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Irgendwo im Nirgendwo

Vom Maß aller Dinge, dem Rauschen der Großstadt, Sandalentagen und Provinzleben.

von Katharina Burkhardt

Das erste Mal reiste ich Ende der neunziger Jahre ins Saarland und besuchte eine Studienfreundin, die mit ihrem Mann nach Saarbrücken gezogen war. Ich erinnere mich an Zugfahrten durch schmale Täler in der Pfalz, an die zahlreichen Cafés und Restaurants am St. Johanner Markt und an sanfte Hügel mit Streuobstwiesen im Bliesgau. Wann immer ich heute am Saarbrücker Bahnhof stehe, denke ich an diese Freundin, an jugendliche Leichtigkeit, innige Gespräche und unsere Liebe zu den Islandpferden, die uns zahlreiche gemeinsame Urlaube bescherte.

Meine Freundin mochte das Saarland nicht sonderlich, ihr war vieles zu provinziell. Ich war durch und durch Großstadtpflanze und verstand gut, als sie mit ihrem Mann und den mittlerweile zwei Kindern nach einigen Jahren wieder fortzog. Ich muss lachen, dass ich nun selbst in dieser »absolut provinziellen« Gegend lebe, dass ich weiß, was ein Schwenker ist und eine Lyoner und dass die Saarländer die größten Maggi-Liebhaber auf der ganzen Welt sind. »Hauptsach gudd gess« ist ihr Lebensmotto – Hauptsache gut gegessen. Sie sind Genussmenschen wie ihre französischen Nachbarn, zum Essen gibt es gern einen Wein, die großen Weinanbaugebiete an der Mosel sind um die Ecke.

»Wo ziehst du hin? Nie gehört. Das muss ich erst mal googeln.« Saarländische Ortschaften stehen auf der Bekanntheitsliste deutscher Regionen nicht gerade weit oben. Die Hauptstadt Saarbrücken kennt man meistens noch, aber von Städten wie St. Ingbert, St. Wendel oder Saarlouis hat zumindest im Norden kaum jemand je gehört. Das Saarland ist höchstens ein Begriff als Maß aller Dinge, es wird gern als Referenzgröße verwendet. »Die Schweiz ist fast 16-mal so groß wie das Saarland.« Wer kennt diese Vergleiche nicht? Sie sind bekannter als vieles, was das Saarland zu bieten hat. Fast könnte man meinen, es hätte nicht mehr.

Wenn ich Freunde frage, ob sie mich mal besuchen kommen, winken sie ab. »Bisschen weit weg und gar nicht auf meiner Strecke.« Stimmt, das Saarland liegt im äußersten Südwesten, da kommt man nicht zufällig vorbei. Bis zur französischen Grenze sind es von uns nur zehn Kilometer, bis Luxemburg achtzig. Diese besondere Lage hat die Menschen geprägt. Das Saarland ist eine vergessene und irgendwie unterschätzte Region. Vielleicht liegt das daran, dass die Menschen hier eher bescheiden auftreten und die Schätze, über die sie verfügen, nicht so an die große Glocke hängen wie, sagen wir mal, die Berliner. Oder die Hamburger, die sich auch nicht gerade in hanseatischer Zurückhaltung üben, wenn es darum geht, ihre Stadt anzupreisen.

Hamburg kennen alle. Und viele waren sogar schon dort. »Das ist meine Lieblingsstadt. Sooo schön« , höre ich oft in meiner neuen Heimat, wenn ich erzähle, wo ich herkomme. Ich bin dann meistens etwas verwundert, denn die Saarländer lieben ihre Heimat über alles und betonen gern, in was für einer schönen Gegend sie leben. Man denke sich eine Vorstellungsrunde in einer x-beliebigen Gruppe, in der Menschen aus ganz Deutschland zusammenkommen: »Ich bin aus Hamburg.« »Ich komme aus Dresden.« »Ich aus Marburg.« »Ich komme aus St. Ingbert im wunderschönen Saarland.« Immer. Es ist fast wie ein Komplex, wie eine Art Rechtfertigung. »Wir haben ja sonst nix.«

Nun ja, im Vergleich zu Hamburg mag das Saarland tatsächlich etwas provinziell wirken. Aber das geht wohl vielen Städten und Regionen so. Hamburg, das ist die zweitgrößte Stadt Deutschlands. Das ist Hafen, Industrie, Medien und Kultur. Das ist Tourismusmagnet und beliebteste Stadt Deutschlands. Wer länger dort lebt, fühlt den Herzschlag der Hansestadt, dieses feine Rauschen, das nie aufhört, auch nachts nicht. Hamburg ist Wasser und viel Grün, aber auch zum Himmel schreiende Hässlichkeit. Es ist hanseatische Zurückhaltung und multikulturelle Aufdringlichkeit. Es ist Metropole und Dorf in einem.

