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Werkstatt-Post Nr. 11

Liebe Mitglieder,

bei den Vorbereitungen auf meine Kabarettprogramme stoße ich immer wieder auf spannende Gedanken anderer Menschen, wissenschaftliche Thesen oder auch historische Hintergründe, die es letztendlich nur stark verkürzt auf die Bühne schaffen; zum einen wegen der zeitlichen Begrenzung der Veranstaltung, zum anderen, um zu verhindern, dass der Abend stellenweise zur Vorlesung verkommt.

Mit dieser Werkstatt-Post schicke ich euch nun eine ausführlichere Version von Überlegungen, die sich durch das aktuelle Programm “Durchbruch” ziehen. Das ist sehr viel trockener als das, was auf der Bühne passiert, enthält aber einige interessante Details sowie eine Verlinkung zu der experimentellen Studie, die ich im Programm mit Unterstützung des Publikums nachzuvollziehen versuche. Außerdem beschäftigt sich der Text mit einer (in dem Fall titelgebenden) Frage, die die Kunstform des politischen Kabaretts seit jeher begleitet.

Der Text lässt sich übrigens unabhängig davon lesen und verstehen, ob man das Programm bereits gesehen hat.

Herzliche Grüße aus der Wörterwerkstatt sendet

Michael Feindler

Was kann Kabarett bewirken?

Eine Theorie-Ergänzung zum Bühnenprogramm “Durchbruch”

Bei einer Kunstform, die sich selbst als politisch versteht, stellt sich automatisch die Frage, ob sie politisch etwas bewirken kann – und wenn ja, in welchem Rahmen und mit welchem Anspruch. Als ich mein Kabarettprogramm „Durchbruch“ schrieb, wollte ich genauer wissen: Wie groß ist die Chance, dass ich mit dem, was ich auf der Bühne mache, zumindest einzelne Meinungen und Sichtweisen im Publikum verändere?

Um es kurz zu machen: Die Chance ist denkbar gering. Sie tendiert gegen Null. Das hängt an erster Stelle mit der Zusammensetzung des Publikums zusammen. Karten für eine solche Veranstaltung kaufen sich hauptsächlich Menschen, die davon ausgehen, dass die Person auf der Bühne ähnliche Ansichten vertritt wie sie selbst. Somit trägt Kabarett weniger zum Perspektivenwechsel bei als zur Bestärkung bestimmter Perspektiven. Das ist nicht zwingend problematisch. Um für seine Werte selbstbewusst eintreten zu können, braucht es immer wieder eine Selbstvergewisserung und das Gefühl, mit seinen Einstellungen nicht allein zu sein. Diese Funktion erfüllen aktuell auch die Demonstrationen von Hunderttausenden, die gegen rechtsextreme Tendenzen auf die Straße gehen. Dadurch werden zwar keine unmittelbaren politischen Veränderungen angestoßen, es stabilisiert jedoch das demokratische Bewusstsein einer Gesellschaft, wenn sich Menschen gegenseitig darin bestärken, für eine wehrhafte Demokratie einzustehen.

Aber was ist mit der Gegenseite? Mit denjenigen, die zuvor klar gezeigt haben, dass sie eine konträre Haltung vertreten? Lassen sich diese Menschen irgendwie von anderen Ansichten überzeugen, wenn sie bei einer Veranstaltung – sei es jetzt auf einer Demonstration oder auch im Kabarett – mit stichhaltigen Gegenargumenten konfrontiert werden?

