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My home is my castle

Von hellhörigen Nachkriegswohnungen, Nachbarschaft und Balkonidylle. Und von ihrem Bedeutungsverlust.

von Katharina Burkhardt

Es war Liebe auf den zweiten Blick, vielleicht sogar erst auf den dritten. Ein langgestreckter Wohnblock in einer schmalen Sackgasse, viergeschossig, roter Backstein, Nachkriegsbau. Ringsum kantige Wohn- und Büroklötze, wie zufällig hingeworfen, breite Hauptstraßen, nackte Kreuzungen. Altona-Altstadt wurde im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört. Allein bei den schweren Luftangriffen im Juli 1943 starben schätzungsweise 34.000 Menschen, 900.000 wurden evakuiert und verließen Hamburg. Dimensionen, die wir uns in Deutschland heute nicht mehr vorstellen können. Das Hafenviertel bestand aus uralten Gassen, in denen überwiegend Arbeiter lebten, aber auch aus prächtigen Flaniermeilen für das gehobene Bürgertum. Nach dem Krieg blieb von all dem kaum etwas übrig, was nicht zerbombt worden war, wurde abgerissen, um eine moderne Stadt zu errichten.

Die Wohnung befand sich im ersten Stock. An einer ausgetretenen Stufe im Treppenhaus war ein Schild angebracht: Vorsicht! Gebohnert! Die Tapeten waren vergilbt, die Dielen mit braunroter Farbe gestrichen. Im hinteren Zimmer gab es einen Ölofen, im vorderen gar keine Heizung. In den kleinen Wohnungen, in denen jetzt überwiegend Singles und Paare lebten, hatten in der Nachkriegszeit vierköpfige Familien gewohnt. Bei der Besichtigung brauchte ich viel Fantasie, um mir vorzustellen, nun ebenfalls hier zu leben. Doch in dem Jahr meines Einzugs wurde der gesamte Häuserblock saniert, ich zog in eine schmucke, helle Wohnung mit abgeschliffenen Dielenböden, modernem Bad und neuer Heizung.

Es war meine erste und einzige eigene Wohnung. Nirgendwo sonst wohnte ich so lange und nirgendwo allein. Dreiundzwanzig Jahre lang. Beinahe mein halbes Leben. Ich hatte nicht geplant, so lange zu bleiben, natürlich nicht. Mit einunddreißig denkt man nicht in solchen Dimensionen, da ist alles im Fluss und wandelt sich stetig. Man wechselt den Job, den Wohnort, den Partner. Ich ging davon aus, dass ich irgendwann mit meinem damaligen Freund zusammenziehen würde. Um uns herum heirateten alle und bekamen Kinder, auch für uns war es an der Zeit, fand ich. Mein Freund fand das nicht. Er saß an meinem Küchentisch und erklärte, dass er mich nicht mehr lieben würde. Meine Welt brach zusammen, alles geriet ins Wanken. In der Wohnung wurde es mir zu eng, ich erstickte in meinen eigenen vier Wänden. Es begann eine Zeit des Draußens. Bloß nicht zuhause bleiben, nur raus, fort, fliehen vor den eigenen Gefühlen. Am schlimmsten waren die Wochenenden. Wehe, ich musste sie allein verbringen! Sonntagsspaziergänge, auf denen man nur verliebten Paaren und glücklichen Familien begegnete – ein Albtraum. Aber allein in der Wohnung mochte ich auch nicht sein. Also reiste ich, trieb Sport, besuchte Freunde und Familie.

Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, wie viel Ruhe und Kraft ich in der Wohnung fand. Ich kannte bislang nur ein Leben in Gemeinschaft, erst in meinem Elternhaus, später in der Studentinnen-WG in Lüneburg. Nun entdeckte ich die Freiheiten des Alleinelebens. Niemand störte mich, wenn ich sonntags bis mittags im Bett blieb. Niemand verwüstete die Küche in meiner Abwesenheit oder verschlampte Dinge, die mir wichtig waren. Niemand blockierte das Bad, wenn ich dringend aufs Klo musste. Niemand fragte, woher ich kam und wohin ich ging, ich konnte das Haus verlassen, wann und wie ich wollte, den Fernseher an- und ausschalten, wie es mir beliebte, den ganzen Tag im Schlafanzug herumlaufen und endlose Telefonate führen, ohne dass jemand ungeduldig wurde. Es war das Paradies!

