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Vorwürfe, Eisberge, Spaß und Inneneinrichtung

Pleased to meet you
Hope you guess my name
But what's puzzling you
Is the nature of my game
(The Rolling Stones)

120/∞

Gute Nacht, Deutschland!

Mein nächster Kontakt zur Band Rammstein bestand darin, dass ich Gianna Nannini bei einer Probe zur ECHO-Verleihung 2011 beigebracht habe, zum Zwecke einer Preisübergabe den Namen der Band möglichst authentisch auszusprechen — was, seien wir ehrlich, bei einer Italienerin, die das R sowieso schon rollt, eine überschaubar komplexe Aufgabe war. Als ich dann später mit einigen Kolleg*innen auf die Aftershowparty ging, waren das Erste, was ich sah, Till Lindemann und einer der Ochsenknecht-Söhne, und ich weiß noch, dass ich dachte, dass ich jetzt doch gerne lieber irgendwo ganz anders wäre.

Die Musik von Rammstein konnte ich immer nur in kleinen Dosen ertragen, aber ihre Liveshows, dokumentiert in mehreren sehr guten Konzertfilmen, waren natürlich immer etwas besonderes. Ich finde es auch grundsätzlich erstmal spannend, wenn Künstler*innen weitreichende Entscheidungen treffen, sich ihre eigene Welt erschaffen und mit Tabus spielen. (Ich bin alt genug, um mich zu erinnern, welche Kontroversen der Bandname und der gleichnamige Song damals ausgelöst haben.) Eine Kunst, die sich nur am „guten Geschmack“ orientiert, wäre langweilig. Aber: Aus großer Macht folgt große Verantwortung — und wenn Du es mit Provokation zu immensem Mainstream-Erfolg geschafft hast, gerinnt sie fast zwangsläufig zum Ritual, zur Pose, zum Fünf-Jahres-Businessplan, der das Ganze weiter „skalieren“ soll. Also quasi Deutschrap mit anderem Sound. Oder halt Ballermann-Schlager. (Das Rammstein-Zitat „Manche führen, manche folgen“, das man im Ruhrgebiet auf vielen Auto-Aufklebern und Nummernschildhalterungen lesen kann, halte ich dennoch für eine der interessanteren Erscheinungen deutscher Popkultur, weil es so schön eindeutig markiert, in welche der beiden Kategorien der Fahrzeughalter fällt. Es ist wie ein „Böhse Onkelz“-Logo, das ein paar Tage in der Nähe einer Uni verbracht hat, oder die martialische Variante der Tinder-Profil-Selbstbeschreibung „ein bisschen verrückt“.)

Warum erzähle ich Euch das alles? Ich hab keine Ahnung. Wie Ihr sicherlich alle mitbekommen habt, ist in den letzten Wochen eine wahre Lawine von Vorwürfen über die Band bzw. über ihren Sänger Till Lindemann hereingebrochen.

Dass solche Geschichten, die wir hier aus juristischen Gründen „Vorwürfe“ nennen wollen, irgendwann auch über die deutsche Rockmusikszene an die Öffentlichkeit kommen würden, war zu erwarten gewesen — warum sollte es dort anders zugehen als andernorts (Öffnet in neuem Fenster)? Ich war aber, ehrlich gesagt, trotzdem erstmal überrascht: Zum einen, weil ich das Gebaren der Band und Till Lindemanns, soweit ich es aus der Ferne mitbekommen hatte, immer für ein zumindest an-intellektualisiertes Spiel (s.o.) gehalten hatte. Zum anderen konnte und wollte ich mir einfach nicht vorstellen, dass jemand im Jahr 2023 so abgrundtief blöde sein würde, solche Parties derart großflächig organisieren zu lassen. Ich hatte wirklich (mutmaßlich: naiverweise) angenommen, dass sich nach Harvey Weinstein, Jeffrey Epstein und R. Kelly niemand mehr sicher sein könnte, dass sein schändliches Verhalten nicht auffliegen würde. Aber aus großer Macht folgt offenbar auch ein Gefühl der Unbesiegbarkeit.

