April // Agnès Varda
Gibt es etwas Intimeres als das Gesicht? Ich frage mich das selbst andauernd. Für jeden wird wahrscheinlich ein anderes Körperteil das intimste sein - üblicherweise und biologisch betrachtet haben wir ganz bestimmte Stellen entschieden zu bedecken, und das ist natürlich verständlich. Nichtsdestotrotz ist es gerade dieser Teil, den wir eigentlich nie verdecken, in unserem kulturellen Kreis zumindest, und dies ist für mich der Ort, oder besser das körperliche Gebiet, das die größte emotionale Ladung in sich trägt, so nackt ist - und wenn das so ist, dann bringt er eine Art Intimität durch die Aufzeichnung der persönlichen Geschichte.
Angefangen bei den Genen, bis hin zu den über die Jahre gesammelten und zum Ausdruck gebrachten Emotionen, die ein sehr persönliches Alphabet auf es schreiben, manchmal sogar eintätowieren. Es bewegt mich jedes Mal, wenn ich einen anderen Menschen in einem normalen Gespräch treffe, und es rührt mich auf einer tiefen Ebene, wenn ich Menschen porträtiere. Das Gesicht eines Menschen ist für mich eine Art von Tempel, ich respektiere diesen Ort im Menschen und bin immer noch daran interessiert. Dieses Element habe ich auch in den Werken von Agnès Varda gesehen. Die Rührung und Zärtlichkeit, die sie Menschen und ihren Geschichten entgegenbrachte, wurden zu ihrer erkennbaren Filmsprache. Etwas Einzigartiges und Unverwechselbares. Es ist lustig, denn als sehr eklektische Schöpferin, die sich von festgelegten Konventionen abwendet, einfach direkt den Menschen und deren Geschichten folgt, wie in einem Dokumentarfilm, hat sie im Laufe der Zeit dennoch eine einzigartige künstlerische Sprache entwickelt, indem sie jegliche stilistischen Schubladen vermied. Gleichzeitig war sie ihrer dreistufigen Ethik bei der Arbeit am Film treu, die lautete: inspirieren, kreieren und teilen. Das ist schön und ehrlich.
Wer mein Projekt Follow Women und meine anderen Illustrationsaktivitäten kennt, weiß, dass das Porträt mein Ausdrucksmittel ist, mein Element, mein Raum für Geschichten. Ich habe das von Kindheit an. Jeder von uns hat das, nur vergessen. Die Fähigkeit, aus den Gesichtern der Menschen zu lesen, war nötig, bevor uns die Worte offenbart wurden. Zuerst verstanden wir den Gesichtsausdruck, bevor wir verstanden haben, was das Gesicht uns sagen wollte. Ein Überlebensmechanismus, eine Art interessanter Atavismus. Es blieb mir einfach - oder ich wollte es einfach nie verlieren und machte es zum Beruf.
Aber wenn ich euch erzählen müsste, warum ich mich von Agnès Varda für die April-Kalenderkarte inspirieren ließ, wäre es genau das - das Kino von Agnes porträtierte den Menschen auf authentische Weise - klingt wie eine Floskel, aber ich versuche es zu vertiefen…: Agnès Varda näherte sich dem Menschen, porträtierte ihn, auf eine wörtliche und metaphorische Weise - vielleicht identifiziere ich mich deshalb so sehr mit ihrer Art zu kreieren, fühle eine Art Nähe zu ihrer Sensibilität, Verständnis und Übereinstimmung auf kreativer Ebene.
Um mein Wissen über ihr Kino zu vervollständigen, stieß ich auf einige Dokumente, die es mir ermöglichten zu verstehen, was diese außergewöhnliche Schöpferin geformt hat, die heute noch ein Symbol des unabhängigen französischen Kinos der Nouvelle Vague und einer gewissen kompromisslosen Haltung in der Schöpfung ist. Agnès Varda war eine eklektische Künstlerin, aber dadurch sehr unabhängig und vielfältig. Sie begann ihre Reise mit Fotografie, wodurch die Aufnahmen, die sie filmte, Elemente dieser Erfahrung in sich trugen - dieser in einem Bild festgehaltene Moment, obwohl das Kino kein statisches Erlebnis ist. Varda kam dem Menschen sehr nah, so nah - wie in einem Porträt. Sie hielt das Gesicht im Fokus, die Emotionen, die die Struktur der Haut und die Veränderung der Gesichtsmuskeln widerspiegelten. Voll Fantasie und frei spielte sie mit dem Kino und der Erzählung, wie ein Kind, inszenierte filmische Akte, führte Metaphern, Symbole, Musik und Bewegung ein, kehrte dann wieder zu Gesichtern und Geschichten auf dokumentarische Weise zurück, fand darin etwas, was wir übersehen könnten.
Als Wegbereiterin der Nouvelle Vague besaß sie Unkonventionalität, Eklektizismus, Experimentierfreude und vor allem ein begrenztes Budget, was zu einer sehr originellen, persönlichen Sprache der Schöpfung führte, geprägt von Freiheit und Risiko. Ich würde sie als eine begleitende und beobachtende Regisseurin bezeichnen: So führte sie die Kamera und darin steckte viel außergewöhnliche Empathie und Aufmerksamkeit. Dies ist kein moralisierendes Kino, Varda behandelt den Zuschauer ernsthaft, teilt ihre Empfindsamkeit, erzählt eine Story, die erzählt werden soll, und weiß, dass sie keine Interpretation aufzwingen muss, dass sie keine Eindeutigkeit als zweifelhaftes Ausdrucksmittel verwenden muss. In Vardas Werk finde ich so viel Zärtlichkeit für den Menschen: "Im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit stehen echte Menschen" sie selbst erwähnte übrigens in Interviews häufig, dass "Film Mitgefühl und Liebe braucht" .
Es fällt mir schwer zu entscheiden, welches Bild aus ihrem Werk ich am meisten mag, aber ich muss zugeben, dass das Selbstporträt, das sie sich in "Varda by Agnès" geschaffen hat, besonders einprägsam ist, obwohl es eine Art spezieller, persönlicher Collage ist und darin liegt vielleicht eine universelle Wahrheit über uns allen, wir sind eine Art Collage, bestehend aus persönlichen Fragmenten der Erinnerung.
Als Abschluss für diesen Newsletter über Agnès Varda lasse ich ihre Antwort auf die ihr gestellte Frage, warum sie genau solches Kino macht, stehen:
"Weil ich so neugierige Augen habe."
Oh, wie sehr ich mich in diesem Satz wiederfinden kann.