Balance und Veränderung (1)
Ich kopiere die Seiten meiner Webseite, die bald meine alte sein wird. Beim (vorschriftsmäßigem) Bearbeiten zerschoss es ihre sämtlichen Formatierungen. Unreparierbar. Ein paar kosmetische Korrekturen, danach sah die Webseite etwas weniger fremd aus. Weiterhin sehr fern vom früheren Aussehen. Zu weit weg von einer neuen Idee, mit der ich gespielt hatte. Deshalb wird soul-of-metta.com in 2 Tagen ablaufen. Sie wurde keine zwei Jahre alt.
Meine Arbeitsgrundlage ist außer Balance geraten.
Meine Körper ist ebenfalls außer Balance geraten in den letzten Wochen. Zuerst war es der Fuß. Dann ein nachhaltiger Cocktail von Kleinkindkeimen.
Die Dysbalance im Arbeitsbereich verstärkte sich, es blieb so viel liegen. Das nagende Gefühl, nicht genug zu tun, erhöhte seinen Druck.
Die alte Webseite fand ich wunderschön. Ricarda Kiel (Öffnet in neuem Fenster), die mir entscheidend geholfen hat, sie in die Welt zu bringen, vergleicht Webseiten mit einem Garten. Etwas, das organisch wächst, auch mal ein bisschen schief und krumm sein und Wildwuchs aufweisen darf. Ein Garten, in dem Besucher*innen spazieren gehen und in überraschenden Ecken überraschende Dinge finden können. Meine Webseite war so ein Garten, der auch bettflüchtigen Menschen mitten in der Nacht Zuflucht bot.
Ich bin auch traurig über den Verlust. Eine Freundin, die ein paar Häuser weiter wohnt, lädt mich zu einem Abschieds Ritual an ihrem Feuerkorb ein. Vor drei Wochen war das eine schöne Idee für Anfang Juli. Jetzt: akute (Wald)Brandgefahr. Unsere Wiesen und Felder sind verdorrt. Eine befreundete Bio-Bäuerin erzählt, es lohne sich wirtschaftlich nicht, Getreide zu beregnen.
Mir bleibt nur ein Fragezeichen für die Landwirtschaftspolitik. Da ist schon lange sehr viel außer Balance geraten.
Ich bin nicht die einzige, die über Balance nachdenkt.
Maria Shriver schreibt in ihrem Editorial des jüngsten Sunday Paper (Öffnet in neuem Fenster), wie ihr nach einer Schwindelattacke von den Ärzten empfohlen wird, ihre Balance zu trainieren. „Stehen Sie eine Minute auf jedem Bein.“ Damit war die Aufgabe nicht zu Ende. „Behalten Sie Ihre Balance beim Vorwärtsgehen.“
An dieser Stelle fällt mir die Registerarie (Öffnet in neuem Fenster) des Leporello aus Mozarts Oper „Don Giovanni“ ein. Leporello führt für seinen Herrn eine Liste aller Frauen, die jener erobert hat. Die Liste ist nach Ländern geordnet. Ein paar 1000 Namen stehen darauf.
Wir könnten so eine schier unendliche Liste der Dysbalancen in der Welt erstellen. Da gehört gar nicht viel dazu und schon fangen wir an mit dem Aufzählen. Dysbalancen. Nach Ländern geordnet.
Wie bewältigen wir trotzdem die Aufgabe, Vorwärtszugehen UND die Balance zu halten?
Das Gute an der etwas langweiligen Tätigkeit, den Inhalt einer Webseite zu kopieren, damit die Texte nicht verloren sind: ich ernte die Fülle dessen, das ich in den letzten 2 ½ Jahren geschaffen habe.
Ich freue mich an meinen eigenen Gedanken, Worten, Ideen. Ich sehe den Pfad, den ich teilweise mühsam ertasten musste, als ich mich entschlossen hatte, ein weiteres Mal aufzubrechen. Ich kann das, was ich erreicht habe, in dieser Fülle anders wertschätzen. Ich sehe nicht nur, was es alles noch zu tun gilt. Ich weiß plötzlich, es ist gut, es ist wichtig, auch wenn ich keine Siebenmeilenstiefel trage.
