Das Pipi-Privileg
Gleichberechtigung beginnt auf der Toilette
Fehlende Frauen-Urinale und lange Warteschlangen sind ein echtes Problem. Das müsste aber nicht so sein, denn effiziente und nachhaltige Lösungen sind längst auf dem Markt. Wir haben uns drei davon näher angesehen.
Von Giorgia Grimaldi, Marseille
Wenn unterwegs die Blase drückt, muss schnell eine Lösung her. Doch obwohl alle Menschen gleichermaßen davon betroffen sind, entscheidet das Geschlecht darüber, wie schnell es wirklich geht. Und auch, wer dafür zahlen muss. Wollen Frauen in Deutschland öffentliche Toiletten nutzen, werden sie oft zur Kasse gebeten. In Frankreich dagegen sind diese für alle kostenlos, doch die lange Warteschlange macht auch hier den einfachen Toilettengang zur Tortur. „Frauen brauchen eben länger”, heißt es dann oft.
Das stimmt, aber eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zeigt: Frauen trödeln nicht, sondern werden einfach systematisch übergangen und vergessen. „Ich liebe es, wenn ich ihre leeren Toiletten aufsuche und einige von ihnen auch noch die Nerven haben, mich darauf hinzuweisen, dass ,das die Männertoilette ist‘, wenn du auf der anderen Seite 20 Frauen in Not hast. Ich verstehe einfach nicht, wie so eine Bemerkung möglich ist“, schimpft die Pariser Journalistin Renée Greusard auf Twitter und betitelt das Problem mit dem Hashtag #privilègedupipi, zu Deutsch „Pipi-Privileg“.
Viele reagieren auf ihren Tweet. Darunter eine Userin, die ebenfalls ihre Erfahrung teilt: „Das erstaunte Gesicht von Männern, die aus einer öffentlichen Toilette kommen, in die sie direkt hineingehen konnten, und auf eine Schlange von 15 Frauen treffen (nach dem Motto ,na da schau an, das muss ziemlich nervig sein!‘), darauf komme ich einfach nicht klar.“
Alle Frauen kennen diese Situation
Viele Frauen haben so eine Situation schon erlebt. Auch in Deutschland wurde dieser Missstand längst öffentlich thematisiert. Mit den Worten „Frauen haben genauso das Bedürfnis, eine Toilette aufzusuchen wie Männer und sollten nicht finanziell dafür büßen müssen”, beginnt der offene Brief des Frauenbeirates zur Toilettensituation im Land Berlin (Öffnet in neuem Fenster), formuliert im Juni 2022. Weiter heißt es darin, dass Frauen sogar häufig auf das Trinken verzichten würden, weil sie nicht wüssten, ob sie unterwegs kostenlos eine Toilette nutzen könnten. Die Forderung lautet: mehr kostenlose öffentliche Toiletten, die inklusiv und im Sinne der Nachhaltigkeit auch wassersparend gestaltet sein sollten.
Wo die Ursache des Problems liegt, haben zwei Forscher der Universität Gent – Wouter Rogiest und Kurt Van Hautegem – gezeigt, die sich im Rahmen einer Studie mit dieser Thematik beschäftigt haben. Im Jahr 2017 haben sie ihre Ergebnisse in einem Artikel (Öffnet in neuem Fenster) mit dem Titel „Frauenurinal: Weniger Stau auf der Damentoilette” im Wissenschaftsjournal „EOS Wetenschap” veröffentlicht.
Die Forscher fanden heraus: Das Problem der Toiletten ist das Konzept. Dass es bei Männern so viel weniger Stau gibt, liegt daran, dass sie viele Pissoirs zur Verfügung haben. Diese sind deutlich platzsparender. Somit haben Männer auf der gleichen Fläche eines Sanitärbereichs im Schnitt 20 bis 30 Prozent mehr Toiletten zur Verfügung als Frauen. Außerdem sind Pissoirs viel effizienter. Mit dem Öffnen und Schließen des Reißverschlusses der Hose ist hier fast alles erledigt.
Frauen dagegen müssen erst die Kabinentür öffnen, sich entkleiden, Toilettenbrille reinigen, spülen, sich wieder anziehen, die Tür schließen und Hände waschen. Hinzu kommt, dass sie auch oft Kinder mitnehmen müssen sowie Hygiene- und Menstruationsartikel wechseln oder entsorgen. Während das Wasserlassen mit Pissoirs für Männer also nur Sekunden dauert, vergehen auf der Frauentoilette viele Minuten.
Frauen-Urinale: hygienisch, sicher und nachhaltig
Das Fazit der Studie: Das Urinieren im Stehen ist die schnellste Lösung. Für Frauen ist die natürlichste Haltung aber die Hocke. Es braucht also Pissoirs für Frauen, die kontaktloses Pipimachen in dieser Position ermöglichen. Eine erfolgreiche Umsetzung ist „LaPee“, ein mobiles Frauen-Urinal. Die Architekt*innen Gina Périer aus Frankreich und Alexander Egebjerg aus Dänemark haben mit ihrem Produkt im Jahr 2022 den „Danish Design Award“ in der Kategorie „Game Changer“ gewonnen.