Was folgte, war ein Film, den wir alle schon viel zu oft gesehen hatten: Fans der Band hantierten auf Social Media ungelenk mit dem Begriff „Unschuldsvermutung“ (als ob widerliches Verhalten nicht auch außerhalb etwaiger Straftatbestände widerlich sein könnte), die eigene Bubble teilte Zitatkacheln von Aktivist*innen, die immer wieder bei Null anfangen (müssen), und Medien verhoben sich am Konzept „Lyrisches Ich“.

Der Tocotronic-Bassist Jan Müller hat in seiner Kolumne im „Musikexpress“ aufgeschrieben (Öffnet in neuem Fenster), warum er Rammstein, mit denen Tocotronic eine zeitlang label mates waren, schon immer „geschmacklos“ fand. Ich kann vieles an dem Text verstehen, auch wenn mein eigenes Bild von der Band wie gesagt bisher ein bisschen anders war; aber ich sehe in dieser Erklärstrategie auch eine gewisse Gefahr: Zum einen, weil sie (womöglich unabsichtlich) das uralte, platte Narrativ bedient, dass „Freaks“, die vom Mainstream abweichen, gefährlich seien — und im Zweifelsfall eben nur die. Zum anderen, weil man es sich dann hinter einem „Ich fand den immer schon seltsam“ bequem machen kann, während einer der prominentesten #MeToo-Fälle der US-amerikanischen Rockmusikszene der bis dato eher als sympathisch-verpeilter Romantiker bekannte Ryan Adams war (s.a. Newsletter No. 44 (Öffnet in neuem Fenster)). Ich habe deshalb eher an die große „Rolling Stone“-Reportage (Öffnet in neuem Fenster) über Marilyn Manson von 2021 denken müssen, dem auch sexuelle Übergriffe, psychische Manipulation und andere Übergriffe vorgeworfen werden (s.a. Newsletter No. 96 (Öffnet in neuem Fenster) — schon ein bisschen erschreckend, wie viel ich zu dem Thema schon alles im Archiv habe, ne?), und in der es an zentraler Stelle heißt, irgendwann habe er den Schock-Rocker nicht mehr gespielt, sondern sei zu diesem geworden.

Joachim Hentschel hat für die „Süddeutsche Zeitung“ (online hinter der Bezahlschranke (Öffnet in neuem Fenster)) einen größeren Text geschrieben, in dem er vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion versucht, dass Konzept „Groupies“ zu differenzieren und historisch einzuordnen. Der zentrale Satz: „Wer als Frau am Rock‘n’Roll-Leben teilhaben wollte, musste das in der Regel unter Einsatz des eigenen Körpers aushandeln.“

Ebenfalls in der „Süddeutschen Zeitung“ (ebenfalls hinter der Bezahlschranke (Öffnet in neuem Fenster)) hat Nils Minkmar über das Konzept „Stars“ meditiert, die wir anhimmeln und denen wir dann vieles durchgehen lassen.

Die Band Madsen hat - als einer von wenigen deutschen Acts in der aktuellen Debatte - in den Sozialen Medien ein Statement (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht, in dem es u.a. heißt: „Natürlich sollen alle das tun dürfen, womit sie sich wohl fühlen, wenn es einvernehmlich passiert. Menschen, die im Rampenlicht stehen und angehimmelt werden, müssen sich allerdings ihrer Wirkung und Macht bewusst sein. Denn zwischen Rockstar und Fan gibt es definitiv ein Machtgefälle, das unter keinen Umständen ausgenutzt oder missbraucht werden darf.“

Und in der „Rheinischen Post“ (auch hier: Bezahlschranke (Öffnet in neuem Fenster) — wir Journalist*innen müssen ja auch Miete zahlen) hat Philipp Holstein einige Stimmen zusammengetragen, die das ganze Konzept „Rock’n’Roll“ und die Rolle der Frau darin noch mal historisch-kritisch beleuchten. Darüber sollte man auch noch mal nachdenken, wenn man bestimmte Evergreens von Guns ’n’ Roses, AC/DC oder den Rolling Stones hört — und selbst im Frühwerk von mir hochverehrter Bands wie Ben Folds Five (Öffnet in neuem Fenster) oder Something Corporate (Öffnet in neuem Fenster) finden sich Songs, die man heute durchaus als problematisch bezeichnen könnte.

