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Morgens Utopia, abends Antiklimax

Die Verletzten sollen die Ärzte sein
Die Letzten sollen die Ersten sein
Die Ersten sehen als Letzte ein:
The Geek shall inherit the earth
(Wir Sind Helden)

119/∞

Hallihallo, da bin ich wieder!

„Schaut Euch das mal an“, rief unser Fahrer ganz begeistert aus und gestikulierte großflächig in Richtung der Menschenmassen, die sich entlang der Hauptstraße und in Richtung des Eurovision Village schoben. „Menschen von überall her kommen hier zusammen, um eine gute Zeit zu haben! Es ist ein Utopia, wie wir alle leben könnten! So sollte es immer sein — oder wenigstens jedes Wochenende!“

So viel Humanismus und Menschenliebe hatten wir nicht unbedingt erwartet auf der letzten, rund zwei Kilometer langen Fahrt zur M&S Bank Arena, aber hier saßen wir, auf dem Weg zur Arbeit, und mussten dem Mann am Lenkrad zustimmen: die Stimmung hier in Liverpool war wirklich außergewöhnlich warmherzig und friedvoll, selbst für so einen ESC-Finaltag.

Wien, Stockholm und Lissabon sind zweifellos schöne Städte; Tel Aviv hatte in seiner ganz eigenen Tonart geflirrt — aber das tat es, wenn man den Ausführungen unserer dortigen Fahrer glauben durfte, wohl immer, unabhängig von irgendwelchen Großereignissen. Und in Düsseldorf waren die Menschen auch durchaus in Stimmung gewesen, aber es war diese etwas aufgekratzte, karnevalistische Fußball-WM-Euphorie gewesen, so entspannt wie ein BWL-, Jura- oder Sportstudent, der auch beim Feiern noch zeigen möchte, was für ein toller Hecht er eigentlich ist, wenn er nicht gerade … nun ja: feiern muss.

Liverpool war da ganz anders und mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, was Ian McKellen über (das ja nun wirklich nicht weit entfernte) Manchester gesagt hatte (Öffnet in neuem Fenster), wo erwachsene Männer einander ganz selbstverständlich mit „Love“ anredeten, was die Leute in Liverpool auch tun. Es war ein wohliges Gefühl, dieser bunte, absurde Popkultur-Wanderzirkus passte perfekt hierhin und ich war selbst ganz überrascht, als ich irgendwann merkte, dass ich gerade „Och, hier könnte ich mir auch vorstellen zu leben“ gedacht hatte.

So gesehen endete unser Abend in einer Lehrbuchdefinition des Begriffs „Antiklimax“. Und das war dann Peter Urbans letzter ESC gewesen.

Ich habe ungefähr nichts gelesen, gehört oder geschaut, was irgendjemand anschließend darüber veröffentlicht hat (wobei das Video (Öffnet in neuem Fenster), in dem Matt Wrather von „Overthinking It“ erklärt, warum der ESC seiner Meinung nach ein Jury-Problem habe, das Jury-Problem des ESC meiner Meinung nach ganz gut zusammenfasst). Ich bekam noch mit, dass sich der deutsche Kommentator von 1989 irgendwo geäußert hatte, aber nicht mehr, wie. Ich legte mich lieber mit 39 Grad Fieber ins Bett, schlief einen ganzen Tag durch und dachte hinterher: „Ja, okay: Covid. Uncool. Aber immerhin muss ich nicht Thomas Gottschalk sein.“

