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Liebe Leserïnnen,

in letzter Zeit kommt wieder häufig die Frage auf, ob sich die Corona-Warn-App lohnt und wie wir uns im Falle einer Warnung verhalten sollten. Dabei ist häufig das gleiche Schauspiel zu beobachten: Sobald in der App eine „rote Kachel“ mit einer Warnung angezeigt wird, machen sich die so Gewarnten sofort auf die Suche nach Gründen, warum sie an dem genannten Tag höchstwahrscheinlich kein Risiko eingegangen sind und diese Warnung ignorieren können. „Da war ich eigentlich doch nur ganz kurz... und da und da kann doch nicht...“ und so weiter.

Seit die Omikron-Variante sehr hohe Infektionszahlen erzeugt, haben viele Menschen ständig solche „roten Kacheln“ und beginnen die App zu ignorieren, weil sie sich sonst ja ständig und testen und isolieren müssten. Doch leider ist genau das der Fall: Wenn viele Menschen ständig diese Warnungen bekommen, heißt das nicht, dass die App sinnlos ist, sondern dass die Regierung den Zeitpunkt verpasst hat, einen Lockdown auszurufen. Und da die Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter (wozu auch die Luca-App gehört) schon seit langem zusammengebrochen ist, bleibt neben eigenem Herumtelefonieren nur noch die Corona-Warn-App einzige Möglichkeit zur Kontaktnachverfolgung.

Leider haben sich rund um die Corona-Warn-App ein paar Mythen und Halbwahrheiten, aber auch ein paar überraschende Fakten angesammelt. Zeit, sich diese genauer anzusehen:

1. Die App funktioniert nicht und kann auch nicht funktionieren.

Gemeint ist die Abstandsmessung mit Hilfe von Bluetooth, worauf die App basiert. Diese Kritik daran ist durchaus berechtigt. Kurz zur Funktionsweise: Die App sendet ständig über Bluetooth einen Code und lauscht zugleich, welche Codes die anderen Telefone in der Umgebung senden. Wenn Menschen sich mit Corona infiziert haben, können sie das in der App melden. Die betreffenden Codes, die diese Person in der Vergangenheit gesendet hat, werden dann veröffentlicht. Die App schaut regelmäßig in der Liste der veröffentlichten Codes nach, ob einem diese in der letzten Zeit begegnet sind. Ist es der Fall, gibt es eine Warnung. Die App versucht außerdem noch anhand der Dauer und Signalstärke zu berechnen, wie lang und nah der Kontakt mit der infizierten Person war, um das Risiko zu berechnen.

Tatsächlich funktioniert das ziemlich schlecht. Aus der Signalstärke lässt sich die Entfernung nicht berechnen, allenfalls schlecht schätzen. Auf freie Sicht kann ein Bluetooth-Signal manchmal weite Strecken zurücklegen, während der menschliche Körper mit seinem hohen Anteil an Wasser das Signal dämpft. Metall in den Wänden wie zum Beispiel in Bussen und Bahnen können das Signal auf verschiedene Weise reflektieren und verzerren. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Entwicklerïnnen der App hätten das mit der Risikoberechnung einfach bleiben lassen, um keine falschen Vorstellungen zu wecken.

Aus diesen technischen Problemen ziehen einige Kritikerïnnen den Schluss, die ganze App funktioniere nicht, und bezeichnen sie gar als „Voodoo“. Das ist falsch. Wenn meine App das Signal einer infizierten Person empfangen hat, hat meine App das Signal einer infizierten Person empfangen. Punkt. Das ist genauso unstrittig wie die Musik, die aus dem Bluetooth-Kopfhörer kommt. Wie nah und wie lang dieser Kontakt war, ist eine Frage für sich. Die App tut aber genau das, was sie soll: Warnen, dass jemand infizierten Personen begegnet ist.

