Zehn Packen weniger neun Packen
Denn jeder Tag ist ein Geschenk, er ist nur scheiße verpackt
Und man fummelt am Geschenkpapier rum und kriegt es nur mühsam wieder ab
(Kid Kopphausen)
149/∞
Good evening, Europe!
Letzte Woche war es wieder soweit: Eine Tradition, gleichermaßen geliebt wie gehasst (was für die meisten Traditionen gelten dürfte), brach sich Raum und die Menschen teilten ihr „Spotify Wrapped“, also das, was der Musikstreamingdienst einem Anfang Dezember, bevor man sich alle Statistiken mit Weihnachtsliedern versauen kann, als meistgehörte Songs und Acts des Jahres auswirft.
Als Popkultur- und Statistik-Nerd ist „Wrapped“ für mich so etwas wie der Eurovision Song Contest und der Eurovision Song Contest zusammen. Es ist aber auch einer der wenigen Anlässe, zu denen man heute noch ungefähr mitbekommt, welche Musik die eigenen peers so hören („Die verloren gegangene Kunst, Musik zu teilen“ ist ein noch ungeschriebener Artikel, den ich seit einiger Zeit meinen Redaktionen anzudrehen versuche), und einer der seltenen Momente, in denen Spotify in der öffentlichen Rezeption als das bösartige Unternehmen gescholten wird, das es zweifellos ist (die meisten Acts verdienen gar kein Geld (Öffnet in neuem Fenster) mehr mit ihrer Musik, dafür bekommt der „umstrittene“ Podcaster Joe Rogan eine Viertelmilliarde Dollar; der Konzern-Chef Daniel Ek fällt mit ähnlich dummen Aussagen (Öffnet in neuem Fenster) auf wie der Europa-Chef von Universal Music, Frank Briegmann (Öffnet in neuem Fenster)).
Nach außergewöhnlichen, kreativen Präsentationsformen in den vergangenen Jahren (die womöglich (Öffnet in neuem Fenster) von einer Praktikantin erfunden worden waren, die dafür nie angemessen gewürdigt wurde), merkten dieses Jahr viele User auf Social Media an, dass „Wrapped“ überraschend lieblos und generisch aussehe. Das mag damit zusammenhängen, das seit der letzten Ausgabe rund ein Sechstel der Mitarbeiter entlassen (Öffnet in neuem Fenster) (und durch KI „ersetzt“) wurde, vielleicht stimmen auch die Theorien, dass Spotify große Mengen der Daten aus dem zweiten Halbjahr verloren hat. Die Ergebnisse waren jedenfalls in jeder Hinsicht ein bisschen öde und auch mein persönliches „Wrapped“ (Öffnet in neuem Fenster) ist einigermaßen unspektakulär: 1. kettcar, 2. Pet Shop Boys, 3. R.E.M., 4. Taylor Swift, 5. Jimmy Eat World — also vier Fünftel Männer, denen ich schon vor 20 Jahren zugehört habe.
Aber ich habe dieses Jahr - laut Spotify - auch 2.400 verschiedene Acts gehört und wenn dann irgendjemand (kettcar, Pet Shop Boys) ein neues Album rausbringt, das ich ein paar Mal höre, sind die Top-Platzierungen dann schnell vergeben (das Japandroids-Album kam erst Ende Oktober raus, das reichte dann offenbar schon nicht mehr oder ist, s.o., einfach dem angeblichen Datenverlust zum Opfer gefallen).
Einen schönen Aufsatz zu „Spotify Wrapped“ hat auch Brady Brickner-Wood im „New Yorker“ (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht.
Der schönste/absurdeste Nebenaspekt von „Spotify Wrapped“, der mir bis heute untergekommen ist, ist die Nachricht (Öffnet in neuem Fenster), dass Josh Gottheimer, demokratischer Abgeordneter aus New Jersey im US-Repräsentantenhaus, eine … nun ja: frisierte Version seines Jahresrückblicks veröffentlicht hat, der aus fünf Songs von Bruce Springsteen (für die, die es nicht wissen: der berühmteste und bedeutsamste New Jerseyer aller Zeiten) bestand, was 1. auffiel und 2. Gottheimer bei seinen weiteren politischen Ambitionen (man sagt ihm nach, Gouverneur werden zu wollen) verfolgen könnte, denn nichts hassen Amerikaner*innen ja mehr, als einen Politiker, der nicht ganz die Wahrheit sagt — zumindest, solange er den Demokraten angehört.