Währenddessen: die Linden in der Dorfstraße singen. Als ich die Melodien zum ersten Mal höre, schaue ich mich nach dem Lautsprecher um. Ich erinnere mich vage an eine Kunstausstellung, in der aus Lautsprechern Brummgeräusche klangen. Auf der Dorfstraße sind in keiner Ecke Lautsprecher montiert. Ich muss länger suchen, bis ich sie sehe, die Vielzahl der Hummeln, Bienen und Wespen, die zwischen, unter und in den Lindenblüten brummeln, torkeln, verschwinden.
Shriver erzählt, wie sie ihre Leben lang hinter der Balance herlief, sich unausgeglichen, nicht erfolgreich und nicht gesehen fühlte. Bis sie herausfand: Balance ist ein Inside Job.
Auch wenn wir sie üben und wissen, wie wir auf einem Bein stehen, können wir jederzeit die Balance verlieren.
Ich muss weinen, als ich lese, wie Shriver ihre Reaktion auf die Entscheidung Roe v. Wade beschreibt. Überwältigung durch Verzweiflung in allen möglichen körperlichen Reaktionen und gedanklichen Facetten.
Ich weine, weil die Welt in Lager zerfällt. Immer wieder. Immer noch.
“How to Keep your Heart Open in Hell” ist die eine Medizin, die Shriver gegen die Überwältigung durch Verzweiflung findet. Den Vortrag von Ram Das (Öffnet in neuem Fenster)s, dessen erste Worte lauten:
One of the things that changed in me is that I fell in love with the universe. And it’s hard to talk about it,
kannst du hier (Öffnet in neuem Fenster) (auf Englisch) anhören.
Ist es möglich, diese Welt zu lieben, mit ihren Ungerechtigkeiten und der Gewalt und den Bedrohungen, die uns nicht wirklich nahe sind, weil sie nicht in unserem Land stattfinden, die uns dennoch betreffen, weil wir mitfühlende Wesen sind?
What is in the one is in the whole
Ist einer der Lieblingssätze von Caroline Myss (Öffnet in neuem Fenster).
Vielleicht können wir die Welt nicht so lieben, wie Ram Dass es vermochte. Doch könnten wir zumindest ein bisschen zum Lieben der Welt beitragen.
Zum Beispiel könnten wir singende Lindenbäume lieben.
Oder den Mond in seiner Regelmäßigkeit am Himmel.
Oder, in Ermangelung des Mondes, die Straßenlaterne beim Hauseingang.
Oder die Möglichkeit, ein anderes als ein Feuerritual zu finden, damit nichts abbrennt.
Die Menschen vom Stamm der Turkana in Kenia gehören zu den Meistern im Umgang mit Dürre. Seit Jahrhunderten leben sie mit Trockenperioden. So schlimm wie jetzt war es allerdings noch nie. Die Zeit vom 7. April 2022 – Warten auf die Wasserernte - berichtet vom ansteckenden Elan, mit dem die Turkana „ihre Lebensweise umkrempeln“. Trotzdem es kaum mehr was umzukrempeln gibt, tun sie alles, um ihre Balance den Umständen anzupassen. Mit Elan!
Die Kunst, die Balance immer wieder herzustellen, ist eine Kunst der Liebe.
Liebe zum Land. Zu den Tieren. Zum Wasser. Zur Art, frei zu leben im Einklang mit dem, was ist. Ich glaube, ohne Liebe könnten die Turkana keinen Elan finden. Nur noch einmal am Tag essen zu können, dürfte keinen so großen Elan beschweren. Die Liebe aber kann das.
Großartige Begleiterinnen beim Lieben der Welt sind die Dankbarkeit und das ehrfürchtige Staunen.