Am Ende bleibt das deprimierende Gefühl, immer nur die Spitze des Eisbergs zu sehen: Klar denke ich jedes Mal „Urghs!“, wenn ich Johnny Depp sehe, aber ja auch nur, weil ich von ihm aktenkundig weiß, wie er sich privat verhält (oder: mal privat verhalten hat). Von wie vielen Menschen, deren Arbeit ich womöglich verehre, weiß ich das nicht?

In Fernsehmagazinen blicken die Moderator*innen an dieser Stelle noch eine Sekunde betroffen in Kamera 1, dann folgt ein Umschnitt auf Kamera 2, eine leichte Drehung des Kopfes, die Andeutung eines Lächelns und ein völlig anderes Thema, weil das Leben eben nun mal manchmal so ist, dass darin schwere Verkehrsunfälle und runde Geburtstage von Schlagersänger*innen vorkommen. (Gut: Es gibt auch Sendungen, in denen man versuchen würde, in einer launigen Doppelmoderation eine flüssige Überleitung von den Toten zur Torte zu schlagen.)

Das Kind musste neulich für ein Schulprojekt ein Haus aus Naturmaterialien bauen. Also haben wir im Wald Stöcker, Steine, Moos und Rinde gesammelt, Löcher in eine Holzplatte gebohrt und ein Haus gebaut. Als Kind eines Architekten, das gerade im Kindergartenalter recht viel Zeit in Architekturbüros verbracht und dort auch einige Modelle gebaut hat, war ich sehr in meinem Element. Ich musste mich ein paar Mal bremsen, weil der Klassenlehrer in einer E-Mail extra geschrieben hatte, dass die Kinder das Projekt mit „möglichst wenig Hilfe“ bearbeiten sollten. Und ich habe mich gefragt, warum ich etwas, was mir als Kind so viel Spaß gemacht hat, als Erwachsener eigentlich nicht mehr mache.

Klar, manche Sachen erübrigen sich irgendwann: Warum sollte ich noch „Auto fahren“, „Pizza backen“ oder „ESC-Punktevergabe“ spielen? Und vielleicht ist „Um den Tisch rennen und lachen, bis Apfelschorle aus der Nase kommt“ nicht der angemessenste Weg, um als Erwachsene*r einen Geburtstag zu feiern. Aber ich vermute, Ihr werdet alle etwas haben, was Ihr als Kinder gerne gemacht habt, was Euch theoretisch auch heute noch großen Spaß bereitet, was Ihr aber einfach nie tut.

Oder, etwas später, als wir alle in Bands gespielt haben. Irgendwann war klar, dass es das mit der großen Rockstarkarriere nichts werden würde (was, s.o., vielleicht auch ganz gut so war), und seitdem verbringt man seine Freizeit mit gleichaltrigen Menschen, trinkt vielleicht zwei Gläser Wein und redet über Olivenöle und Gewürzsalze. Wenn man das wirklich fühlt: cool! Aber warum nicht mal wieder die alte Akustikgitarre (die bitte und unter gar keinen Umständen „Klampfe“ zu nennen ist — in diesem Fall wirklich direkt: Gitarre am eigenen Kopf kaputt hauen und in der Feuerschale im Garten verbrennen, während man über Fondssparen und Elektroautos spricht) rausholen, die Hits der eigenen Jugend spielen oder versuchen, neue Songs zu schreiben über Menschen, mit denen man mal befreundet war und die jetzt über Gewürzsparen und Olivenautos sprechen? Und warum empfinde selbst ich erstmal eine innere Abwehrreaktion, wenn ich höre, dass erwachsene Menschen, die keine Musikkarriere hingelegt haben, noch in Bands spielen? (Und warum spüre ich bei der semantischen Nähe von Akustikgitarren und Feuerschalen den Geschmack von Erbrochenem? Weil die nächste Eskalationsstufe dann „Arbeiterlieder singen auf der Burg Waldeck“ ist?)