Den größten Teil meines Lebens habe ich mittendrin gewohnt, nur wenige Gehminuten von Reeperbahn und Elbe entfernt. Meine Nachbarschaft war laut, bunt, dreckig, aber auch grün, herzlich und weltoffen. Ein gewisser Grad an Verkommenheit, der schon immer über dem Viertel lag, nahm in den vergangenen Jahren dramatisch zu. Die Armut ist vielen Menschen anzusehen. Und doch sind da nicht nur die Drogensüchtigen und Heimatlosen, die Verzweifelten und Ausgestoßenen. In dem Quartier zwischen St. Pauli und Ottensen leben Arbeiter und Angestellte, Akademiker, Künstler, Studierende. Viele haben einen Migrationshintergrund, sie brachten ihre Bräuche und vor allem ihre Küche mit. Dönerbuden und türkische Lebensmittelläden gibt es an jeder Ecke, man kann thailändisch, portugiesisch und griechisch speisen. Ein Auto brauchte ich nicht, selbst das Fahrrad ließ ich oft stehen. Ich hatte alles vor der Tür, vom Supermarkt bis zum Schwimmbad, ja, sogar Ikea. Einkaufen kann man im Quartier auch sonntags (im Bahnhof), Pizza bestellen bis Mitternacht, Party machen bis zum Morgengrauen. Der Hafen schläft nie, der Kiez mit den Bars und Clubs auch nicht. Irgendwo ist immer was los.

Park Fiction in St. Pauli. Menschen sitzen auf Kunststoffböden, Mauern und Bänken. Im Hintergrund fährt ein Kreuzfahrtschiff vorbei.

Am schönsten fand ich Hamburg im Alltag, an einem ruhigen Montag etwa, an dem ich den Fähranleger am Fischmarkt für mich allein hatte, auf einer Bank saß und Schiffe guckte, bis ich mich so entspannt fühlte wie nach einer Meditation. Wenn ich ziellos durch mein Quartier bummelte, die Seitenstraßen mit ihren blühenden Vorgärten und verwunschenen Höfen erkundete und in einem der zahlreichen Lokale einkehrte, in die sich selten Touristen verirren. Manchmal traf ich beim Einkaufen Nachbarn oder Freunde, dann fühlte ich mich wie auf dem Dorf. Überhaupt bedeutet Leben in der Großstadt hauptsächlich, dass man sich in seinem Quartier einrichtet, da, wo die Läden sind, in denen man regelmäßig einkauft, die Cafés, in denen man mittags isst und sich abends mit Freunden bei einem Bier trifft. Städter verabreden sich selten zuhause, man geht gemeinsam essen oder spazieren. Viele Wohnungen sind klein und haben keinen Balkon, da will man gerade im Sommer nach draußen. Kulturangebote gibt es im Überfluss, allerdings sind sie oft so teuer, dass man sie doch nur selten wahrnimmt. Dann lieber an die Elbe oder in einen Park. Ich bin ein großer Fan der Hamburger Parks. Die kultivierten Parklandschaften haben ein besonderes Flair, das Geordnete, Sortierte bringt Ruhe in mein Gehirn, weite Rasenflächen, gewaltige uralte Solitärbäume und bunte Blumenrabatten sind Erholung für die Augen inmitten städtischer Steinwüsten.

Wo man auch hingeht, man ist selten allein. In einer Millionenstadt ist immer irgendwer schon da, egal ob im Restaurant, im Park oder Schwimmbad. Mit diesen Menschen muss man sich arrangieren. Man muss aushalten, dass sie einem zu nahe rücken, in der S-Bahn zum Beispiel, in der man zu Stoßzeiten dicht an dicht steht. Oder auf den Spazierwegen an Elbe und Alster, wo an sonnigen Sonntagen die ganze Stadt unterwegs zu sein scheint. Manchmal herrscht ein derartiges Gedränge, dass ein Vorwärtskommen kaum möglich ist. Ich lernte im Laufe der Jahre, mit den Menschenmassen umzugehen, sie auszuhalten, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und ihnen aus dem Weg zu gehen, wenn ich sie nicht ertrug. Ich entdeckte Oasen abseits der Touristenströme, kleine Inseln, an denen die Brandung der Großstadt abprallte, die leise und besonders waren. Die Mischung aus bunter Vielfalt, Hektik, Lärm und sanfter Stille ist anstrengend. Aber sie wurde mir mit der Zeit so vertraut, dass ich mir lange nichts anderes mehr vorstellen konnte.