Über diese Begleiterinnen schreibe ich mehr im nächsten Freitagsbrief.
Inspire hearts and minds. Live your wildly authentic life. Move humanity forward.
Das ist der Slogan von Maria Shrivers Sunday Paper.
Finde ich ein ganz großartige Rezept!!
Veränderung (in eigener Sache)
Wenn du mir bis hierhin gefolgt bist, hör noch nicht auf zu lesen. Denn jetzt geht es um die Veränderung, die ja auch im Titel steht.
Ich verbringe den größten Teil meiner Arbeitszeit mit den Freitagsbriefen und einen Teil auch mit meinen Anstiftung zur Freude Mittwochsbriefen. Ich liebe diese Arbeit und weiß, ja, genau das will ich tun. Denken, lesen, die Welt betrachten. Darüber schreiben. Andere Menschen inspirieren. Freudefunken versprühen. Hoffnungssamen säen.
In den letzten Wochen habe ich immer mehr Druck empfunden, dass ich viel zu wenig arbeite. Dabei ist mir klar geworden, das liegt einfach daran, dass ich den Großteil meiner Arbeitszeit kein Geld verdiene. Und dass diese kostenlose Arbeit auch noch Ressourcen verbraucht, die ich selbst finanziere. Mailprogramm. Bücher. Strom. Virtuelle Assistenz für die technischen Kniffeleien, die ich nicht hinbekomme.
So kann ich mich nie wirklich zurücklehnen. Sondern es muss immer mehr sein. Denn irgendwoher muss das Geld ja kommen, mit dem ich die SOLAWI, die mein Gemüse produziert, unterstütze, mein Haus am Laufen halte und Katzenfutter kaufe. Etc. etc.
Ich habe die Möglichkeit gefunden, die Freitagsbriefe auf der Plattform Steady zu registrieren. Steady hat für kreative Menschen ein Mitgliedschaftmodell entwickelt, mit dem alle, die ein Projekt gut finden, dieses unterstützen können.
Ich kann dem sehr viel abgewinnen, seit ich mein Gemüse von der SOLAWI beziehe.
Ich hatte einen Haufen Zweifel, dass ich das nicht machen kann, die Freitagsbriefe in ein Mitgliedschaftsmodell umwandeln. Dann habe ich mit einer Reihe von Abonnentinnen gesprochen, die mir sagten, sie freuten sich darauf, mich finanziell zu unterstützen.
Ja, denke ich. Das würde auch mich sehr freuen. Ein Geben-Geben. Ich könnte mich viel entspannter meiner Freitagsbriefe Arbeit widmen. Müsste nicht immer darüber nachdenken, dass es nicht genug ist. Hätte im besten Falle ein weiteres finanzielles Standbein. Im weniger guten zumindest meine Kosten gedeckt. Hurra!
Vielleicht hast du Lust, dabei zu sein. Das kannst du schon für € 3 / Monat. Mehr Infos findest du hier (Öffnet in neuem Fenster) (du musst ein bisschen herunterscrollen, um die Infos zum Mitgliedschaftsmodell zu finden).
Weiterhin und ewig kostenlos wird es die Anstiftung (Öffnet in neuem Fenster) zur Freude Newsletter geben.
Außerdem veröffentliche ich alle paar Wochen einen aktuellen Freitagsbrief auf meiner neuen Webseite eva-scheller.de (Öffnet in neuem Fenster).
Auf diese Weise sind wir weiterhin in Kontakt, auch wenn du keine Mitgliedschaft der Freitagsbriefe erwerben willst.
Wenn du dich für eine Mitgliedschaft interessierst, klicke hier (Öffnet in neuem Fenster).
Ansonsten ist der Freitagsbrief vom 15. Juli der letzte, der außerhalb des Mitgliedsmodells versendet wird. Noch ein Abschied für die Feuerschale, der ohne Feuerauskommen muss.
Ich freue mich weiterhin, von dir zu hören: eva-scheller.de.