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Unter die Haut

Tätowiererin in Japan

Tattoos haben in Japan ein schlechtes Image. Doch das ändert sich allmählich. Immer mehr junge Menschen lassen sich tätowieren. Und bei den Indigenen Ainu spielen Frauen eine ganz besondere Rolle in der Tattoo-Kultur.

Von Eva Casper, Osaka

Wer in Deutschland einen Tattoo-Laden besucht, weiß meist schon am Eingang, was sie oder ihn erwartet: Im Schaufenster werben die Künstler*innen mit Fotos und Zeichnungen von Motiven, es ist bunt und auffällig. All das ist bei dem Studio, in dem Noel Kawahara arbeitet, nicht der Fall. Es liegt im zweiten Stock eines grau-weißen Gebäudes, über zwei Restaurants, die gegrilltes Fleisch anbieten, im Süden Osakas, der drittgrößten Stadt Japans. An der Treppe weist ein kleines, schwarzes Schild auf den Laden hin. 

Wer ein Tattoo möchte, nimmt hier den Hintereingang – einen anderen gibt es auch nicht. Kawahara, 23 Jahre alt, öffnet die Tür: Schulterlange braune Haare, unter ihrem beigen Top blitzen Tattoos hervor. Sie sei sehr nervös wegen des Interviews, sagt sie fast entschuldigend. Das Studio ist eher zurückhaltend eingerichtet: viel Grau, wenig Tageslicht, ein paar Pritschen, die an eine Arztpraxis erinnern. An der Wand hängt eine Japan-Flagge mit dem suchmaschinenoptimiert klingenden Namen des Studios: „Needling Tattoo Osaka Japan“.

Dass Kawaharas Arbeitsplatz so versteckt liegt, passt ganz gut zu dem Image, das Tattoos in Japan haben. Anders als etwa in Deutschland haben sie den Sprung von der Kriminalitätsszene in den Mainstream – noch – nicht vollzogen. Viele heiße Quellen (sogenannte „Onsen“), Bäder oder Fitnessstudios untersagen den Zutritt mit Tattoos oder verlangen, dass sie verdeckt werden. Kawahara kann von ihrem Job trotzdem gut leben. Vor etwa zwei Jahren hat sie angefangen, hier zu arbeiten. Eigentlich wollte sie Balletttänzerin werden, erzählt sie. Doch wegen einer Verletzung am Fuß musste sie aufhören.

Vom Ballett zum Tätowieren

Außerdem sei die Ballett-Welt sehr streng. Ihr Äußeres wurde ständig kommentiert, dadurch habe sie kein Selbstwertgefühl gehabt und sich in ihrem Körper unwohl gefühlt, so die 23-Jährige. Das ändert sich mit ihrem ersten Tattoo: eine Lilie und einen Schmetterling. Sie habe Komplimente bekommen und ihren Körper als schön empfunden. Das Stechen habe auch nicht wehgetan. „Ich war die ganze Zeit über glücklich“, erzählt Kawahara. Die Erfahrung weckte bei ihr den Wunsch, Tätowiererin zu werden.  

Sie sah eine Stellenanzeige ihres heutigen Arbeitgebers und bewarb sich. Am Anfang habe sie nur gezeichnet, später dann das Stechen mit der Maschine auf Silikon geübt. Ihre erste Kundin war ihre Mutter. Sie zeigt ein Foto des Motivs: eine Lilie und Noels Name im Nacken. Sie sei unglaublich aufgeregt gewesen, während ihre Mutter sehr glücklich war. Sie erzählt, dass auch ihr Vater Tattoos möge, sie aber bei seiner Arbeit verboten seien.

Kawahara war selbst überrascht, dass sie in kurzer Zeit so viel Kundschaft bekommt. Im Durchschnitt sind es zehn pro Woche. Ihr Eindruck ist, dass sehr viel mehr Menschen Tattoos tragen, als es auf den ersten Blick scheint. Junge Menschen hätten ein anderes Bild davon als die ältere Generation, so Kawahara. Sie unterscheidet zwischen modernen Motiven und den traditionellen japanischen Tattoos. Gemeint sind damit zum Beispiel großflächige Motive, die den ganzen Rücken und die Arme bedecken und die besonders mit der japanischen Mafia – der „Yakuza“ – in Verbindung gebracht werden.

Die seien bei jungen Menschen eher nicht gefragt. Ihre Kund*innen finden sie hauptsächlich über Instagram, wo sie Motive ihrer Arbeit postet. Meistens seien es Frauen, die zu ihr kommen. Viele wollen kleine Bilder: einen Schmetterling, ein Herz oder einfach nur Linien. Etwas, das man leicht verstecken könne. Sie dagegen möge es, ihre Tattoos in der Öffentlichkeit zu zeigen. In der Bahn komme es deshalb immer wieder vor, dass sich Menschen von ihr fernhielten. Deshalb habe sie immer etwas zum Überziehen dabei.

Die Szene sei in Japan immer noch eher männlich geprägt, erzählt Kawahara. Gleichzeitig gebe es immer mehr Frauen, die Tattoos möchten – und auch wie sie selber Tätowiererin werden. In ihrem Studio arbeiteten insgesamt vier Männer und noch eine weitere Frau. Die „Japan Tattoo Association“ schätzt, dass es im ganzen Land mehr als 3.000 Studios gibt.