2. Wenn die Corona-Warn-App keine Warnung anzeigt, bin ich auch nicht infiziert.

Manche Menschen scheinen die App wirklich wie eine Ampel aufzufassen. Natürlich ist das Unsinn. Es käme ja auch niemand auf die Idee, sich so lange sicher zu fühlen, wie kein Brief vom Gesundheitsamt kommt. Eine „grüne Kachel“ bedeutet also nicht, dass alles in Ordnung wäre und ich mich unvorsichtig verhalten darf. Psychologisch scheint die grüne Farbe bei vielen Nutzerïnnen aber genau diesen Effekt zu haben. In diesem Punkt sollte die App überarbeitet werden. Aber auch wenn die App ungünstig gestaltet ist, ist eines leicht zu verstehen: Nach Schätzungen des RKI wird die App von rund 20 Millionen Menschen in Deutschland genutzt. Das heißt im Umkehrschluss, dass sie von mehr als 60 Millionen Menschen nicht benutzt wird. Und das sind natürlich alles Leute, bei denen ich mich infizieren kann. Es gilt also auch bei einer „grünen Kachel“, dass sich vorher testen sollte, wer Oma und Opa besuchen will – oder den Besuch bleiben lassen sollte.

3. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich nach einer Warnung („rote Kachel“) infiziert bin, ist sehr niedrig.

Das stimmt. Wie oben dargelegt, ist die App sehr schlecht darin, das tatsächliche Risiko festzustellen. Viele Begegnungen sind zu flüchtig, nicht nah genug, oder führen wegen guter Lüftung und des Tragens von Masken nicht zu einer Infektion. Außerdem bekommt die Warnung nicht nur, wer sich in der Nähe einer infizierten Person aufgehalten hat, sondern auch, wer sich mit der App an einem Ort eingecheckt hat, für den später eine Warnung herausgegeben wird. Am gleichen Ort wie eine infizierte Person gewesen zu sein bedeutet natürlich nicht, Kontakt zu dieser Person gehabt zu haben bzw. längere Zeit in infektiösen Aerosolen gesessen zu haben.

Die allermeisten Warnungen sind also Fehlalarme und das ist dumm. Wer ein paar mal die Erfahrung eines Fehlalarmes gemacht hat, ignoriert schließlich die App. Eine Minderheit hat sich aber sehr wohl beim Risiko-Kontakt infiziert und es geht darum, diese Minderheit herauszufiltern. Und das funktioniert nur, wenn sich alle nach einer Warnung testen lassen und bis zum Ergebnis isolieren, wenn sie können.

4. Die App funktioniert kaum besser als wenn die Leute einfach zufällig gewarnt würden.

Dieses Argument soll belegen, dass die Ergebnisse der App, Infektionen zu vermeiden, statistisch nicht signifikant seien. Das Problem ist, dass sich diese Behauptung nicht belegen lässt. Wir wissen nicht, wie viele Infektionen durch die App verhindert wurden und werden es auch nie erfahren. Laut App gehen momentan mehr als 10.000 Warnungen täglich raus. Laut Dashboard des Projektes (Öffnet in neuem Fenster) haben insgesamt mehr als 2 Millionen Menschen ihr positives Testergebnis über die die Corona-Warn-App geteilt.

Wie viele Infektionen durch diese Warnungen entdeckt werden konnten, lässt sich aber nicht beantworten. Anders in Dänemark: Dort wird beim Testen erfasst, ob Menschen sich wegen einer Warnung in der App testen lassen (Öffnet in neuem Fenster). Stand Ende Dezember 2021 sind 172.942 solcher Tests aufgrund einer App-Warnung durchgeführt worden, wobei 2458 Infektionen gefunden wurden.  (Die Zahlen wirken niedrig, allerdings hat Dänemark auch nur 5,8 Millionen Einwohner.) Etwa 1,4% der Menschen, die sich aufgrund einer Warnung testen lassen, hatten sich also auch wirklich infiziert. Das ist wenig, aber es ist durchaus besser als nichts.

5. Die Corona-Warn-App kann die Pandemie nicht aufhalten.

Von der Maske bis zum Lockdown kann keine Maßnahme für sich genommen die Pandemie aufhalten. Wichtig ist das Käsescheiben-Modell (Öffnet in neuem Fenster): Jede Maßnahme entspricht einer Scheibe Käse, die ihre ganz spezifischen Löcher, also Schwächen hat. Mehrere solcher Scheiben hintereinander können aber eine Infektion gut verhindern. Die Corona-Warn-App ist eine Maßnahme unter vielen. Außerdem lässt sich die Pandemie sowieso nicht aufhalten, aber bremsen. Und das ist nunmal nötig, wenn Gesundheits- und andere Systeme nicht ausfallen sollen.