Dies ist eine ebenso gute Gelegenheit wie jede andere, um zu erzählen, dass Stefan Niggemeier und ich aus Gründen, die sich heute nur noch schwerlich rekonstruieren lassen, im Jahr 2011 beim Fourth-of-July-Barbecue des damaligen amerikanischen Botschafters in Berlin, Phil Murphy, eingeladen waren, der in der Folge tatsächlich Gouverneur von New Jersey werden sollte, und mutmaßlich aus diesem Grund an jenem Abend in Begleitung einer Militärkapelle „Born To Run“ von Bruce Springsteen zum Besten gab (und nicht etwa „Born In The USA“, weil er schon mal auf den Text geachtet hatte, was übrigens auch eine einfache Methode ist, Demokraten und Republikaner voneinander zu unterscheiden).
Wo war ich?
Gestern kam die Nachricht (Öffnet in neuem Fenster), dass der deutsche Filmregisseur Wolfgang Becker im Alter von 70 Jahren „nach schwerer Krankheit, aber dennoch überraschend“, gestorben sei. Sein Kino-Debüt „Das Leben ist eine Baustelle“ war 1997 der zweite Film von X Filme Creative Pool, also jener Produktionsfirma, die Becker gemeinsam mit seinen Kollegen Tom Tykwer, Dani Levy und dem Produzenten Stefan Arndt gegründet hatte, und die den deutschen Film (und später auch das Fernsehen) in ein neues Zeitalter gebracht hat. Ich habe damals in der „Cinema“ alles über diese Männer gelesen — und hab den Film selbst, wie ich gerade festgestellt habe, bis heute nicht gesehen. Dass Becker 43 Jahre alt war, als der Film rauskam, gibt mir für meine eigene Karriere noch ein bisschen Hoffnung.
Was mir auch sofort wieder einfiel, als ich die traurige Nachricht las, war folgende wahre Geschichte: Im Februar 2003, als ich bei meiner Tante in Berlin unterkam, um die internationalen Filmfestspiele zu besuchen, wurde ich an einem Samstagmittag von einer Gruppe Paparazzi, die zwischen Four Seasons Hotel am Gendarmenmarkt und ECHO-Verleihung herumlungerten, für einen der ihren gehalten, wie ich schon mehrfach (Öffnet in neuem Fenster) erzählt (Öffnet in neuem Fenster) habe. Der „dienstliche“ Teil meines Tages endete damit, dass ich vor dem Berlinale-Palast Kulturschaffende fotografierte, die die Deutschland-Premiere des damals neuen Scorsese-Opus „Gangs of New York“ vorzeitig verließen. Darunter ein Mann, den ich (natürlich; „Cinema“, s.o.) als Sebastian Schipper erkannte, den Regisseur von „Absolute Giganten“, der bis heute einen besonderen Platz in meinem Herzen hat.
Wenn man sich Grobi aus der „Sesamstraße“ als adoleszenten Film-Nerd vorstellt, kommt man vermutlich ungefähr an das Bild heran, das ich abgegeben haben muss, als ich mit weit aufgerissenen Augen und wild rudernden Armen auf ihn losstürmte und immer wieder seinen Nachnamen rief. Ich erzählte ihm, dass „Absolute Giganten“ mein absoluter Lieblingsfilm sei, und fragte nach einem Autogramm und er schrieb die Worte „Was für ein hervorragendes, gigantisches Glück, einen treuen Fan zu haben!“ auf eine Berlinale-Eintrittskarte. Ich fragte, ob ich ihn auf ein Bier einladen dürfe, und so landeten wir an der Hotelbar des Hyatt am Potsdamer Platz und sprachen über sein nächstes Projekt und meine beruflichen Ambitionen, als plötzlich - und ich weiß, Ihr hattet Euch nach dem singenden Botschafter schon zunehmend besorgt gefragt, wo diese Anekdote jetzt wieder hinführen soll! - Wolfgang Becker in einer Ecke des Raums erschien.
Dessen Film „Good Bye, Lenin!“ war auf der Berlinale im Wettbewerb gelaufen und hatte sofort einen solchen buzz erzeugt, dass ich noch weiß, dass ich mich als 19-jähriger Industrie-Outsider wunderte, dass der Regisseur hier derart unbehelligt rumlief. Schipper, jedenfalls, unterbrach kurz in aller Herzlichkeit unser Gespräch, um dem Mann der Stunde seine Aufwartung zu machen, und wenn ich mich nicht sehr irre, gaben Wolfgang Becker und ich uns dann auch kurz die Hand. Bezahlt hat die Biere übrigens, trotz meiner Einladung, Sebastian Schipper.
(In einer unserer nächsten Ausgaben dann: Wie ich Fatih Akin in einer römischen Trattoria einen Aschenbecher anreichte.)
