Balance und Veränderung (2)
An einem Samstag klopft und kratzt es in meinem Haus. Ich verdächtige die Katze. Die schaut mich aus sehr runden Augen an und stellt die Ohren auf. Auch sie ist irritiert. Die Geräusche lokalisiere ich schließlich im Kamin. Irgendetwas ist da eingeschlossen.
Mich gruselt. Ich erinnere mich an schwarz-weiß Filme, in denen böse Ehemänner ihre Frauen durch seltsame Ereignisse (flackerndes Licht! Telefonanrufe!) um Verstand oder Leben bringen wollen. Ich sehe Gary Grant, der ein Glas Milch (Öffnet in neuem Fenster) die Treppe hochträgt.
Gift oder Medizin?
Ich bemühe mich, die Türen und Fenster zu meinem Gruselkabinett wieder zu schließen.
Schließlich kommt ein Freund mit dicken Handschuhen, die ihn wappnen gegen alles, was im Kamin sitzen könnte.
Shundo Aoyama erzählt in dem Buch (Öffnet in neuem Fenster)„Zen im richtigen Leben“ von einer jungen Frau, die für eine 3-tägige Sitzmeditation Zuflucht in ihrem Kloster gesucht hatte. Die Äbtissin sieht sie in perfekter Haltung meditieren, sieht die Ruhe und die Kraft in dieser Haltung. Hofft, „der Aufruhr und die Wogen in ihrem Herzen“ mögen sich wieder glätten.
Am Abend des zweiten Tages versucht die junge Frau, sich das Leben zu nehmen.
Fast unmittelbar nachdem ich die Geschichte gelesen habe, höre ich beim Autofahren Ingo Metzmacher im Gespräch mit einer NDR-Kultur Redakteurin. Die Sendung (Öffnet in neuem Fenster)dreht sich um den deutschen Komponisten Bernd Alois Zimmermann (Öffnet in neuem Fenster), der im Alter von 52 Jahren Selbstmord beginn.
An einer Stelle fragt die Redakteurin Metzmacher, wie das zusammen gehe, die immer wieder auch humorvolle Musik Zimmermanns und sein Selbstmord. Zögernd tastet Metzmacher nach einer Antwort. Wiederholt, es sei schwierig, darüber zu sprechen. Bemerkt, wir seien nie in nur eine Richtung gestimmt. Gibt zu bedenken, für denjenigen, der sich das Leben nehme, sei Selbstmord ein lebenslanges Thema gewesen.
Ich bin dankbar für das Tasten und Zögern im Versuch, eine eigentlich unsinnige Frage zu beantworten. Offenbar geht es zusammen. Humor beim Komponieren und Lebensverzweiflung. Perfektes Sitzen im Zazen und Hoffnungslosigkeit inmitten einer Lehre, die Freiheit von Leiden verspricht.
Bevor Menschen sterben, haben sie ein Leben gelebt, in dem sie fröhlich waren und gelacht haben, selbst wenn sie Lachen und Fröhlichkeit eher selten als Gäste begrüßen durften. Es gibt sie immer, diese Gäste. Manchmal ist es nur eine Frage der Erinnerung.
Ich weiß, das fühlt sich sehr anders an, wenn wir am Boden eines Kaminschachts festsitzen und nicht ein noch aus wissen. Deshalb gehört es in der Arbeit mit meinen Klient*innen zu meinen Aufgaben, sie immer wieder zu erinnern, dass es Verbindungen jenseits der Mauern gibt, Verbindungen zu dem, was nährt, was hilfreich, was heiter ist. Ich verstehe mich auch als innerer Cheerleader. Doch braucht es dafür ein Resonanzfeld, in dem die Botschaft, was jenseits der Mauern liegt, überhaupt gehört werden kann
Ganz egal, wo wir geboren wurden, welche Sprache wir sprechen, was in unserem Geldbeutel steckt. Ganz egal, wie unsere weltanschaulichen Überzeugungen und unser Beziehungsleben aussehen.
Das ist der lebenslange Job, den wir alle als Aufgabe mitbekommen haben: Balance herstellen. Das Resonanzfeld öffnen für das, was es noch gibt außerhalb dessen, was mich in meiner Welt gerade beschäftigt, verblendet, hält oder niederdrückt.
„Balance ist ein bewegliches Ziel,“ schreibt Robin Wall Kimmerer in „Süßgras flechten“. (Öffnet in neuem Fenster)
„Balance ist nicht ein passiver Platz der Ruhe – das Geben und Nehmen, das Herauskratzen und Hinzufügen erfordert Arbeit“.
Während ihres zwölf Jahre währenden Versuchs, den von Algen überwachsenen Teich auf ihrem Grundstück in einen klaren Schwimmteich für ihre Töchter zu verwandeln, lernt Kimmerer eine Menge über Balance. Ihre Lehrer sind die Algen, das Seegras und die Tiere, die im Teich und in den Algen leben.
Sie lernt, dass ihr Bemühen, eine gute Mutter zu sein, die ihren Kindern den Wunsch nach einem Pool erfüllt, mit den Wünschen anderer Lebewesen kollidiert. Als sie einen schweren Algenvorhang ans Ufer zieht, entdeckt sie die Kaulquappen, die darin leben.
