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Überleben im Ausnahmezustand

Besuch im Westjordanland

Anica Heinlein war vor Kurzem im Westjordanland und schildert die dramatische Verschlechterung der Lage vor Ort. Sie berichtet von Hoffnungslosigkeit, fehlender Grundversorgung und der besonderen Belastung von Frauen und Kindern in der humanitären Krise.

Zusammenfassung

Die Lage im Westjordanland hat sich dramatisch verschlechtert, berichtet Anica Heinlein von CARE Deutschland. Besonders Frauen und Kinder leiden unter fehlender Grundversorgung und zunehmender Gewalt. Schwangerschaften verlaufen oft ohne medizinische Hilfe, und selbst Schmerzmittel sind Mangelware. Trotz der humanitären Krise gibt es Hoffnung: Frauen organisieren Hilfsmaßnahmen, halten den Alltag aufrecht und kämpfen für eine bessere Zukunft. Ein dauerhafter Waffenstillstand und politische Lösungen sind dringend nötig.

Von Pauline Tillmann, Konstanz 

Frau Heinlein, Sie waren Ende Januar 2025 in der West Bank, also im Westjordanland. Wie sind Ihre Eindrücke? Wie ist die Situation vor Ort?

Ich habe eine relativ lange Geschichte mit der Region. Ich bewege mich da seit über 25 Jahren – und zwar auf beiden Seiten – sowohl in Israel als auch in den besetzten palästinensischen Gebieten. Ich war sechs Jahre nicht mehr in der Region und war wirklich schockiert, wie schlimm die Situation inzwischen ist. Sie hat sich stark verschlechtert und zwar ganz praktisch in dem, was man physisch beobachten kann, aber auch die Stimmung der Menschen auf beiden Seiten. Ich muss ehrlich zugeben, das hat mich nachhaltig beschäftigt.

 

Was heißt verschlechtert konkret? Wie kann ich mir das vorstellen?

Die Menschen, mit denen ich mich unterhalten habe, waren an vielen Punkten einfach hoffnungslos und sehr ernüchtert. Ich bin an dem Tag angekommen als das Waffenstillstandsabkommen mit Gaza in Kraft getreten ist. Das heißt, ich habe erwartet, dass man spürt, dass der Krieg in eine Pause geht, dass es gewissermaßen ein Aufatmen gibt. Und dem war einfach nicht so. Die Menschen sind nicht auf die Straßen gegangen und haben gefeiert. Das heißt, es gab zwar so etwas wie eine Erleichterung, aber keine echte Freude, weil kaum jemand glaubt, dass dieser Waffenstillstand nachhaltig andauert.

 

Die Rede ist ja auch von drei Phasen des Waffenstillstandsabkommens. Vielleicht können Sie diese Phasen noch einmal skizzieren.

Tatsächlich sind ja nur die 42 Tage ausverhandelt und wir kennen die Einzelheiten nicht im Detail. Aber im Groben kommt es in diesen ersten 42 Tagen in unregelmäßigen Abständen zu Freilassung von Geiseln sowie palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen. Und ein großer Unterschied ist auch, dass die internationale Gemeinschaft nun etwa 600 LKW-Ladungen mit Hilfsgütern am Tag in den Gazastreifen schicken kann. Vorher waren es – zum Vergleich im Dezember – nur knapp über 70 LKW am Tag, was viel zu wenig ist, da die Menschen wirklich nichts zu essen haben und mit dem Nötigsten versorgt werden müssen. In Phase zwei sollen die restlichen Geiseln freigelassen werden und die Waffen sollen weiterhin schweigen. Und in Phase drei kommt es zum Wiederaufbau.

Das heißt, die Bevölkerung im Gazastreifen ist komplett abhängig von humanitärer Hilfe, richtig?

Richtig. Deshalb sind 600 LKW am Tag zwar schon ein großer Fortschritt, aber immer noch nicht genug.

 

Bei CARE legen Sie bei Ihrer Arbeit einen speziellen Fokus auf Frauen und Mädchen. Wie ist denn die Situation von Frauen und speziell auch Kindern im Westjordanland und im Gazastreifen?

Sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen leiden Frauen besonders. In Gaza können die Bedarfe von Frauen kaum gestillt werden. Frauen haben nun mal spezielle Hygienebedürfnisse, weil sie menstruieren. Das heißt, sie brauchen sogenannte „Non-Food-Items“ in Form von Binden. Tampons sind in dieser Region kaum im Einsatz. Am Dramatischsten ist es für Frauen, die schwanger sind oder Kinder gebären, weil die Gesundheitsversorgung de facto zusammengebrochen ist. Es gibt im Moment kaum jemanden in Gaza, der Frauen hilft, wenn sie ein Kind zur Welt bringen. Sowohl in Gaza als auch im Westjordanland geht es zudem um geschlechtsspezifische Gewalt, die in Zeiten von Krisen und Kriege zahlenmäßig durch die Decke geht. Wenn der Stress zunimmt, kommt es nicht selten zu häuslicher Gewalt.