Ich habe 2021, nach vollen zwölf Monaten Lockdown, wieder angefangen, Songs zu schreiben und sie aufzunehmen. Werde ich damit noch reich und berühmt werden? Letzteres wohl kaum, ersteres heutzutage auf keinen Fall. Werde ich je fertig werden und den Kram veröffentlichen? Ich hoffe schon (und Ihr würdet es hier erfahren). Macht es mir jedes Mal großen Spaß, wenn ich zu meiner eigenen Überraschung nicht nur einen originellen Basslauf erdacht, sondern ihn auch nach vielen, vielen Versuchen irgendwann fehlerfrei eingespielt habe? Fuck yeah!

Ich hatte mal eine Postkarte mit der recht schlichten Aufforderung „Do more of what’s making you happy“ an der Wand hängen. Im Zuge einer der vielen Umdekorierungen unserer Wohnung habe ich sie abgenommen und nicht wieder aufgehängt — ein Teil von mir wusste, dass alles, was Möbel ist, von mir sowieso nicht mehr wahrgenommen wird; ein anderer, Schulhof-zynischer Teil von mir hatte Angst, dass sich als nächste Evolutionsstufe ein „Live Love Laugh“-Wandtattoo im Wohnzimmer materialisieren würde oder ein Pressspanbrett, das wie Treibholz aussehen soll und auf dem „Home is where your heart ist“ steht. (Es gibt wirklich wenige Gebiete, auf denen ich mich stärker konzentrieren muss, nicht zynisch zu werden, als bei Inneneinrichtung. Wenn ich mir selbst ein paar Mal zugerufen habe, dass ein Fußabtreter mit der Aufschrift „Manche nennen es Chaos, wir nennen es Familie“ zwar konzeptionell nah dran ist am siebenfach kopierten „Man muss nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten, aber es hilft“ in der Teeküche einer deutschen Behörde, aber faktisch ja etwas ganz anderes ausdrückt - nämlich hier letztlich irgendwie: Liebe -, geht es meistens wieder.) Aber jetzt erinnert mich eben nicht mal mehr eine Postkarte daran, öfter etwas zu tun, was mir Spaß macht.

Manchmal denke ich mir dann, dass ich vielleicht der Einzige bin, der erst merkt, was ihm fehlt, wenn die fehlenden Dinge wieder da sind (Öffnet in neuem Fenster). Und dann sehe ich gestresste Menschen im Straßenverkehr, an der Supermarktkasse oder im Internet und habe den Verdacht, dass diese Menschen offenbar auch schon länger nicht mehr das gemacht haben, was ihnen Spaß macht.

Und wir sollten bitte, bitte aufhören, uns über erwachsene Menschen lustig zu machen, die Spaß daran haben, ganze Wohnungen mit Städten aus Klemmbausteinen zu befüllen und den Fortschritt in Internet-Videos zu dokumentieren (mindestens ein Zwischenruf aus der linken Bubble: „Aber die Wohnungsnot!“) oder durchs ganze Land zu reisen, um alte Lokomotiven vor Kalenderblattlandschaft zu fotografieren! Menschen, die gerade mit 18-seitigen Würfeln die Wege irgendwelcher Zwerge erarbeiten, können nicht gleichzeitig den Umsturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vorantreiben. (Ja, ja: Auch in der Computerspiele-Szene gibt es menschenverachtende (Öffnet in neuem Fenster) Tendenzen (Öffnet in neuem Fenster), aber you get the idea.)  

Was macht der Garten?

Wir haben die ersten eigenen Erdbeeren des Jahres gegessen! Und Burger mit eigenen Salatblättern belegt. Und ich habe einen Himbeerstrauch gekauft und hoffe einfach mal, dass der auch im Topf ordentlich gedeihen und Früchte tragen will.

Was hast Du gehört?

Der Freitag vor zwei Wochen war der vielleicht bedeutsamste release day aller Zeiten — zumindest für mich: Am 2. Juni 2023 erschienen die neuen Alben von den Foo Fighters, Ben Folds und Noel Gallagher’s High Flying Birds. Also alles Acts, die ich (wenn auch unter anderem Namen (Öffnet in neuem Fenster)) vor 20 Jahren schon gehört habe. 