Apropos Filme: Mit dem Atlantis-Megamax an der Herner Straße schließt (Öffnet in neuem Fenster) Ende des Monats Bochums letzte Videothek. In einer Zeit, wo es Deutschlandweit weniger als 50 Videotheken gibt, war der Laden in der Nähe der A40 in den letzten Jahren ein bisschen zum letzten Einhorn geworden, was sich in verschiedenster (Öffnet in neuem Fenster) regionaler (Öffnet in neuem Fenster) und überregionaler (Öffnet in neuem Fenster) Berichterstattung (Öffnet in neuem Fenster) niederschlug.
Eine Videothek - man muss das vielleicht noch mal erklären für Menschen wie den Zehnjährigen, der mich vorgestern gefragt hat, was ein Walkman sei - war ein Ort, an dem Filme erst auf sogenannten „Videokassetten“ (in einer unserer nächsten Ausgaben: Die Formatkriege und wie Sony sie fast alle verloren hat), später dann auf 12 Zentimeter großen Silberscheiben namens „DVD“ (bzw. noch später: „BluRay“) gegen Geld ausleihen konnte, um sie dann zuhause auf dem Röhrenfernseher zu gucken.
Ich hab im vergangenen Jahr schon mal über die Bedeutung von Videotheken für meine popkulturelle Bildung geschrieben (Öffnet in neuem Fenster) und bei aller Nostalgie wäre es natürlich Quatsch, so zu tun, als ob da jetzt etwas unwiederbringlich verschwinden würde: Junge (und ältere) Menschen haben heutzutage Zugriff auf mehr Filme, als je ein Mensch in einem Leben schauen könnte; es gibt einen digitalen Graumarkt, der auch die obskursten Filme besser vor dem Vergessen schützt, als es Videotheken je gekonnt hätten, und bei YouTube und andernorts gibt es Tausende Essays, Analysen und ähnliche Hintergrund-Informationen, für die ich früher ein Abo einer Filmzeitschrift brauchte.
Ich sehe alle Nachteile des Streamings (Stromverbrauch/Umweltschutz, Inhalte können nachträglich verändert werden oder ganz verschwinden) und bin stolz auf meine immer noch recht stattliche DVD-Sammlung (ganz zu schweigen von all meinen Audio-CDs), aber für die Normalanwender machen gerade Videotheken leider gar keinen Sinn mehr. Wenn es darum geht, die unterschiedlichen Versionen der alten „Star Wars“-Filme zu vergleichen und zu besitzen, sind wir schnell tief in der Editionsphilologie, was ich grundsätzlich begrüße, aber auch als eine andere Art special interest verstehe, als das, was in Videotheken unter diesem Begriff angeboten wurde.
Falls Ihr, wie ich, beruflich bedingt Deadlines nicht mit Angst, sondern mit sportlichem Ehrgeiz begegnet, habt Ihr natürlich noch jede Menge Zeit, um Geschenke zu besorgen.
Falls Ihr mein Buch (Öffnet in neuem Fenster) über den Eurovision Song Contest verschenken wollt, empfehle ich Euch in diesem Jahr, es im Autorenwelt-Shop (Öffnet in neuem Fenster) zu bestellen. Da wird es versandkostenfrei und zeitnah verschickt und ich bekomme einen Anteil der Buchhändler-Marge ab, das heißt: Ich verdiene dort mit jedem verkauften Exemplar mehr als irgendwo anders. Die für mich zweitbeste, für Euch womöglich noch bessere Lösung ist es, das Buch bei der kleinen Buchhandlung um die Ecke zu bestellen, weil Ihr damit einen Beitrag dazu leistet, dass diese auch im nächsten Dezember noch existiert. (Die in jeder Hinsicht schlechteste Lösung wäre, das Buch bei Amazon (Öffnet in neuem Fenster) zu bestellen. Mein Verlag wird mich dafür hassen, aber: Dann lieber gar nicht!)
Apropos Geschenke! Extra zum Fest habe ich mir etwas ganz besonderes ausgedacht: das Geschenk-Abo! Für 12 Euro im Monat oder 120 Euro im Jahr bekommt Ihr den ohnehin kostenlosen Newsletter, exklusive Texte, meinen größten ewigen Dank und könnt Euer Abo mit zwei weiteren Personen teilen (d.h. es kostet eigentlich maximal 4 Euro pro Person und Monat).
Wie es sich für Cyber-Friday-Single-Christmas-Deals gehört, ist das das Angebot zeitlich begrenzt: Ihr könnt es nur bis einschließlich 6. Januar buchen!
Die anderen Abonnements (Öffnet in neuem Fenster) gibt es natürlich weiterhin und ich freue mich sehr über jede Unterstützung!