6. Die Corona-Warn-App dient der staatlichen Überwachung.

Nein. Der Staat in Form des RKI hat die App zwar in Auftrag gegeben, aber sie ist komplett „open source“, das heißt, wer will, kann in den Programmcode hineinsehen (Öffnet in neuem Fenster) und nachvollziehen, was die App tut. Dabei wird klar, dass die App vollständig anonym arbeitet. Wahrscheinlich ist die Corona-Warn-App das datenschutzfreundlichste, was du jemals auf deinem Telefon installiert hast.

7. Übertriebener Datenschutz (auch bei der Corona-Warn-App) verhindert eine effektive Pandemiebekämpfung.

Das ist insbesondere aus dem Mund der Verantwortlichen eine beliebte Ausrede für Versagen und Untätigkeit. Tatsächlich verhindert der Datenschutz in diesem Zusammenhang überhaupt nichts, weil sowohl die europäische Datenschutz-Grundverordnung wie auch das deutsche Datenschutzrecht den betreffenden Stellen erlaubt, die zur Pandemiebekämpfung notwendigen personenbezogenen Daten zu erheben. Denn nichts anderes tut das Gesundheitsamt und übrigens auch die Luca-App. Stünde der Datenschutz im Wege, hätte es die Luca-App in dieser Form gar nicht geben können. Dass für die Corona-Warn-App eine datensparsame, dezentrale Vorgehensweise gewählt wurde, bei der nirgendwo jemand eine Datenbank voller Namen und Adressen pflegen muss, erweist sich derzeit als Vorteil. Die mit Excel-Tabellen hantierenden Gesundheitsämter sind von der Kontaktnachverfolgung völlig überfordert. Die Corona-Warn-App funktioniert unabhängig von den Ämtern weiter.

8. Die Corona-Warn-App ist dezentral, weil der Chaos Computer Club sich durchgesetzt hat.

Das ist ein Mythos. Sachverständige des CCC sprechen regelmäßig in den Ausschüssen des Bundestages, nur um hinterher die Erfahrung zu machen, dass ihre Expertise ignoriert wurde. Dass die Corona-Warn-App so funktioniert, wie sie funktioniert, liegt an Apple und Google. Um dem Vorwurf zu entgehen, sie würden mit ihren Plattformen Staaten bei der Überwachung der Bevölkerung helfen, haben sie die Regeln festgelegt, nach welchen staatliche Contact-Tracing-Apps auf iOS und Android funktionieren dürfen. Nur Apps, die diesen Regeln entsprechen, dürfen in den App Store/Play Store. Die Kernfunktionalität, nämlich das Austauschen von Bluetooth-Signalen, wurde unter anderem an der ETH Zürich und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne entwickelt und von Apple und Google direkt in iOS und Android eingebaut. Die jeweiligen Warn-Apps greifen nur auf diese vom Betriebssystem zur Verfügung gestellte Funktionalität zu. Die Bundesregierung hatte also kaum eine andere Wahl, als sich der Systementscheidung von Apple und Google zu beugen, was für sich genommen natürlich auch wieder sehr kritisch gesehen werden kann.

9. Der Hype um die App wird trotz ihrer Nutzlosigkeit von der Regierung befeuert, weil sie ein deutsches Produkt vorzeigen möchte.

Dieser Vorwurf grenzt schon hart an verschwörungsideologisches Denken. Siehe Punkt 8: Der Vorwurf ergäbe nur Sinn, wenn die Kernfunktionalität nicht von Apple und Google vorgegeben wäre. Auf die Corona-Warn-App stolz sein zu wollen ist ungefähr so, als auf einen neuen Druckertreiber in Windows stolz sein zu wollen. Andere Länder als Deutschland, die auf die gleiche Basis aufsetzend ganz ähnliche Apps haben: Österreich, Brasilien, Belgien, Kanada, Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Irland, Italien, Japan, Lettland, Libanon, Niederlande, Neu-Seeland, Norwegen, Philippinen, Polen, Portugal, Russland, Südafrika, Spanien, Schweiz, Taiwan, Groß-Britannien, Uruguay sowie mehrere Bundesstaaten der USA.

10. Die Corona-Warn-App war sehr teuer.

Ja.