Die Kindersterblichkeit ist in Kriegen auch deutlich höher.

Genau, die Gefahr, dass Kinder sterben, weil man bei Komplikationen nicht sofort reagieren kann, ist ein Drittel höher. Dabei könnte man das vermeiden, wenn man a) dafür sorgen würde, dass die Frauen rechtzeitig in die Kliniken kommen und b) wenn sie auch wirklich versorgt werden würden. Aktuell gibt es, man mag es sich gar nicht vorstellen, so gut wie keine Schmerz- oder Betäubungsmittel im Gazastreifen. Das heißt, wenn Frauen zum Beispiel einen Kaiserschnitt bekommen, dann geschieht das ohne schmerzlindernde Medikamente.

Was liefern Sie neben Lebensmitteln noch?

Wir decken die Grundbedürfnisse. Das heißt, wir liefern in erster Linie hochkalorische Lebensmittel und sauberes Wasser. Außerdem liefern wir Zelte und Decken, denn: In der Region ist es Winter. Das heißt, es ist richtig kalt in den besetzten Gebieten. Und bei den Lebensmitteln ist wichtig, dass sie nicht verderben. Das heißt, wir konzentrieren uns unter anderem auf Konserven, weil diese wirklich unkaputtbar sind und das Überleben von tausenden Menschen sichern können. Die deutsche Bundesregierung hat sich auch an Aktionen beteiligt, Lebensmittel über dem Westjordanland abzuwerfen. Aber das war unserer Einschätzung nach ein Akt purer Verzweiflung, weil überhaupt nicht sichergestellt werden kann, dass diese Lebensmittel den Bedürftigsten zugutekommen.

 

Sie haben erwähnt, dass Sie die Region sehr gut kennen. Ihr Aufenthalt im Januar dauerte in Summe fünf Tage. Was hat sie überrascht?

Ich habe komplett unterschätzt wie lange ich mittlerweile von A nach B brauche, aufgrund von Straßensperren, Abriegelung von Städten, Checkpoints. Das heißt, ich habe sehr viel Zeit im Auto verbracht.

Gibt es eine Geschichte, die sie besonders berührt hat und die Ihnen vielleicht auch noch heute nachgeht?

Da gibt es mehrere Geschichten. Eine Kollegin aus Ramallah hat erzählt, dass sie sich nicht mehr aus der Stadt bewegt. Dass sie nicht mehr Verwandte in Betlehem oder Hebron besucht – was eine Stunde entfernt ist – weil sie Angst hat, dass sie und ihre vier Kinder im Auto von Siedlern attackiert werden oder an einem Checkpoint hängen bleiben oder sie umkehren müssen. Wenn etwas vermeidbar ist, sogar Hochzeiten und Beerdigungen, bleiben sie zu Hause. Und das ist für eine Gesellschaft, bei der soziale Feste ein extrem wichtiger Bestandteil des Lebens sind, ein massiver Einschnitt. Eine andere Geschichte handelt von einer Freundin, die lange Menschenrechtsanwältin war und jetzt als Redakteurin und Übersetzerin für ein israelisches Online-Medium arbeitet. Sie sagt, dass die Meinungsfreiheit extrem eingeschränkt sei und man aufpassen müsse, was man beispielsweise auf Social Media sage, um nicht verhaftet zu werden. Das von einem Land wie Israel mitzubekommen, ist schon extrem bitter.  

Wie muss ich mir das Stadtbild vorstellen? Spielt der Krieg eine Rolle, wie ich es zum Beispiel vom Maidan in Kiew kenne, wo an die „Himmlische Hundertschaft“ – also 100 Menschen, die während der Euromaidan-Proteste 2014 getötet wurden – mit Fotos erinnern wird. 

Der Pilot im Flugzeug hat es erwähnt, beim Gateway am Flughafen in Tel Aviv hat man Bilder von den israelischen Geiseln gesehen. Es gab auch so etwas wie Schreine in Israel, bei denen Familienangehörige Bilder und persönliche Gegenstände niedergelegt haben. Man sieht unzählige Aufkleber auf so gut wie jeder Laterne und es gibt kleine Begegnungszelte mit den Bildern der Geiseln, wo sich Menschen zusammenfinden und bewusst an diese Personen erinnern können. Auch in Ramallah ist die Solidarität mit den Menschen in Gaza allgegenwärtig.

Zur Person

Anica Heinlein leitet die politische Arbeit von CARE Deutschland. Sie besetzt damit unter anderem die Schnittstelle zwischen Projekten in Kriegen und Krisen vor Ort und der deutschen Politik. Ein Schwerpunkt von CARE ist die humanitäre Hilfe. In diesem Interview mit der taz (Öffnet in neuem Fenster) positioniert sich Heinlein zur feministischen Außenpolitik der Bundesregierung, die im März 2023 offiziell ausgerufen worden ist.

Welche Strategien haben speziell Frauen entwickelt, mit dieser Krise umzugehen?