Das Haus war sehr hellhörig, in den Nachkriegsjahren hatte man billig gebaut. Ich hörte jedes Geräusch aus den Nachbarwohnungen. Das irritierte mich anfangs, erst allmählich gewöhnte ich mich an den Grundton des Hauses. An die knarzenden Dielen, das Rauschen der Abwasserleitungen, das Klappen der Haustür, die Schritte im Treppenhaus. Das Zusammenleben in so einem alten Mietshaus ist sehr intim. Man nimmt zwangsläufig am Leben wildfremder Menschen teil. Ich hörte ihre Musik, ihre Stimmen, ihr Gelächter und manchmal auch ihr Streiten. Ich hörte Leuten beim Sex zu und wusste, wann die Nachbarin über mir in die Kloschüssel pinkelte. Wenn sie durch ihre Wohnung lief, vibrierten meine Dielen. Wenn ich im Bett lag, nahm ich manchmal Zigarettengeruch wahr, gelegentlich auch Gras. Woher die Gerüche kamen und wie sie sich ihren Weg suchten, blieb mir schleierhaft. Mein Kontakt zu den Nachbarn war unterschiedlich. Zu einigen ergaben sich enge, wunderbare Freundschaften, von anderen wusste ich kaum den Namen. Einige wohnten nur kurz im Haus, andere noch länger als ich. Zuletzt waren wir durch einen seltsamen Zufall nur noch Frauen, eine Gemeinschaft, in der sich im Notfall alle gegenseitig unterstützten, auch wenn sie sich sonst nicht viel zu sagen hatten.

Im Sommer war der kleine Balkon vor der Küche mein zweites Wohnzimmer. Die Südwestlage war wunderbar, im Hochsommer hatte ich bis zum späten Abend Sonne. Ich stellte jeden Quadratzentimeter mit Blumentöpfen voll, eine Clematis rankte sich an der Backsteinwand empor, einmal hatte ich auch Erdbeeren, ein andermal Gurken. Und immer Kräuter, die im Juli und August so üppig wuchsen, dass ich sie trocknete oder einfror. In einem Sommer hatte ich einen Job mit Schichtdienst und kam manchmal erst spät abends heim. Dann setzte ich mich mit einer Caipirinha auf die Bank unter der Kastanie im Hof und lauschte dem leiser werdenden Rauschen der Großstadt. Manchmal saß ich auch morgens dort, wenn die Sonne sich zwischen den hohen Bäumen hindurchkämpfte, lauschte den Vögeln und war dankbar für diesen schönen Ort. Die Signalhörner der Schiffe, die in den Hafen ein- und ausliefen, hörte ich auch bei geschlossenem Fenster. Ich saß gern am Anleger, am liebsten morgens, wenn ich ihn für mich hatte, schaute den Schiffen hinterher und fragte mich, wohin sie fuhren, welche gewaltigen Strecken sie auf den Weltmeeren zurücklegten, während mein eigener Horizont begrenzt war.

Ein Balkon vollgestellt mit Töpfen voller blühender Blumen und Kräuter. Dazwischen eine grüne Gießkanne, in einem Topf eine Gartenschaufel.

Im Winter verkroch ich mich im Haus, der Westwind peitschte den Regen gegen die Fenster. Bei Kerzenschein und Musik lag ich auf meinem Sofa und verschlang Romane. Es war die Zeit des großen Lesens – und irgendwann auch die Zeit des selber Schreibens. Ich brauchte eine Weile, bis ich die richtigen Techniken und Methoden verinnerlicht hatte, um kreativ arbeiten zu können. Dann flossen die Gedanken von selbst, ich saß stundenlang am Rechner und vergaß alles um mich herum. Die Ruhe im Haus, gepaart mit dem bunten Leben außerhalb, inspirierte mich. Phasenweise arbeitete ich sieben Tage die Woche, manchmal bis zu zehn Stunden am Tag. Wenn ein Buchprojekt beendet war, gönnte ich mir eine längere Pause, verreiste oder ließ mich im Großstadtgetümmel treiben und fühlte mich königlich. Das war genau das Leben, von dem ich immer geträumt hatte.

Und doch bekam das alles eines Tages Risse. Ich stand auf meinem Balkon, schaute auf die Großbaustelle schräg gegenüber, der viele Bäume zum Opfer gefallen waren, war genervt vom Lärm, der in den vergangenen Jahren stetig zugenommen hatte, vom Dreck, der ebenfalls mehr wurde, und von Nachbarn, die sich seltsam benahmen. Viele Jahre war alles schön gewesen, mich hatte ein Gefühl von Heimat erfasst, sobald ich in die Sackgasse eingebogen war. Eine wundersame Entschleunigung fand statt, wenn mein Blick die Rosen in den Vorgärten streifte, das uralte Kopfsteinpflaster, die Blumen in den Balkonkästen. Ich blieb gern mal für einen Plausch mit den Nachbarn stehen.