11. Die Corona-Warn-App war zu teuer.

Weiß ich nicht. Wie viele gerettete Menschenleben sind der Maßstab für „zu teuer“?

12. Ich kann die Corona-Warn-App anstelle der Luca-App benutzen, um mich an einem Ort einzuchecken.

Das funktioniert seit dem 9. November 2021. (Öffnet in neuem Fenster) Auf die Luca-App kann seitdem getrost verzichtet werden, auch wenn an dem Ort nur Luca-Codes aushängen. Die Corona-Warn-App hat sogar den Vorteil, dass du auch dann eine Warnung erhältst, wenn die Gesundheitsämter überlastet sind, was für die Luca-App nicht zutrifft. Übrigens werden beim Checkin mit der Corona-Warn-App auch keine Daten an die Server der Luca-App übertragen. Aber bevor du dich mit der App an einem Ort eincheckst, denke nochmal darüber nach, ob es wirklich jetzt gerade nötig ist, diesen Ort überhaupt zu besuchen.

13. Wer zum Testzentrum geht, sollte die App so lange ausschalten.

Das stimmt. Wer ins Testzentrum geht, um dort einen Test vorzunehmen, sollte die Corona-Warn-App vorübergehend abschalten – sagen auch die Entwicklerïnnen (Öffnet in neuem Fenster). Denn bei der momentan hohen Inzidenz ist es recht wahrscheinlich, dass sich in der Schlange vor dem Testzentrum infizierte Personen befinden, die später über die App warnen werden. Wer sich testen lässt, könnte also in eine Art Endlosschleife geraten und Warnungen nur aufgrund des Besuchs im Testzentrum erhalten, die wiederum einen erneuten Besuch im Testzentrum nach sich ziehen, die wiederum Warnungen nach sich ziehen und so weiter. Durch vorübergehendes Abschalten beim Schlangestehen lässt sich diese Endlosschleife vermeiden. Das RKI geht davon aus, dass die reale Infektionsgefahr in der Schlange vor dem Testzentrum eher gering ist, wenn alle im Freien warten, Masken tragen und Abstand halten.

14. Mit der neuesten Version der Corona-Warn-App ist der Anonymität passé.

Das lässt sich so sehen. Denn die Corona-Warn-App enthält seit der Version 2.15 vom 20. Dezember eine Funktion, die beim Buchen von Tickets helfen soll. Statt den Impfstatus erst beim Einlass zu einer Veranstaltung zu überprüfen, kann dies schon beim Buchen geschehen. Dafür wird ein QR-Code angezeigt, der dann mit der Corona-Warn-App eingescannt wird. Die App sagt dann über einen Validierungsservice den Veranstalterïnnen schon beim Buchen, ob die betreffende Person ein gewünschtes Impfzertifikat hat. Dabei verlassen erstmals personenbezogene Daten die Corona-Warn-App und werden nicht anonym auf externen Servern verarbeitet. Manche sehen darin einen Bruch mit dem bisherigen Konzept der App, aber das passiert natürlich nur, wenn jemand die App auch wirklich so nutzt. Ich habe eigentlich kein Datenschutzproblem, sondern ein Problem damit, dass diese Funktion den Eindruck erwecken kann, es sei gerade eine gute Idee, Veranstaltungen zu besuchen. Oder überhaupt zu veranstalten.

15. Die App ist nutzlos, seit wegen Omikron dauernd alle „rote Kacheln“ haben.

„Denn so oft, wie ich eine Warnung bekomme, müsste ich mich ja nur noch isolieren...“ Genau so ist es. Wie bereits eingangs erwähnt: Wenn die App bei vielen Menschen nur noch „rote Kacheln“ zeigt, heißt das, dass die Politik den richtigen Zeitpunkt für einen Lockdown versäumt hat. Es ist absolut verständlich, dass viele Leute nicht stundenlang für einen PCR-Test anstehen können und wollen, zumal der Zugang zu kostenlosen PCR-Tests eingeschränkt werden soll (Öffnet in neuem Fenster). Hier bleibt nur übrig, dass diejenigen, die es sich beruflich erlauben können, in den „Bürgerïnnen-Lockdown“ gehen. Und dass Druck auf die Regierung ausgeübt wird, von ihrer Durchseuchungsstrategie Abstand zu nehmen.

Trotzdem eine gute Woche wünscht

Enno Park

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