Nein.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema sind ernüchternd. Im Grunde spricht alles dagegen, dass sich Menschen mit der Kraft des reinen Arguments von einer politischen Position abbringen lassen. Warum das so ist, liegt in der Funktion unseres Gehirns begründet, dessen wichtigste Aufgabe es ist, unser Überleben zu sichern. Das heißt, es muss alles, was zu uns gehört – unser ganzes physisches und psychisches Selbst – schützen. Und zwar mit einer möglichst kurzen Reaktionszeit. Deshalb ist und war es nie Aufgabe unseres Gehirns, die Umgebung möglichst objektiv wahrzunehmen. Es würde schlicht zu viel Zeit kosten, zunächst bloß ein objektives Bild zu registrieren und erst im Anschluss mit der subjektiven Interpretation zu beginnen. Stattdessen versucht unser Gehirn stets einen Schritt vorauszudenken: Es trifft permanent Vorhersagen, was – ausgehend von früheren Erkenntnissen – im nächsten Moment geschehen müsste [1]. Dabei greift unser Gehirn auf bewährte Erfahrungsmuster zurück, die weiter gefestigt werden, wenn Vorhersagen und anschließende Ereignisse übereinstimmen – oder unser Gehirn zumindest den Eindruck hat, dass sie übereinstimmen. Je häufiger ein Muster bestätigt wurde, desto unwahrscheinlicher wird es, dass es vom Gehirn in Frage gestellt oder gar verändert wird. Denn warum sollte man eine Wahrnehmung korrigieren, die jahrelang gut funktioniert hat?

Es handelt sich um ein schlichtes Kosten-Nutzen-Kalkül, wägt unser Gehirn die Risiken ab, die entstehen, wenn es einem Weltbild treu bleibt oder dieses durch ein anderes ersetzt; wobei der Abwägungsprozess normalerweise ziemlich zügig abgehandelt wird. Solange es unserem Gehirn einigermaßen plausibel erscheint, die bisherige Realitätswahrnehmung aufrecht zu erhalten, hält es daran fest.

Aber warum erscheint es Menschen so riskant, ihr Weltbild zu verändern? Warum will unser Gehirn uns davor schützen? Das liegt nicht nur daran, dass ständige Veränderungen schnelle Reaktionen verhindern würden. Ein Teil der Antwort findet sich auch in unserem Sozialleben.

Eine der wichtigsten Überlebensstrategien ist, dass wir uns in Gruppen organisieren. Deren Wertesysteme werden damit nach und nach Teil unserer eigenen Identität [2]. Unsere tiefsten Überzeugungen sind normalerweise eng mit den Ansichten verknüpft, die andere Mitglieder unseres sozialen Umfelds vertreten. In dem Moment, in dem wir diese Überzeugungen in Frage stellen, stellen wir – vereinfacht ausgedrückt – indirekt unser soziales Netz und den damit verbundenen Rückhalt in Frage. Aus Sicht unseres Gehirns stellt das ein Überlebensrisiko dar; zumindest dann, wenn es in einer solchen Situation kein alternatives Sicherheitsnetz gibt.

In meinem Programm „Durchbruch“ bespreche ich mit dem Publikum eine experimentelle Studie, in dem Wissenschaftler:innen nachgewiesen haben, was in unserem Gehirn passiert, wenn man eine politische Überzeugung mit Gegenargumenten konfrontiert [3]. Dabei werden unter anderem die Hirnregionen aktiviert, die sich mit der Identität eines Menschen beschäftigen, und die, die reflexartig auf körperliche Bedrohungen von außen reagieren. Die reflexartige Reaktion beschränkt sich dabei normalerweise auf zwei Handlungsoptionen, nämlich Flucht oder Angriff. Übertragen bedeutet das, dass viele Menschen noch hartnäckiger an eigenen Überzeugungen festhalten, wenn sie auf Gegenargumente gestoßen werden. Schließlich geht es, laut Gehirn, ums Überleben.

Jonas Kaplan, einer der Autoren der Studie und Professor für Psychologie am Brain and Creativity Institute der USC Dornsife, zog das Fazit: „Politische Überzeugungen ähneln religiösen Überzeugungen insofern, als dass beide Teil unserer Identität sind und wichtig für das soziale Umfeld, dem wir angehören. Um eine alternative Sichtweise in Betracht zu ziehen, müsste man eine alternative Version von sich selbst in Betracht ziehen.“ [4]

Und damit wären wir beim entscheidenden Knackpunkt: eine alternative Version von sich selbst birgt die Gefahr, dass sie im sozialen Umfeld auf Ablehnung stößt. Und die Angst, dadurch soziale Sicherheit zu verlieren, ist in den meisten Fällen größer als die Angst vor fragwürdigen Überzeugungen.

