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Zeit, dass sich was dreht (The Euros Diaries, Part I)

But my soul can't take
That my soul won't wait
I got overwhelmed by my hometown
(Kilians)

140/∞

Good evening, Europe!

„Letzte Woche standen wir am Abgrund, heute sind wir einen Schritt weiter“, ist ein beliebter Witz bei Menschen, die sich mehrfach kopierte Karikaturen ins Büro hängen und irgendwelche Sprüche über Veganer in ihrem WhatsApp-Status teilen. 

Das Leben sei eine Achterbahn hat Ronan Keating mal gesungen (Öffnet in neuem Fenster), jetzt tritt er im Juli in Dinslaken auf (ausverkauft! (Öffnet in neuem Fenster)). Geschrieben hatten den Song Gregg Alexander of New Radicals fame und Rick Nowels, was mir endlich die Gelegenheit gibt, einen „Guardian“-Artikel (Öffnet in neuem Fenster) aus dem März zu verlinken, in dem Gregg Alexander über den erneuten Erfolg des von ihm mitgeschriebenen Sophie-Ellis-Bextor-Songs „Murder On The Dancefloor“ spricht. (Der „Guardian“ veröffentlichte aus diesem Anlass auch einen Ausschnitt (Öffnet in neuem Fenster) aus einer Demo-Version von „Murder On The Dancefloor“, die klar macht, warum die Interpretation von Sophie Ellis-Bextor eigentlich so ein Über-Hit werden konnte: die geheime Zutat ist ihre grotesk britische Aussprache von „dance“, die außer Peter Urban niemand so verwenden würde.) Was bei Alexander/Nowels auf der Strecke bleibt: Bei einer Achterbahnfahrt machen die Abwärtsstrecken am meisten Spaß; das ist im wahren Leben oft anders.

Letzte Woche waren wir alle noch niedergeschlagen, weil die Ergebnisse der Europawahl so ernüchternd waren (vgl. Newsletter #137 (Öffnet in neuem Fenster) — also irgendwo inmitten dieser einundzwanzigtausend Zeichen), dann begann die Fußball-Europameisterschaft der Männer mit einem überzeugenden, wenn auch in der Höhe etwas übertriebenen 5:1-Sieg der deutschen Mannschaft gegen Schottland. Es gibt noch keine Umfragen (Öffnet in neuem Fenster), die nach dem Eröffnungsspiel erfasst worden wären, aber ich bin mir sicher, dass die Zufriedenheit mit der Bundesregierung bereits nach dem Führungstreffer deutlich angestiegen war. Und dann kam ja auch noch der zweite Sieg, ein ordentliches 2:0 gegen Ungarn. (Ich erwähne noch eben schnell Viktor Orbán, damit in diesem Newsletter Urbi und Orbi vorkommen und ich mich für einen Moment fühlen kann wie der Papst.) 

Zwei Siege in den ersten beiden Spielen eines großen Turniers, das hatte es zuletzt 2012 gegeben. Damals schied Deutschland im Halbfinale gegen Italien aus, was diesmal unwahrscheinlich scheint — und zwar aus ganz anderen Gründen, als noch vor ein paar Wochen angenommen. 

Deutschland präsentiert sich auch noch als guter Gastgeber für enthusiastische Fans aus ganz Europa, die sich freuen, dass sie nach einer WM in Russland, einer EM in elf verschiedenen Ländern unter Pandemie-Bedingungen und einer WM in Katar, endlich mal wieder ein „normales“ Turnier besuchen zu können. (Dass der öffentliche Personennahverkehr in Deutschland auf den Ansturm natürlich nicht vorbereitet war, damit hätte man rechnen können.)

Die schottischen Anhänger haben angeblich München (Öffnet in neuem Fenster) trocken getrunken, die niederländischen Fans haben Hamburg mit ihrer Ausgelassenheit (Öffnet in neuem Fenster) überfordert und der englische Reporter Kaveh Solhekol sprach bei Sky Sports eine Art Reisewarnung vor Gelsenkirchen aus — das Video ging bei Twitter viral (Öffnet in neuem Fenster), ehe es wieder gelöscht wurde.

Vielleicht hätte man die Europawahlen also erst nach diesem völkerverbindenden, Freude und Hoffnung stiftenden Event abhalten sollen, aber vielleicht sollte man auch mal aufhören, jedes Thema mit Umfragen und Parteipolitik kurzschließen zu wollen. So, wie die Medien endlich mal aufhören sollten, 2024 auf Teufel komm raus mit 2006 zu vergleichen — man möchte sich diese Menschen nicht beim 1. Date vorstellen, wo es die ganze Zeit um die oder den Ex geht.

JEDENFALLS: Vielleicht tun uns vier Wochen Eskapismus mal ganz gut. Vielleicht chillen wir alle mal und erfreuen uns an der einenden Kraft des Fußballs. Vielleicht stellen wenigstens ein paar Tausend AfD-Wähler fest, dass das Leben eigentlich ganz schön ist und es wichtigere Dinge gibt als ein Heizungsgesetz.