Gina Périer erklärt: „LaPee ist ein Urinal ohne Tür oder Schloss, bei dem die Privatsphäre durch die Form selbst gegeben ist. Wir steigen Treppenstufen hinauf, sodass wir eine erhöhte Sitzposition einnehmen können. Damit hat man nicht mehr das Gefühl der Verwundbarkeit, wenn man am Boden in die Hocke geht. Stattdessen nehmen wir eine starke Position ein, mit der wir alles im Blick haben, aber niemand kann sehen, wie du Pipi machst.“
Die Treppen sollen aber nicht nur für mehr Komfort sorgen, sondern auch für mehr Effizienz und Nachhaltigkeit. „LaPee“ kommt ohne Wasser oder Strom aus, es gibt daher keine Spülung. Dafür bietet der Hohlraum der Treppen Platz für 1.100 Liter Flüssigkeit. Laut Berechnungen der Architekt*innen entspricht dies etwa 3.500 Toilettenbesuchen. So könne das Urinal problemlos für mehrere Tage auf einem Festival platziert werden, so Périer. Heute wird „LaPee“ in insgesamt zehn Ländern eingesetzt. Auch in Deutschland: So sind zum Beispiel Augsburg und Würzburg offizielle Partnerstädte.
Eine von drei Frauen hat keinen Zugang zu sicheren Toiletten
Co-Designer Alexander Egebjerg sagt, es gehe bei der Lösung dieses Problems um drei wesentliche Punkte: Effizienz, Sicherheit und Würde. Und gerade bei den letzten beiden Punkten sieht er noch viel Potenzial. So soll „LaPee“ helfen, bislang fehlende sanitäre Infrastrukturen aufzubauen.
Eine Studie (Öffnet in neuem Fenster) der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2022 zeigt, wie viele davon betroffen sind: Eine von drei Frauen weltweit hat demnach keinen Zugang zu sicheren und privaten Toiletten. Viele von ihnen urinieren im Freien, zum Beispiel in Straßenrinnen, hinter Büschen oder in offenen Gewässern. Eine schlechte sanitäre Infrastruktur und daraus resultierendes „Wildpinkeln“ beeinträchtigt aber nicht nur das eigene Wohlbefinden, sondern ist für Frauen auch ein Risikofaktor, da sie dafür oft allein abgelegene Orte aufsuchen.
Auch für das Wechseln oder Entsorgen von Hygieneartikeln ist die Natur nicht der passende Ort. Hinzu kommt: In vielen Ländern ist das Pinkeln im Freien auch gar nicht erlaubt. In Frankreich kann das mit einer Geldstrafe von 135 Euro geahndet werden. In Deutschland kann sogar ein Bußgeld bis zu 5.000 Euro kosten und in besonders schweren Fällen droht sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr.
Sogenannte „Peequality“ ist ein Trend
„LaPee“ ist aber bei Weitem nicht die einzige gute Idee: Mittlerweile gibt es einen richtigen Markt für gleichberechtigtes Pinkeln. Die Französin Nathalie des Isnards hat mit „MadamePee“ ein Frauenurinal mit Kabine und ergonomischer Schüssel entworfen, das an zwei Standorten in Paris eingesetzt wird. Auch in Deutschland mangelt es nicht an kreativen Köpfen. Im Jahr 2019 hat Lena Olvedi mit dem „Missoir“ ein Berliner Pendant zum Pissoir geschaffen. Anders als „LaPee“ funktioniert diese Lösung über ein in den Boden eingelassenes Trockenurinal.
Ein „Missoir“ soll sechs herkömmliche Damentoiletten ersetzen und dabei durch Haltestangen, Mülleimer, Öko-Toilettenpapier, Handdesinfektionsspender, Kleiderhaken und Spiegel nichts an Komfort einbüßen. Das Urinal ist zudem überdacht, nachts ausgeleuchtet und verfolgt durch den Verzicht auf Wasser ebenfalls einen nachhaltigen Ansatz. Die „Missoirs“ werden mittlerweile nicht mehr nur im Freien aufgestellt, sondern auch schon von den ersten Berliner Clubs in die bereits bestehenden Sanitäranlagen eingebaut.
Drei unterschiedliche Konzepte, die alle erst in den vergangenen Jahren aufkamen, zeigen, wie lange das Problem ignoriert wurde – und das obwohl mit gut 50 Prozent die Hälfte der globalen Bevölkerung weiblich und somit direkt davon betroffen ist. Öffentlich über Urinieren zu sprechen ist für viele zwar noch immer mit Scham behaftet, doch Initiativen wie diese tragen dazu bei, das Tabu Stück für Stück zu brechen. Dabei helfen auch Social-Media-Plattformen wie Twitter oder Instagram. Mit Hashtags wie #peequality oder #wepeetoo wird das stille Örtchen zur Bühne für lauten Protest gegen das Pipi-Privileg der Männer.