Was auch sehr schön war an Liverpool bzw. dem Vereinigten Königreich an sich: Man konnte dort überall mit Apple Pay und Kreditkarte bezahlen. Mehr noch: Es war an etlichen Orten wie der Hotelbar schlicht unmöglich, Bargeld loszuwerden. Nach sechs Tagen bemerkte ich, dass ich mein Portemonnaie offenbar nur noch bei mir trug, weil ich sonst alle fünf Minuten beim reflexhaften Abklopfen meiner rechten Gesäßtasche einen kleinen Herzstillstand erlitten hätte — gebraucht habe ich das dicke Ding, das Hosentaschen und die eigene Haltung kaputt macht, nämlich nie. (Kehrseite dieser ungemein praktischen Situation: Man hat natürlich nie Kleingeld für Obdachlose mit dabei — an dieser Stelle muss sich noch etwas tun.) Für Menschen, die - wie ich - aus einem Kundenservice-Entwicklungsland kommen, in dem es immer noch nicht möglich ist, an einer Zapfsäule zu bezahlen, eine durchaus erfrischende Erfahrung. 

Gestern Abend kam die Nachricht, dass Tina Turner im Alter von 83 Jahren gestorben ist. Eine Meldung, die mich sehr traurig gemacht hat — hatten ihre Songs der 1980er und frühen 1990er Jahre doch fast wie Möbel in mein Elternhaus gehört. Ich habe meine halb-sortierten Gedanken zu Tina Turner und ihrer Musik heute Morgen im Blog niedergeschrieben: coffeeandtv.de (Öffnet in neuem Fenster)

Was macht der Garten?

Hilfe, warum wachsen die Radieschen und die Salatköpfe so schnell?! 

Was hast Du gehört?

Ich habe in den letzten Monaten so viele Alben gehört, über die ich hier noch gar nicht geschrieben habe! (Dafür habe ich über viele in meiner kleinen Musiksendung (Öffnet in neuem Fenster) auf Spotify gesprochen, von der gerade gestern eine neue Folge (Öffnet in neuem Fenster) erschienen ist.)

Also: Da ist zum Beispiel „Past // Present // Future“, das Debütalbum der großartigen Meet Me @ The Altar (Fueled By Ramen; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)). Wenn Ihr auf Pop-Punk zwischen Avril Lavigne und Blink-182 steht und es verkraftet, wenn Musikerinnen signifikant jünger sind als Ihr selbst, seid Ihr dort richtig!

Dann haben meine Helden von The Hold Steady Ende März mit „The Price Of Progress“ (Positive Jams; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) ihr neuntes Album veröffentlicht. Offenbar haben sie beim Songwriting einiges an Blues, Jazz und von The Who gehört — jedenfalls ist das Album musikalisch eine überraschende Erweiterung der manchmal doch arg gradlinigen Rocksongs der Band. Textlich ist Craig Finn eh immer noch einer der besten Geschichtenerzähler des amerikanischen Rock’n’Roll.

Auch Andrew McMahon, mein musikalischer Wegbegleiter (Öffnet in neuem Fenster) seit 20 Jahren, hat mit „Tilt At The Wind No More“ (Nettwerk; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) ein neues Album rausgehauen. Es ist arg poppig-dünn geraten und verhandelt offenbar eine schwerwiegendere Beziehungskrise — da spricht nicht so richtig viel zu mir, aber in all diesem Rauschen hat Andy dann wieder ein Meisterwerk wie „Nobody Tells You When You’re Young“ (Öffnet in neuem Fenster) versteckt, das mich mit offenen Armen abholt und mitnimmt, dass mir der Rest schon wieder egal ist.

boygenius, die Supergroup aus Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus, hat mit „the record“ (Interscope; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) ihr Debütalbum veröffentlicht, das zwischen Acapella-Folk und 90’s Alternative ungefähr in jeder Ecke vorbeischaut, in der sich große Emotionen verstecken könnten. Es ist das, was man sich von solchen Kollaborationen erhofft: Jede der drei Musikerinnen darf für sich scheinen, aber gemeinsam ist es mehr als die Summe der einzelnen Teile.