In dieser Weise hat jede unserer Handlungen Konsequenzen. Balance ist ein interner Job, dessen Gelingen sich auch im Außen zeigt. Und zwar daran, wie das Außen mit uns leben kann. Ob das Außen mit uns leben kann. Natürlich müssen wir uns auch immer wieder entschließen, mit dem Außen leben zu wollen.
Aoyamas Geschichte über die junge Frau, die im Kloster Heilung sucht und aufgibt, hat mich lange beschäftigt. Eine Freundin hat mir einmal gesagt, du kannst nicht alle retten.
Tatsächlich glaube ich, niemanden retten zu können. Was wir füreinander tun können, sind Angebote. Manchmal fallen Impulse auf fruchtbaren Boden. Manchmal nicht. Manche Samen sind jahrelang in der Erde, bis sie aufgehen.
Balance und Veränderung gehören zusammen wie zwei Seiten einer Münze. Balance braucht Flexibilität und ein Austarieren. Die Hochseilartistin kann nur auf dem Seil tanzen, wenn sie ihre Bewegungen dem anpasst, was gerade erforderlich ist. Das ist jedes Mal anders. Das lässt sich nicht im Voraus berechnen.
Kein Leben lässt sich im Voraus berechnen. Kein Leben lässt sich vom Ende her erklären.
Als junge Frau habe ich ein paar Wochen lang wie besessen über Selbstmord nachgedacht. Unter philosophischen und unter tatsächlichen Gesichtspunkten. Ich erinnere mich, wie ich durch die Dünen- und Steglandschaft einer norddeutschen Insel stapfte und mein Kopf endlose Litaneien herunterratterte.
Eine Seite meiner Familie hatte sehr viel mit Tod und Verderben zu tun. Davon habe ich erst viel später erfahren. Ein Tabu schweigt, obwohl alle wissen. Ein Tabu ist das Gegenteil von Balance. Anstelle von Flexibilität fordert es Rigidität in bis in die letzte Konsequenz. Und wenn es mich das Leben kostet, schwingt als Gelübde mit.
Das Tänzerische, das Veränderliche, das aufblüht, vergeht, von Neuem blüht, vergeht usw., das benennt, tastet, zögert, nicht weiß, ist das Gegenteil von Kontrolle. Meine Familie konnte sich keine Form von Balance leisten in der Selbstverpflichtung des „Darüber-Spricht-Man-Nicht“.
Balance ist eine Kunst der Freundlichkeit.
Ohne Freundlichkeit uns selbst gegenüber, müssten wir verzweifeln, wenn wir unseren Beitrag zur Disbalance in der Welt anschauen.
Ohne Freundlichkeit allen fühlenden Wesen und auch der Erde gegenüber, die uns nährt, würden wir wahrscheinlich weniger bis gar nicht motiviert sein, auf Balance zu achten.
Ich glaube, das ist tatsächlich ein extrem schwerer Job, die Balance.
Der Star, der auf dem Boden meines Kamins gelandet war, hatte offenbar auch ein Thema mit der Balance. Er beschimpfte seinen Retter wild, flatterte ein bisschen in meiner Küche herum, fand schließlich nach draußen. Die junge Frau in Aoyamas Kloster wurde ebenfalls rechtzeitig gefunden und gerettet.
Ich glaube, die meisten Menschen haben Glück mit dem Überleben, selbst wenn die Balance zwischendurch abhandenkommt.
Was uns bei der Balance zur Seite stehen kann, darüber hatte ich eigentlich gemäß der Ankündigung im letzten Freitagsbrief (Öffnet in neuem Fenster)schreiben wollen. Nun bin ich weiter auf den Spuren von Balance und Veränderung herum mäandert. Das für heute geplante Thema gibt es also erst in 2 Wochen. Und also gibt es auch den Freitagsbrief vom 29. Juli noch einmal für alle Abonnent*innen.
Ansonsten gilt zum Thema Veränderung, falls du es letzte Woche nicht gelesen hast:
Ich habe die Freitagsbriefe auf der Plattform Steady registriert. Steady hat für kreative Menschen ein Mitgliedschaftsmodell entwickelt, mit dem alle, die ein Projekt gut finden, dieses unterstützen können.
Ich hatte viele Zweifel an dieser Entscheidung. Und habe so viel Zuspruch bekommen aus allen möglichen Richtungen. Tatsächlich fühle ich mich großartig und von viel Druck befreit. Plötzlich habe ich einen anderen inneren Raum für meine Freitagsbriefe. Und denke vermehrt über freundliche Ökonomie nach. Über Geben-Geben. Was wiederum mein Nachdenken über Balance beeinflusst.
Vielleicht hast du Lust, dabei zu sein und meine Arbeit durch deine Mitgliedschaft zu unterstützen. Das kannst du schon für € 3 / Monat. Mehr Infos findest du hier (Öffnet in neuem Fenster) (du musst ein bisschen herunterscrollen, um die Infos zum Mitgliedschaftsmodell zu finden).
Weiterhin und ewig kostenlos wird es die Anstiftung (Öffnet in neuem Fenster) zur Freude Newsletter geben.
Außerdem versende ich alle paar Wochen einen aktuellen Freitagsbrief an alle, den ich dann auch auf meiner neuen Webseite eva-scheller.de (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlichen werde.
Auf diese Weise sind wir weiterhin in Kontakt, ganz unabhängig davon, ob du eine Mitgliedschaft der Freitagsbriefe erwerben willst.
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Ich freue mich, von dir zu hören: eva-scheller.de