Vielleicht ist das auch alles Quatsch, was ich hier schreibe. Aber ich war immer schon lieber optimistisch als zynisch.

Zu den faszinierendsten Aspekten des Fußballs zählt für mich, dass man in Deutschland aufwachsen und leben, theoretisch um die Bedeutung dieses Sports für die Menschen hier wissen, und sie doch permanent unterschätzen kann. Am Tag, nachdem der VfL-Bochum entgegen aller Erwartungen den Klassenerhalt in der 1. Fußball-Bundesliga der Männer geschafft hatte (vgl. Newsletter #138 (Öffnet in neuem Fenster)), sah ich in der Innenstadt so viele Menschen in VfL-Fanartikeln wie sonst noch nicht mal an Spieltagen. Sie waren nicht in Gruppen unterwegs und wollten natürlich auch nicht zum Stadion, sondern die Leute, die einfach ganz normal in der Stadt waren (stationärer Handel — die Älteren werden sich erinnern), hatten jeweils für sich entschieden, dass heute ein guter Tag sei, das alte Trikot, das VfL-T-Shirt oder den -Pulli aus dem Schrank zu holen und so die eigene Verbundenheit mit dem Verein zum Ausdruck zu bringen. Ich bin unsicher, ob man das gleiche in der Düsseldorfer Innenstadt hätte beobachten können, wenn das Spiel am Vorabend anders ausgegangen wäre.

Aber es ging ja noch weiter: Herbert Grönemeyer, gleichzeitig Schutzpatron, Maskottchen und Identitätsstifter der Stadt, hatte gleich vier Konzerte im Ruhrstadion angesetzt, um das 40. Jubiläum eines Albums zu feiern, das immer noch (und damit auf alle Zeit) zu den meistverkauften Alben aller Zeiten (Öffnet in neuem Fenster) in Deutschland gehört und den Namen der Stadt trägt: „4630 Bochum“. 

Der Titelsong (Öffnet in neuem Fenster) gehört nicht nur zu jedem Heimspiel des VfL, jeder Hochzeits- und Studi-Feier, es ist auch der Steinbruch, aus dem sich das Stadtmarketing bis heute bedient: Wenn irgendwo ein griffiger Slogan auf eine Wand soll, wird er entweder direkt aus den Lyrics genommen oder an diese angelehnt. Mir würde - außerhalb Kölns - in Deutschland kein Act und kein Lied einfallen, die für eine Stadt eine derartige Bedeutung hätten wie Grönemeyer und „Bochum“ für Bochum. Er ist das, was Bruce Springsteen für New Jersey ist, und Oasis für Manchester: einer von uns, Botschafter im ganzen Land. Und das, obwohl er in Göttingen geboren wurde und seit Jahrzehnten nicht mehr hier lebt.

Die Grönemeyer-Konzerte waren ironischerweise der Grund, warum die Frauen des VfL ihr Relegationsspiel um den Aufstieg in die 2. Bundesliga nicht im Ruhrstadion austragen konnten, sondern auf den danebenliegenden Leichtathletik-Platz ausweichen mussten. Es ist aber alles gut gegangen, die Mannschaft gewann auswärts und zuhause (ausverkauft!) und schaffte den Aufstieg (Öffnet in neuem Fenster).

Wenn man selbst nicht in einer Stadt lebt, der ähnliches widerfährt, kann man sich glaub ich nur schwer vorstellen, was diese letzten Wochen für Bochum bedeutet haben. Unser inoffizielles Stadtmotto lautet „Woanders is auch scheiße“, dabei ist es hier eigentlich gar nicht scheiße. Streng genommen ist Bochum beim sogenannten Strukturwandel schon ein paar Runden weiter als andere Revierstädte, denn die Werke von Opel und Nokia, wo nach den Zechenschließungen Tausende Menschen neue Arbeit fanden, haben inzwischen auch schon wieder dichtgemacht. Die Zukunft gehört der Logistik sowie der Forschung und Lehre. Es ist eine wirklich lebenswerte Stadt, aber das verraten wir natürlich nicht, damit die Mieten halbwegs im Rahmen bleiben.

Ich war am Montag beim letzten Grönemeyer-Konzert, allerdings nicht im Stadion, sondern davor: Anwohner grillten vor ihrem Haus, die Leute aus dem betreuten Wohnen tanzten vor der Tür, ein Opi hatte die Setlist aus der „WAZ“ ausgeschnitten und zeigte sie den anderen Leuten, die sie abfotografierten, ein anderer machte einen Videoanruf mit Rundum-Schwenk (jedenfalls, bis er versehentlich seine ledernde Klapp-Hülle vor die Kamera klappte). Natürlich haben alle beim „Steigerlied“ vor „Bochum“ mitgesungen. Und bei „Bochum“ selbst. Bei „Mambo“ (es kann kein Zufall sein, dass der einzige Hit, der von einer vergeblichen Parkplatzsuche handelt, auf einem Album enthalten ist, das „Bochum“ heißt!) tanzten die Menschen Mambo. Als dann noch ein Flaschensammler irgendjemanden anrief und ganz begeistert und mit massivem Lokalkolorit ins Telefon rief: „Weißte, wo ich bin?! Am Stadion! Konzert! Der Herbert spielt doch noch mal!“, war es endgültig um mich geschehen: Herz explodiert. Augen rausgeschwemmt. Welt umarmen. Jetzt.