Und weil die Frage immer wieder aufkam: Wenn Ihr kein Abo abschließen, aber mir vielleicht zum Jahresende einen Kaffee oder einen Ingwer-Shot ausgeben wollt, könnt Ihr das bei PayPal (Öffnet in neuem Fenster) machen.
Ganz herzlichen Dank an alle, die diese Möglichkeit schon genutzt haben — ich weiß das sehr zu schätzen!
Für die nächste Ausgabe dieses Newsletters würde ich gerne mal etwas Neues ausprobieren, nämlich ein sogenanntes Q&A (also ein Frage-und-Antwort-Spiel).
Falls Ihr also irgendwelche Fragen an mich habt - von „Was ist der beste Song aller Zeiten?“ über „Wer wird Deutscher Meister?“ bis zu „In welcher Körperhaltung schläfst Du?“ - könnt Ihr mir die jetzt stellen (Öffnet in neuem Fenster) und ich versuche, darauf zu antworten.
Was hast Du veröffentlicht?
Im Blog habe ich mich ein bisschen über den infantilen Begriff „Ampel-Aus“ aufgeregt (Öffnet in neuem Fenster), der zum „Wort des Jahres“ erklärt wurde, bei dem ich mich aber immer beim Verkehrskasper für Vorschulkinder wähne.
Was hast Du gehört?
Meine traditionelle Spotify-Playlist (Öffnet in neuem Fenster) mit Weihnachtssongs, die nach wie vor regelmäßig aktualisiert wird.
Was hast Du gesehen?
„The Holdovers“. In dem Film von Alexander Payne aus dem vergangenen Jahr spielen Paul Giamatti, Dominic Sessa und Da’Vine Joy Randolph respektive einen Lehrer, einen Schüler und eine Köchin, die die Weihnachtsfeiertage in einer privaten High School an der Ostküste verbringen. Es ist wunderbar unaufgregter, herzerwärmender Film, der mich auf verschiedenen Ebenen an „Rushmore“, „Der Eissturm“, „Away We Go“ und „Der Fänger im Roggen“ erinnert hat.
Es ist, wie der Regisseur mal angemerkt hat, kein Weihnachtsfilm, sondern einer, der zufällig an Weihnachten spielt, aber der Dezember ist natürlich der perfekte Zeitpunkt, um ihn sich anzusehen (aktuell im Abo enthalten bei WOW (Öffnet in neuem Fenster)/Sky Cinema).
Außerdem, wie jedes Jahr, „A Charlie Brown Christmas“ bei Apple TV+ (Öffnet in neuem Fenster).
Was hast Du gelesen?
Wer mit Kindern zu tun hat, weiß: Dinosaurier und Einhörner sind - mal wieder oder immer noch - der Heiße Scheiß. Aber wie konnten real existierende Urzeittiere und mutmaßlich fiktionale Lebewesen so eine Macht werden, die darüber hinaus auch noch die Geschlechter-Dichotomie verstärkt? Priya Khanchandani gibt einen Crashkurs in die Kulturgeschichte der Dinosaurier und Einhörner im „Prospect Magazine“ (Öffnet in neuem Fenster).
Nick Hornby hat (natürlich) auch einen Newsletter, in dem er letzte Woche über Kulturtkritik geschrieben (Öffnet in neuem Fenster) hat — vor allem im Literaturbetrieb, aber auch in Form von Online-Rezensionen und Musik, die mit drei von fünf Sternen zum „Album der Woche“ ernannt wird. Seine Kernaussage ist eine, die ich relativ unumwunden teile (Öffnet in neuem Fenster): „How about this? If you don’t like something, don’t write about it. Choose love, and enthusiasm, and something else to read.“
Außerdem: Ein später, aber heißer Anwärter auf gute Platzierungen im Ranking der Geschichten und Überschriften des Jahres: „US woman caught with golden gun in luggage at Sydney airport jailed for a year“ im „Guardian“ (Öffnet in neuem Fenster).
Was hast Du gelernt?
Die Angst vor langen Wörtern heißt Sesquipedalophobie.
Was hat Dir Freude bereitet?
Die Sperrung der A40 in Bochum wegen Brückenbauarbeiten ist nach rund vier Monaten aufgehoben und die Menschen in der Stadt haben das gefeiert (Öffnet in neuem Fenster), als habe der VfL mal überraschend einen Punkt geholt.
https://www.youtube.com/watch?v=lnUKUqOORR0 (Öffnet in neuem Fenster)Ein Song, der erstaunlich viele Aspekte dieser Newsletter-Ausgabe abdeckt. Wer alle entdeckt, darf sich aufmerksam nennen!
Habt ein schönes drittes Adventswochenende!
Always love, Luki