Die Foo Fighters haben nach dem Tod ihres Schlagzeugers Taylor Hawkins und von Dave Grohls Mutter Virginia ein fassungsloses, trauriges, wütendes, tastendes, am Ende aber auch Trost findendes und spendendes Traueralbum namens „But Here We Are“ (Roswell Records; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) aufgenommen. Es ist ihr bestes seit über 20 Jahren und erinnert mich sehr an „There Is Nothing Left To Lose“, mein absolutes Lieblingsalbum von ihnen.

Ben Folds hat, streng genommen, sein erstes Soloalbum seit 15 Jahren veröffentlicht: „What Matters Most“ (New West Records; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) ist ein Kommentar zum Zeitgeschehen — etwas, was ich in der Popmusik eigentlich immer schwierig finde, was aber in Ausnahmefällen (z.B. „Ich vs. Wir“ von kettcar) auch grandios geraten kann. Bei Folds ist es ein kluger, aber auch empathischer Blick auf den überstandenen Lockdown, Internet-Hater und Liebe im 21. Jahrhundert geworden. Nicht sein bestes Album, aber ein sehr gutes.

„Council Skies“ von Noel Gallagher’s High Flying Birds (Sour Mash Records; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) ist ein sehr solides Album geworden, bei dem mir die Songs in Einzeldosen seltsamerweise besser gefallen als im Album-Kontext. Der einzige Kritikpunkt daran wäre, dass Noel Gallagher mit Oasis halt zwei, drei Alben für die Ewigkeit geschaffen hat, die für mich dann irgendwie immer noch interessanter sind.

Das beste Album dieses historischen Freitags kommt aber von einem Act, von dem ich vor zwei Monaten noch nie gehört hatte: Bully ist die Ein-Mann-Band von Alicia Bognanno und „Lucky For You“ (Sub Pop; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) ist das vierte Album von Bully. Man hört definitiv viele Einflüsse aus dem Alternative Rock der 1990er Jahre heraus und trotzdem ist es kein Retro-Album, sondern eines, das ganz im Hier und Jetzt verankert ist: roh, energetisch, aufrichtig.

Über diese Alben habe ich auch in der aktuellen Folge meiner kleinen Musiksendung Coffee And TV (Öffnet in neuem Fenster) gesprochen. Dort könnt Ihr Songs aus allen vier Alben hören und noch mehr.

Was hast Du gesehen?

Bevor ich mich mutmaßlich bald bei Netflix abmelde, habe ich mal ein paar Sachen von meiner „Das wolltest Du Dir irgendwann vielleicht mal angesehen haben“-Liste geschaut: Den Film „Die Schlacht um die Schelde“ (Öffnet in neuem Fenster), die zweitteuerste niederländische Produktion aller Zeiten, hatte ich aus zwei Gründen sehen wollen: zum einen, um mein Niederländisch zu trainieren, zum anderen, weil die titelgebende Schelde bei Walcheren in die Nordsee mündet, also dort, wo ich seit Jahrzehnten am Liebsten meine Urlaube verbringe. Die Schlacht an der Scheldemündung (Öffnet in neuem Fenster) diente der Befreiung des Hafens von Antwerpen, den die Westalliierten für ihre Nachschubversorgung brauchten, und war insofern eine der vielen entscheidenden Schlachten des 2. Weltkriegs. Zwischen „Der Soldat James Ryan“-ähnliche Schlachtenszenen erzählt der Film eher kleine, alltägliche Dramen, die in keinem Geschichtsbuch vorkommen würden, von denen man aber annehmen muss, dass es sie tausendfach gegeben hat. Unter anderem wird der Topos „charismatischer Nazi“ von Justus von Dohnanyi hier noch mal sehr gruselig neu mit Leben gefüllt. Tatsächlich wird in dem Film weniger Niederländische gesprochen als Deutsch und Englisch (in der deutschen Synchronfassung sprechen mutmaßlich wieder alle die ganze Zeit Deutsch, weil das halt immer so ist), aber ich fand ihn schon recht beeindruckend und bedrückend.