Welche Schlüsse lassen sich jetzt fürs Kabarett daraus ziehen? Naheliegend erscheint, dass aufklärerische Aspekte auf der Bühne zumindest indirekt Wirkung zeigen. Denn sie können Menschen im Publikum darin bestärken, ihre Haltung selbstbewusster zu vertreten, zumal bereits die Kabarettveranstaltung ein Gemeinschaftserlebnis sein kann, das die Gruppenidentität der Anwesenden stabilisiert. Und wenn diese Menschen – davon beflügelt – ihre politische Haltung im Anschluss auch öffentlich sichtbarer machen, kann dadurch wiederum bei anderen Menschen die Hemmschwelle sinken, sich ähnlich deutlich zu positionieren.

Zu Ende gedacht heißt das jedoch, dass das Kabarett in erster Linie zur Meinungsverfestigung, weniger zur Meinungsbildung beiträgt. Schlimmstenfalls verkommt es damit zu einem ritualisierten Vorgang, der an einen Gottesdienst erinnert, in dem sich die Anwesenden gegenseitig der Richtigkeit ihres Glaubens versichern. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist das kontraproduktiv, vertieft es doch eher Gräben, statt sie zu überbrücken. Kabarett fördert so in erster Linie eine Gruppenidentität, die den Antagonismus zwischen einem „Wir im Kabarett“ (also wir, die Guten) gegen „die anderen da draußen“ oder „die da oben“ heraufbeschwört. Dabei geht das verloren, was Grundlage demokratischer Prozesse sein sollte: ein Bewusstsein dafür, dass es viele unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt gibt und dass die gegenseitige Akzeptanz dieser Sichtweisen entscheidend ist, damit ein Umfeld gemeinsam, unter Achtung der Menschenwürde und möglichst zum Vorteil aller gestaltet werden kann.

Umso wichtiger erscheint mir deshalb fürs Kabarett das, was Kunst an sich ausmacht: mit Realitäten zu spielen, auch Unmögliches zu denken, Perspektiven zu wechseln und im Bühnenkontext Ideen auszuprobieren, ohne darauf zu pochen, dass es nur eine allgemeingültige Wahrnehmung gibt. Mehr davon täte dem politischen Leben hierzulande sicher gut, vor allem im Sinne eines freiheitlich-demokratischen Geistes. Dass Letzterer erhalten bleibt und als Teil einer Gruppenidentität gefestigt wird, sollte meines Erachtens auch Aufgabe des Kabaretts sein.

[1] Die These, dass das Gehirn in erster Linie als “Vorhersagemaschine” fungiert, hat sich in den vergangenen Jahren nach und nach in der Hirnforschung durchgesetzt. Einen guten Überblick bietet dieser Artikel (Spektrum der Wissenschaft) (Öffnet in neuem Fenster). Aber wie alle wissenschaftlichen Modelle stößt auch dieser Erklärungsansatz stellenweise an Grenzen, wie eine Arbeit für den Deutschlandfunk (Öffnet in neuem Fenster) und ein Quantamagazine-Artikel (Öffnet in neuem Fenster) (Englisch) anmerken.

[2] Wer sich mehr für das Thema “Gruppenidentität” interessiert, erhält im Wikipedia-Artikel zur Theorie der sozialen Identität (Öffnet in neuem Fenster) einen ersten Überblick sowie Hinweise auf weiterführende Literatur und Begriffe. Die soziale Identität geht mit einer Einteilung in Eigen- und Fremdgruppen (Öffnet in neuem Fenster) einher; ein Phänomen, das unter anderem vor 70 Jahren im “Robbers Cave Experiment” (Öffnet in neuem Fenster) untersucht wurde. Eine Doku zum Experiment findet sich aktuell in der ARD-Mediathek (Öffnet in neuem Fenster).

[3] Die Studie “Neural correlates of maintaining one’s political beliefs in the face of counterevidence” von Jonas T. Kaplan, Sarah I. Gimbel und Sam Harris kann man hier nachlesen (Öffnet in neuem Fenster).

[4] Das Zitat stammt aus diesem ScienceDaily-Artikel (Öffnet in neuem Fenster), der sich mit der oben genannten Studie befasst, und wurde ins Deutsche übersetzt.

Kategorie Werkstatt-Post

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