeife und spielten Akkordeon und Mundharmonika. Wir blödelten viel herum, es gibt Fotoserien, auf denen wir seltsame Kopfbedeckungen tragen und am Strand akrobatische Übungen probieren. Wir lachten und stritten uns und ließen das Leben auf uns herniederprasseln.
An viele Momente dieser Reise erinnerte ich mich erst wieder, als ich alte Tagebücher und Fotoalben hervorkramte. Ich staunte, wo wir damals überall waren, was wir besichtigten und erlebten. Plötzlich hatte ich Bilder im Kopf, die jahrzehntelang verschwunden waren. Die Blasenentzündung hatte sich mir fest eingeprägt, aber einen Ausritt durch Pinienwälder, die Führung durch die Hennessy-Destillerie in Cognac oder die Besichtigung des Château de Chambord hatte ich komplett vergessen. Hätte man mich vor wenigen Wochen gefragt, ich hätte geschworen, das eindrucksvolle Renaissanceschloss noch nie gesehen zu haben. Interessanterweise erinnere ich mich an die Reisen, die ich allein unternommen habe, detaillierter. Vielleicht, weil ich die Erlebnisse mit niemandem teilen konnte. Ich erlebte Momente bewusster und hatte Zeit, sie nachhaltig zu verarbeiten.
Im Laufe der Jahre verschwand mein Fernweh, ich war nicht mehr auf der Flucht vor mir selbst und meinem Leben. Und ich hatte keine Lust mehr auf abenteuerliche Reisen mit ungewissem Ausgang. Mein Bedürfnis nach Ruhe und Erholung wuchs. Ich lernte die Vorteile von Pauschalreisen zu schätzen, vor allem, wenn ich allein unterwegs war. In meinem Alltag musste ich genug organisieren und regeln, das wollte ich nicht auch noch im Urlaub. Ich wollte gut schlafen, gut essen, wandern oder im Meer baden – und die Sonne genießen, die ich in Norddeutschland viel zu oft vermisste.
Kürzlich war ich wieder einmal in Frankreich unterwegs. Auch diesmal wollten wir eine Rundreise machen, der Liebste, der Hund und ich. Mir schwebte eine Art Revival meiner Reise vor fast dreißig Jahren vor. Doch mit Mitte fünfzig macht man anders Urlaub als mit Mitte zwanzig. Statt mit Auto und Zelt reisten wir diesmal in einem gemieteten Wohnmobil. Wir hatten eine eigene Küche und Toilette und gefühlt unseren halben Hausstand mit an Bord. Wir übernachteten auf Fünf-Sterne-Campingplätzen, die wie Hotelanlagen ausgestattet waren – parkähnlich angelegt, mit hübscher Poollandschaft und schicken, gepflegten Sanitäranlagen. So was gab es vor dreißig Jahren noch nicht. Und wenn, dann hätten wir es uns nicht leisten können. Damals war der Gang zur Toilette ein Abenteuer, auf das man gern verzichtet hätte.
Doch der Luxus nahm uns unsere Freiheit, das unförmige Wohnmobil bremste uns buchstäblich aus. Das Wetter spielte auch nicht mit. Wir erwischten alles, was man im September erwischen kann: Unwetter, Sturm und Kälteeinbrüche. Also änderten wir unser Programm und blieben die meiste Zeit auf einem Platz. Sightseeing fiel genauso aus wie Baden im Meer. Immerhin plantschte ich ein bisschen mit den Füßen in einem Fluss. Aber der Sinn eines Wohnmobils ist natürlich ein anderer.
Woran werde ich mich wohl in dreißig Jahren noch erinnern, wenn ich an diese Reise denke? An den Ententeich, der nach einem Unwetter auf unserem Stellplatz entstand? An das Bœuf bourguignon, das wir aus einer Aluschale aßen, während der Regen auf das Wohnmobildach trommelte? An den endlosen Marsch im Nieselregen an einer stark befahrenen kurvigen Straße ohne Bürgersteig? Vielleicht auch an die friedliche Morgenstimmung am Fluss, den Reiher auf einem Felsen, den aufsteigenden Nebel. Den Duft nach Thymian und Rosmarin bei einer Wanderung durch die felsige Landschaft. Den Spaziergang im Schlafanzug. Das Baden im Pool bei Sturm und 16 Grad Außentemperatur. Unsere uralten Latschen, in denen wir den ganzen Tag über den Campingplatz schlappten. Was wird bleiben? Der Ärger über das sperrige Wohnmobil? Das Lachen? Die Liebe? Die unschönen Gefühle oder die Glücksmomente?
Rückblickend wird dieser Urlaub vielleicht abenteuerlicher auf mich wirken, als ich ihn erlebte. Er wird sich einreihen in die vielen Urlaubserinnerungen und zu einer einzigen Erinnerung verschmelzen, einem »Weißt du noch, damals … wie jung wir da waren«. Irgendwann, wenn ich richtig alt bin und gar nicht mehr reisen kann. Aber das ist eine andere Geschichte, die noch längst nicht an der Reihe ist.
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