Herbert Grönemeyers Musik, wie sie gemeint war.

Die meisten Menschen werden sich bemühen, die Vorteile und Eigentümlichkeiten ihrer Heimatstadt herauszukehren (wenn auch wirklich nirgendwo so penetrant wie in Köln) und ich habe sonst nur in Dinslaken gelebt (plus drei Monate in San Francisco), aber ich würde trotzdem behaupten, dass Bochum besonders ist. Man muss halt nur genau hinschauen: Gestern war ich bei einer Anti-AfD-Demo, die nicht groß angekündigt worden war. Es liefen ca. 120 Leute mit. Ein Opi mit Rollator rollte auf uns zu, hob das Käppi und winkte damit anerkennend. Er bekam dafür Applaus.

Vielleicht bräuchten die Leute im Osten (und in Gelsenkirchen) auch halbwegs erfolgreiche Fußballvereine und Popstars mit lokaler Vergangenheit.

Was macht der Garten?

In den ersten zehn Juni-Tagen wurden weltweit in über 100 Ländern neue Temperaturrekorde aufgestellt (Öffnet in neuem Fenster). Nun ist es zu 95% schön, dass wir nicht davon betroffen waren, aber: Hmmmm. Ein Sommer ist das noch nicht. Die Tomaten stehen unterm Vordach, weil es so viel regnet. Der Schurkenkonzern, dem das Haus gehört, hat nach Monaten mal wieder mähen lassen (und wird bei der Nebenkostenabrechnung trotzdem auf regelmäßiger Gartenpflege beharren). Statt einer Blumenwiese haben wir jetzt wieder den traurigsten Rasen der Welt vor der Haustür.

Was hast Du veröffentlicht?

Der Autor Dirk Hesse schreibt einen Newsletter namens „Le Bureau“ (Öffnet in neuem Fenster), für den er Menschen bittet, ihren Arbeitsplatz zu zeigen. Also hab ich den Schreibtisch, der eigentlich gar keiner ist, mal aufgeräumt und seinen kleinen Fragebogen (Öffnet in neuem Fenster) beantwortet.

Was hast Du gehört?

Gemeinsam mit der „London Review of Books“ betreibt der britische Historiker David Runciman (4th Viscount Runciman of Doxford, because of course) den Podcast „Past Present Future“ (Öffnet in neuem Fenster), der mich an die besten Vorlesungen zu meinen Uni-Zeiten erinnert: Ich fühle mich wahnsinnig dumm und unwürdig, habe aber auch das Gefühl, wenn ich jetzt alle erwähnten Quellen lese, könnte ich wirklich etwas lernen. Innerhalb dieser Podcast-Reihe gibt es kleine Unterserien, weswegen es jetzt ein bisschen kompliziert wird: Im April begann er nämlich die Reihe „The History of Bad Ideas“, in der es unter anderem um Eugenik (Öffnet in neuem Fenster), Facebook-Freunde (Öffnet in neuem Fenster) und Antisemitismus (Öffnet in neuem Fenster) geht. Ich sag mal so: Das hört man besser eher nicht beim Kochen oder im Fitnessstudio, sondern mit Papier und Bleistift.

Was hast Du gesehen?

Fußball-EM. Bis zum Spiel Spanien - Italien gestern Abend waren eigentlich alle Spiele super.

Außerdem war ich bei der im letzten Newsletter erwähnten Veranstaltung (Öffnet in neuem Fenster) zur bundesweiten Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ im Schauspielhaus. Ich war mir vorher nicht so sicher, was ich erwarten sollte, aber es war ein wirklich schöner, anrührender Abend mit Talk, Kultur und Publikumsbeiträgen, die mich zum Nachdenken gebracht haben.

Was hast Du gelesen?

Den Artikel „The Science of Having a Great Conversation“ (Öffnet in neuem Fenster) bei „Wired“.

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Mich bei einer Sprachlern-App angemeldet. Ich melde mich wieder, wenn ich diesen Newsletter auf Niederländisch, Italienisch und Türkisch schreiben kann.

Was hast Du gelernt?

„Su“ heißt „Wasser“ auf Türkisch.

https://www.youtube.com/watch?v=N95i9JjIem8 (Öffnet in neuem Fenster)

Big Beat und Drum ’n’ Bass werden uns dieses Jahr noch überrollen und das wird einer der Sommerhits!

Wenn Dir dieser Newsletter so sehr gefällt, dass Du dafür sogar bezahlen willst, kannst Du das hier tun:

Habt ein schönes Wochenende! Veel succes vanavond!

Always Love, Lukas

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