Ebenfalls bei Netflix läuft die 40-minütige Dokumentation „The Martha Mitchell Effect“ (Öffnet in neuem Fenster). Martha Mitchell war die Ehefrau von John N. Mitchell, dem Wahlkampfmanager Richard Nixons und späterem US-Justizminister, und als der Watergate-Skandal begann, begann sie sofort, Präsident Nixon selbst zu beschuldigen. Martha Mitchell wurde von den mächtigen Männern in Washington diskreditiert und als alkoholkranke mad woman abgestempelt. Ihr Ruf und ihre Ehe waren ruiniert, sie starb bald darauf — und fast alle Vorwürfe, die sie erhoben hatte, stellten sich im Nachhinein als wahr heraus (die anderen gelten als noch nicht bestätigt). Auch dieser Film ist beeindruckend und bedrückend und auch handwerklich sehr gut gemacht.

Auch der Dokumentarfilm „Circus Of Books“ (Öffnet in neuem Fenster) läuft auf Netflix. Die Regisseurin Rachel Mason erzählt hier die Geschichte ihrer Eltern Karen und Barry, die als jüdisches Hetero-Paar einen der bedeutendsten Läden für schwule Literatur und Pornografie in LA betrieben haben. Wie es dazu kam, ist absurd; wie sich konservative Politik und die AIDS-Epidemie auf die Arbeit und das Leben der Familie auswirkte, ist erschütternd; und welche Folgen das Internet und Dating Apps für das Geschäft haben, kann man sich ausmalen. Dies alles aus nächster Nähe von der Familie geschildert zu bekommen, ist sehr beeindruckend.

Bei Disney+ schließlich habe ich „In & Of Itself“ (Öffnet in neuem Fenster) gesehen. Ich hatte schon einiges darüber gehört, meist verbunden mit dem Hinweis, dass man nicht erklären könne, was das sei. Das stimmt. Formal ist es der Mitschnitt einer Show des Zauberers Derek DelGaudio, die 552 mal in einem kleinen Theater in New York City zur Aufführung gekommen war. DelGaudio zeigt darin Taschenspielertricks, er erzählt Teile seiner Lebensgeschichte und sorgt später für im vielfachen Sinne magische Momente. Es ist für Zauberei in etwa das, was „Nanette“ von Hannah Gadsby (s.a. Newsletter No. 41 (Öffnet in neuem Fenster)) für Comedy ist: eine völlige Dekonstruktion und ein Sprung auf die nächste Daseinsstufe (und das exakte Gegenteil von den Ehrlich Brothers bzw. Mario Barth). Ich kann es leider auch nicht erklären, aber darum geht es ja: Im Sinne von Elisabeth Kübler-Ross bin ich recht schnell von denial zu acceptance gesprungen und habe gar nicht mehr versucht, zu verstehen, wie die Tricks funktionieren könnten. Ich war Fox Mulder: I want to believe. Jedenfalls hatte ich vorher lange nichts mehr gesehen, was mich so fasziniert und glücklich zurückgelassen hat. Selbst wenn Euch Zauberei gar nicht interessiert, solltet Ihr Euch „In & Of Itself“ anschauen! (Nicht zuletzt, weil es eine wahnsinnig spannende Erfahrung ist, von einer title card aufgefordert zu werden, sein Handy wegzulegen und alle Ablenkung zu unterlassen.)

Was hast Du gelesen?

Für das „New York Times Magazine“ hat Brian Dillon über die kleinen Zeitmaschinen geschrieben (Öffnet in neuem Fenster), die wir (womöglich) alle zuhause haben: alte Zeitschriften. Wer die Welt von vor 20, 30, 50 Jahren wirklich verstehen will, so seine These, sollte sich Magazine aus dieser Zeit anschauen.

Was hast Du gelernt?

Das, was man in Deutschland als „Triple“ bezeichnet (also z.B. der Gewinn von nationaler Liga, nationalem Pokal und Champions League durch eine Mannschaft innerhalb einer Saison), heißt auf Englisch „treble“ (Öffnet in neuem Fenster).

https://www.youtube.com/watch?v=r1vwxGvD3yU (Öffnet in neuem Fenster)

Was für ein großartiger Song!

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Habt ein schönes Wochenende,

Euer Lukas

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