Und doch zog ich mit Mitte fünfzig fort. Ausgerechnet ins Saarland, das halb so viele Einwohner wie Hamburg hat, die sich auf mehr als der dreifachen Fläche verteilen. Anfangs war mir vieles so fremd, dass ich auch ins Ausland hätte gehen können. Manchmal stehe ich im Supermarkt an der Kasse und verstehe kaum ein Wort. Hier wird oft noch Platt gesprochen, und zwar nicht nur ein Dialekt, sondern in gefühlt jedem Ort ein anderer, das macht es nicht gerade leichter. Statt mit Backstein baut man mit Buntsandstein. Die Saar ist im Vergleich zur Hamburger Elbe ein Flüsschen und die Schiffe, die darauf fahren, sind winzig. Das Saarland ist katholischer und gläubiger als der Rest des Landes, jedenfalls statistisch gesehen. Darum ist ständig irgendein Feiertag. Hinter unserem Haus beginnt der Wald, von dem es hier sehr viel gibt. Beim Spazierengehen mit dem Hund treffe ich manchmal stundenlang keinen Menschen. Die Landschaft ist hügelig, teils bergig. Weite Ebenen, die mit dem Horizont verschmelzen, gibt es nicht. Wasser ist auch rar. Nirgendwo darf man baden. In der Saar nicht und in den Weihern auch nicht – Wasserschutzgebiet oder keine Badeaufsicht oder sonst was.

Das ist schade, denn das Saarland zählt zu den wärmsten Regionen Deutschlands. Die Sommer sind heiß und trocken, es ist permanent Badewetter. Ich liebe die vielen Sandalentage. Früher habe ich meine luftigen Sommerkleider hauptsächlich im Urlaub getragen. Jetzt haben sie Großeinsatz. In Hamburg sind die Sommer oft verregnet, windige neunzehn Grad sind die Regel, nicht die Ausnahme. Einmal unterhielt ich mich mit dem Liebsten und seinen Eltern übers Fahrradfahren. Alle waren sich einig, dass man bei Temperaturen unter zwanzig Grad keine längeren Touren machen dürfe. »Da kriegt man ja Rheuma.« Ich dachte daran, wie viel ich in Hamburg Fahrrad gefahren war, im Sommer und im Winter, bei weit unter zwanzig Grad. In der Oberstufe radelte ich täglich acht Kilometer zur Schule, weil ich Spaß daran hatte. Es gab auch einen Bus, den nutzte ich selten. Ich dachte an die Radtouren in meiner Jugend mit meiner Schwester durch Dänemark und Schweden. Ja, an manchen Tagen hatte es so viel geregnet, dass wir keine Lust zum Weiterfahren hatten. Aufgeben wegen Kälte war nie eine Option. Wir lebten mit dem rauen Wetter, den kräftigen Winden, den verregneten Sommern und nassen Wintern. Als der Liebste mich im Jahr unseres Kennenlernens im Spätsommer besuchte, riet ich ihm, eine warme Jacke und Mütze mitzubringen. Er lachte mich aus – bis wir bei typisch norddeutschem Schmuddelwetter an der Elbe spazieren gingen und der Wind uns um die Nase fegte. Die Mütze hatte er seitdem immer im Gepäck.

Wald mit hohen Nadel- und Laubbäumen, darüber blauer Himmel.