Viele Leute kannte ich nur vom Sehen, auch sie waren mir vertraut. Der Mann, der die Obdachlosenzeitung vor Aldi verkaufte. Die Kassiererinnen bei Edeka, die mich wie eine gute Bekannte begrüßten. Der alte Mann, der immer einen Blaumann trug, auch dann noch, als er nur noch mithilfe eines Rollators laufen konnte. Er hatte ein fröhliches Lachen und saß gern auf der Bank neben der Telefonzelle. Irgendwann sah ich ihn nicht mehr, es hieß, er sei ins Heim gekommen und dort verstorben. Die junge Familie, beide Eltern hochgewachsen und mit langen Haaren, die mit dem Fahrrad durch meine Straße fuhren, vielleicht Künstler, auf jeden Fall kreativ. Ich sah ihre Söhne heranwachsen, erst fuhren sie im Kindersitz auf dem Rad mit, dann im Anhänger, später hatten sie ihre eigenen Fahrräder, mit denen sie sich erst wackelig, bald immer souveräner durch den Großstadtverkehr kämpften. Oder die Friseurin mit ihrem kleinen Salon, die in den Pausen auf High Heels mit endlosen Stiletto-Absätzen durch die Einkaufsstraße stöckelte. Inkasso-Harry, ein ehemaliger Zuhälter, vor dem alle kuschten, wenn er polternd durch den Edeka rauschte und ein Kilo Kalbfleisch orderte – »aber wirklich richtig gut, du weißt ja, was ich brauche«. Einmal hörte ich, wie er der Kassiererin nach Luft japsend erzählte, er habe Herzprobleme. Bald darauf wurde er tot in seiner Badewanne aufgefunden. Der bunt tätowierte Punk, dem ein Klamottenladen gehörte. Er starb ebenfalls plötzlich, vor dem Laden standen wochenlang Kerzen. Der Mann mit der Gitarre, der regelmäßig vor Ikea mit großer Leidenschaft und schiefer Stimme Rockklassiker zum Besten gab.

Überhaupt Ikea. Ich erinnere mich gut an die Proteste vor dem Start des ungewöhnlichen Bauprojekts mitten im Wohn- und Geschäftsviertel, an die Bedenken vieler Anwohner vor Verkehrschaos und Lärmbelästigung. Nichts davon trat ein. Schnell wurde Ikea zu Altonas Kantine, im Restaurant saßen Geschäftsleute neben türkischen Frauen, die grüppchenweise zum Kaffeeklatsch anrückten. In der Wohnzimmerabteilung hockten Leute mit ihren Einkaufstaschen auf den Sofas und ruhten sich aus, Schüler machten Hausaufgaben. In den Schaufenstern standen Sofas, auf denen sich gern Rentner niederließen und das Treiben in der Fußgängerzone beobachteten – wie lebende Schaufensterfiguren. Ich vermute, dass diese ungewöhnliche Ikea-Filiale kaum Umsatz macht, man sieht die Leute selten größere Dinge als Kerzen hinaustragen. Aber ein besseres Marketing könnte das Unternehmen kaum bekommen.

Ja, und dann verlor meine kleine Welt zunehmend an Bedeutung. Erst trieb mich die Liebe immer häufiger fort, dann gab die Pandemie meinem Spaß am Großstadtleben den Rest. Das Unvorstellbare wurde erst denkbar, schließlich konkret. Ich verließ Hamburg in Etappen, es war ein Abschied auf Raten, der sich über zwei Jahre erstreckte. Jedes Mal, wenn ich zu meinem Liebsten ins Saarland reiste, nahm ich Dinge mit. Zuerst Kleidung und Arbeitsunterlagen, dann Bücher, Fotos, Kleinkram. Ich kaufte Möbel und gestaltete mir ein gemütliches Arbeitszimmer in meiner neuen Heimat.

Die Hamburger Wohnung glich immer mehr einer Ferienwohnung – alles Persönliche verschwand. Ich vermietete sie mehrmals unter. Als ich der ersten Mieterin die Schlüssel aushändigte, schien es mir, als begehe ich einen Verrat an mir selbst. Ich überließ einer Fremden mein Zuhause, den Ort, an dem ich mich sicher und geborgen fühlte, meine Zuflucht in stürmischen Zeiten. Nach meiner Rückkehr war dieses Heimatgefühl verschwunden. Was mir lange Schutz und Geborgenheit geboten hatte, bereitete mir auf einmal Unbehagen. Auch in meinem Viertel gefiel es mir nicht mehr, die Schäbigkeit, die ich früher charmant gefunden hatte, wurde unerträglich. Alles hatte sich verändert, auch ich war nicht mehr die junge Frau, die voller Neugier und Begeisterung ins Großstadtleben eingetaucht war, morgens mit dem Fahrrad ins Büro fuhr, abends an der Elbe spazierte und nachts auf dem Kiez feierte. Ich sehnte mich nach Ruhe und Beschaulichkeit, nach Ordnung und Übersicht. Es war an der Zeit, endgültig Abschied zu nehmen und mich von vielem zu trennen, was für mich so lange von Bedeutung gewesen war. Doch das ist eine andere Geschichte.

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