Außerdem hat Amilli, Bochums regierende Indiepop-Prinzessin, vor zwei Wochen endlich ihr Debütalbum veröffentlicht: „SOAMI“ (das ist nicht Finnisch, sondern „So Am I“ in Großbuchstaben zusammengeschrieben; you’re welcome!) (MIGHTKILLYA; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) ist wunderbar laid-back, mit genug Anleihen bei R&B, HipHop, Drum ’n’ Bass und Soul, um die ganze Zeit über interessant zu bleiben. 

Und schließlich habe ich „The Coldest Case in Laramie“ (Öffnet in neuem Fenster) gehört, die neueste Podcast-Produktion aus dem Hause Serial Productions (also die Leute, die das Medium Podcast quasi im Alleingang großgemacht haben) und der „New York Times“. Wie schon bei so vielen Reihen davor zeigen die Macher*innen hier mit einer Leichtigkeit, hinter der eine Menge harter Arbeit stecken muss, wie man eine gute Podcast-Reihe macht; wie man das arg problematische Genre „true crime“ angeht, ohne dass man sich als Zuhörer*in wie ein Voyeur oder gar ein Depp fühlen muss, der verkatert mitten in einen Tatort geschlurft ist; und was generell so möglich ist, wenn sich das Publikum nicht mit „Zwei weiße Männer über 50 stimmen sich ungeschnitten gegenseitig zu“ zufrieden geben würde. (Auch traurig, dass jede ausländische Podcast-Produktion, die ich lobe, dazu führt, dass ich wütend-verzweifelt über die deutsche Podcast-Landschaft herziehe, ne?)

Was hast Du gelesen?

Benjamin von Stuckrad-Barre hat - nur, falls Ihr die letzten Monate unter einem Stein verbracht haben solltet, was, seien wir ehrlich, im Großen und Ganzen eine sehr vernünftige Idee gewesen wäre - im April ein neues Buch veröffentlicht, das „Noch wach?“ heißt und von merkwürdigen Männern, die den Knall nicht gehört haben, Machtmissbrauch, Männerfreundschaften und Frauen, die sich zusammentun, handelt. Die Reaktionen der deutschen Medienlandschaft auf dieses (sehr gute) Buch wären gut dazu geeignet, den Resignations-Anfall, den ich vor zehn Zeilen aus Podcast-Gründen erlitten habe, gleich nochmal in einer anderen Tonart zur Aufführung zu bringen, aber - hier mal eine gute Nachricht - das bleibt uns allen heute erspart. Ich habe einen solchen Anfall nämlich schon vor einem Monat ins Blog gekippt: coffeeandtv.de (Öffnet in neuem Fenster)

Was hast Du gesehen?

Ich wollte mal ein paar Filme nachholen, über die ich als aufmerksamer Leser der Film-Zeitschrift „Cinema“ in den 1990er Jahren schon alles wusste — bis auf dass ich sie halt nie gesehen hatte: „Crimson Tide“ (Disney+ (Öffnet in neuem Fenster)), dieser Don Simpson/Jerry Bruckheimer-U-Boot-Thriller, ist tatsächlich auch fast 30 Jahre später noch erstaunlich packend. „Mad City“ (Prime Video (Öffnet in neuem Fenster), wo es offenbar kaum noch Filme in Originalsprache und damit immer weniger Gründe für eine Abo-Verlängerung gibt) ist eine eher unrunde Mischung aus Thriller und jener Sorte Medien-Satire, die in den 1990er Jahren versuchten, mit den Entwicklungen und Ungeheuerlichkeiten des Fernsehens mitzuhalten und dabei nur scheitern konnten. Da hatte ich tatsächlich hinterher das Gefühl, bei der Lektüre 1997 schon alles darüber erfahren zu haben.

https://www.youtube.com/watch?v=kGeCeK85sUg (Öffnet in neuem Fenster)

Diesen absolut phantastischen Song habe ich erst letzten Monat für mich entdeckt — und wie toll ist es, dass man immer noch großartige Sachen entdecken kann, die älter sind als man selbst?!

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Habt eine schönes Wochenende!

Always love, Lukas

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