Die Kultur der Ainu-Frauen

Wichtig festzuhalten ist: Die Japans Tattoo-Kultur ist sehr viel diverser, als es auf den ersten Blick scheint und dabei spielen Frauen eine entscheidende Rolle. Etwa bei den Ainu, den Indigenen, ist das so. Sie leben auf der nördlichsten Hauptinsel Hokkaido, auf Sachalin und den Kurilen, die heute zu Russland gehören. „Die Bedeutung von Tattoos bei den Ainu ist komplett anders als die moderner Tattoos“, erklärt Kanako Uzawa, die dazu forscht und selbst Ainu ist.

Es gehe weniger um Ästhetik, sondern um Schutz vor Unglück und Krankheiten. Das Tragen von Tattoos und auch das Tätowieren war Sache der Frauen. Sie bekamen meist zu Beginn der Pubertät ihre ersten Tattoos, zum Beispiel auf den Händen, aber auch die Lippen wurden großflächig tätowiert. „Der Mund ist das Körperteil, das der Außenwelt am meisten ausgesetzt ist“, erklärt Uzawa. Zudem gab es den Glauben, dass eine Ainu-Frau, die kein Mund-Tattoo trage, nach ihrem Tod nicht von ihren Vorfahr*innen willkommen geheißen werde.

Ende des 19. Jahrhunderts annektierte die japanische Regierung die Hauptstadt der Insel Honshu, Hokkaido, und zwang die Ainu zur Assimilation in die japanische Kultur und Gesellschaft. Sie nahm den Indigen ihr Land, verbot ihre Sprache und das Fortführen ihrer Kultur. Ainu-Frauen, die bereits Tattoos besaßen, bedeckten in der Öffentlichkeit ihren Mund, um nicht Ziel von Diskriminierung und Mobbing zu werden. So verschwand die Kulturpraxis des Tätowierens allmählich.

Wie viele Ainu heute noch in Japan leben, ist unklar. Es gibt keine Volkszählung, welche die Ethnie berücksichtigt. Laut einer Statistik (Öffnet in neuem Fenster) der Regierung von 2017 leben noch etwa 13.000 Menschen in Hokkaido, die sich als Ainu identifizieren. Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch deutlich höher sein. Darüber hinaus sind, laut Forscherin Uzawa, die Kultur und Lebensweise der Ainu inzwischen eng mit der japanischen Mehrheitsgesellschaft und deren Kultur verflochten.

Tattoos als künstlerische Ausdrucksform

Die UNESCO bezeichnet die Ainu-Sprache als vom Aussterben bedroht. Auch Kanako Uzawa kann sie nicht fließend sprechen. Inzwischen gibt es jedoch mehr und mehr Anstrengungen, die Ainu-Kultur und ihre Sprache zu bewahren. 2008 erkannte die japanische Regierung die Ainu offiziell als Indigene an. Im Jahr 2019 verabschiedete das japanische Parlament ein Gesetz, in dem sich die Regierung dazu verpflichtete, ein Ainu-Museum zu errichten und Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung zu ergreifen. Zudem sollen Projekte gefördert werden, die darauf abzielen, Kultur und Traditionen der Ainu zu bewahren. Das „Upopoy National Ainu Museum“ wurde 2020 in der Stadt Shiraoi auf Hokkaido eröffnet.   

Heute hätten Ainu-Tattoos eher eine politische Bedeutung, sagt Uzawa, etwa als ein Statement zu den negativen Auswirkungen des Kolonialismus. Einige nutzen es als künstlerische Ausdrucksform – so wie sie selbst. Sie führt beispielsweise traditionelle Ainu-Tänze auf und fertigt Malereien der Motive an, die einst tätowiert wurden. Früher hätten die Menschen in Japan kaum etwas über Ainu gewusst, erzählt Uzawa, die derzeit in Norwegen lebt, wo sie studiert und ihren Doktor gemacht hat. Inzwischen sei es ein gefragtes Thema, was man unter anderem daran erkennt, dass es viele Filme und Mangas aufgreifen.

Zurück zu Noel Kawahara in Osaka: Was Tattoos in der Öffentlichkeit angeht, gilt es noch einige Aufklärungsarbeit zu leisten. Ihrer Beobachtung nach gebe es immer mehr kleinere Events oder Ausstellungen in Cafés oder Bars, wo sich Menschen Tattoos stechen lassen können. Doch in der Masse ist das Phänomen definitiv noch nicht angekommen. Wenn sie beispielsweise auf einer Party von ihrem Job erzählt, seien die meisten erstmal überrascht, erzählt Kawahara. 

Sobald sie zeige, welche Tattoos sie schon gemacht habe, sei die Reaktion aber meistens positiv und viele fänden es schön. Noel Kawahara mag Fine-Line-Tattoos, ein Stil, bei dem mit sehr filigranen Linien gearbeitet wird. Sie möchte in ihrem Stilbereich gerne die beste Tätowiererin Japans werden. Ihr Ziel: Menschen mit ihrer Arbeit mehr Selbstwertgefühl geben zu können – so wie die Tattoos bei ihr selbst.

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