Das Saarland hat eine wechselvolle Geschichte, die überall ihre Spuren hinterlassen hat. Kohle und Stahl haben die Mentalität der Menschen über Generationen geprägt. Die ehemaligen Bergmänner und Stahlarbeiter sind bis heute stolz auf das, was sie geleistet haben und fühlen sich einander verbunden, obwohl die meisten ihrer Arbeitsplätze schon lange nicht mehr existieren. Geblieben sind Industriedenkmäler, Museen und uralte Arbeiterhäuschen. Nirgendwo sonst in Deutschland besitzen so viele Menschen ein Eigenheim. Vielen dieser Häuser sieht man an, dass ihre Besitzer zu alt sind oder kein Geld haben, um sie zu sanieren. Die Ortschaften wirken verschlafen, wie aus der Zeit gefallen. Das wilde, aufregende Leben scheint anderswo stattzufinden. Doch wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass das nicht stimmt. Es ist nur nicht alles so groß und laut und bunt wie anderswo. Dafür vielleicht mit mehr Charme. Persönlicher. Ehrlicher.

In Hamburg ist immer Lärm, selbst nachts. Der Hafen schläft nie, da wird rund um die Uhr gearbeitet. Jetzt bin ich umgeben von herrlicher Natur und viel Stille. Im Sommer schleichen Füchse durch unseren Garten, ich habe gelernt, ihr Bellen von dem der Rehe zu unterscheiden. Ich weiß auch, wie ein Waldkauz ruft und dass Fischreiher imposante Vögel sind (leider mögen sie unsere Goldfische sehr, das mögen wir wiederum gar nicht). Bei der letzten Gassirunde mit dem Hund treffe ich manchmal auf Wildschweine, die Wiesen und Waldwege zerwühlen und bis an die Gärten herankommen, sie sind eine Plage.

Leben in der Provinz bedeutet, dass die Leute sich auf der Straße grüßen, auch wenn sie einander nicht kennen. Es bedeutet weniger Vielfalt. Man trifft immer dieselben Nachbarn, Fremde fallen sofort auf. Menschen, die anders sind, auch. Die syrische Familie, die in der Straße wohnt, ist Gesprächsstoff, ebenso die bunt tätowierte Frau.
»Was ist da denn gerade für ein Auto vorbeigefahren?«
»Keine Ahnung.«
Ich falle bei solchen Fragen immer durch. Wer in einer Millionenstadt zu sehr auf Details achtet, wird wahnsinnig. Man lässt Passanten wie einen großen Strom an sich vorbeiziehen, Autos sowieso. Sonst droht massive Reizüberflutung. In der Provinz wird jede kleinste Veränderung nicht nur bemerkt, sondern auch thematisiert.
»Hast du gesehen, Frau Müller hat vergessen, ihren Gelben Sack vor die Tür zu stellen. Ob sie krank ist?«

»Sag nicht immer Provinz«, empört sich der Liebste. Ich bemühe mich um eine andere Ausdrucksweise. Dabei ist das gar nicht böse gemeint. Was soll ich sagen? Dorf? Da denkt man an Kühe auf der Weide, den Bauern, der Mist fährt, den Hahn, der morgens um fünf alle weckt. Das ist es aber nicht. Es ist ein verschlafenes Nest am Rand einer Mittelstadt, in dem es früher zahlreiche Geschäfte gab und ganz früher sogar Industrie, ein Hammerwerk. Geblieben ist davon fast nichts. Quer durchs Dorf führt ein uralter Handelsweg, den gab es schon zu Zeiten der Römer. Heute ist das eine hässliche Durchgangsstraße, die zusammen mit der Bahnlinie das Dorf in zwei Teile schneidet. Einige Häuser sind verfallen, schwer vorstellbar, dass da noch jemand lebt. »Die sahen schon in meiner Kindheit so aus«, sagt der Liebste, und ich frage mich, wie das sein kann. Da, wo ich herkomme, ist Wohnraum knapp, Grund und Boden sowieso. Aber Landflucht ist in Deutschland ein riesiges Thema. Wir haben es versäumt, die kleinen Orte attraktiv zu halten. Wenn nur einmal am Tag ein Bus fährt, wenn der nächste Supermarkt acht Kilometer entfernt ist, wenn es mit Arbeitsplätzen schwierig aussieht, überlegt man nicht lange, ob man bleiben will. Das Saarland scheint besonders unattraktiv geworden zu sein. In keinem anderen Bundesland schrumpft die Bevölkerung so stark.

Nur ich, ich bin hergezogen, in diesen kleinen Ort, der weder Dorf ist noch Stadt, irgendwas dazwischen. Ich bin vom Norden in den Südwesten gezogen, von der Großstadt an den Waldrand. Ich lebe jetzt irgendwo im Nirgendwo. Und das ist gar nicht mal so schlecht, in vielerlei Hinsicht sogar richtig schön. Doch das ist eine andere Geschichte.

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