Tatsächlich gibt es Anzeichen, dass die Selbstmordrate gestiegen ist, wie es oft der Fall ist bei bewaffneten Konflikten. Aber gleichzeitig haben wir extrem starke Frauen, die Hilfe leisten, die die Wasserverteilung organisieren und die wie Krankenschwestern oder Ärzte einfach zur Arbeit gehen und sich nicht entmutigen lassen, weil sie tagtäglich dringend gebraucht werden.

Gleichwohl kostet der Alltag sehr viel Kraft und oftmals sind diese Menschen in so einem Überlebensmodus, dass sie kaum Zeit haben nachzudenken und zu verarbeiten, so dass Traumata erst sehr viel später sichtbar werden. Erst in den nächsten Monaten wird der „psychische Tsunami“ sichtbar, weil der Druck weg ist und den Menschen jetzt erst bewusst wird, was eigentlich in den vergangenen Monaten alles passiert ist. Und: Die Gemeinschaft ist eine tragende Stütze der Gesellschaft. Das Kollektiv hilft schon auch, nicht komplett zu verzweifeln und aufzugeben, sondern weiterzumachen.

 

Wir verfolgen bei DEINE KORRESPONDENTIN den Ansatz des konstruktiven Journalismus. Das heißt, wir blicken auf Lösungsansätze. Sie haben ein eher dystopisches Bild gezeichnet, aber was gibt den Menschen vor Ort Hoffnung?

Was sie hoffnungsvoll stimmt, ist schon, dass die Waffen jetzt schweigen und sie heimkehren können. Vielleicht haben Sie noch diese Bilder im Kopf als sich die Massen von Menschen im Gazastreifen auf einer kleinen Küstenstraße Richtung Norden bewegt haben. Und ich habe auch Menschen erlebt, die sofort gesagt haben: ‚Wie bauen wir das jetzt wieder auf? Von meinem Haus stehen zwar nur noch zwei Mauern, aber wie schaffe ich es, dass ich da wieder wohnen kann? Wie mache ich daraus einen Raum?‘

Oder ich habe eine Frau gesprochen – eine Lehrerin – die kurzerhand mit einer Handvoll Kindern im Schatten eines Baumes Unterricht gemacht hat. Man muss wissen, dass die Schulen 15 Monate lang dicht waren, weil sie oftmals zu Notunterkünften umfunktioniert wurden. Dieser starke Wille, trotz allem nach vorne zu schauen, hat mich sehr beeindruckt.

 

Wenn wir noch weiter nach vorne schauen – welche Maßnahmen, auch politische Maßnahmen, sind jetzt notwendig, um die Situation von Frauen und auch speziell von Familien zu verbessern?

Wir brauchen dauerhaften Waffenstillstand, und zwar überall – auch bei der Militäroperation in der nördlichen West Bank. Das heißt, es braucht diplomatischen Druck, dass das jetzt schnell passiert. Den Preis für diesen Krieg zahlt, wie immer, die Zivilbevölkerung. Die Hälfte der Menschen im Gazastreifen sind Kinder oder Jugendliche unter 18 Jahren. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, dass weiterer Schaden von dieser Generation abgewendet wird. Und dafür braucht es einen dauerhaften Waffenstillstand und eine Perspektive auf eine Beilegung des Konflikts. Aktuell ist ja noch keine politische Perspektive vereinbart worden. Das heißt, aus unserer Sicht sollte das so bald wie möglich in Angriff genommen werden.

 

Sie sagen, Sie wollen nicht so pessimistisch sein wie viele andere und daran glauben, dass das Waffenstillstandsabkommen hält. Wenn wir ein größeres Bild aufmachen und davon sprechen, dass es aktuell etwa 100 Konflikte und Krisen auf der Welt gibt: Können Sie verstehen, dass insbesondere die Gen Z krisengeplagt ist und sich schwer damit tut, sich nicht entmutigen zu lassen? 

Man muss sagen: Bewaffnete Konflikte gab es schon immer. Gleichzeitig sind sie präsenter, weil Menschen in diesen Regionen Zugang zu Social Media haben und nicht darauf warten müssen, dass ein großes Medienunternehmen eine*n Reporter*in dorthin schickt, um davon zu berichten. Zur Wahrheit gehört aber auch: Es gibt in den vergangenen Jahrzenten de facto einen Anstieg an Konflikten und diese Konflikte enden auch tödlicher als früher. 

Und was man da tun kann? Ich glaube schon, dass wir dem aktiv was entgegensetzen können. Wir können solidarisch sein mit den Menschen in Konfliktregionen und wir können mit unserer Stimme bei der nächsten Bundestagswahl am 23. Februar einen Unterschied machen. Wir können die Parteien wählen, die Deutschland als starken Akteur von humanitärer Hilfe sehen und sich beispielsweise für feministische Strukturen und Kooperationen mit frauengeführten Organisationen einsetzen – und sich eben nicht antifeministischen und rassistischen Strömungen anschließen.

Mehr über CARE

„Cooperative for Assistance and Relief Everywhere“, kurz CARE (Öffnet in neuem Fenster), ist eine internationale humanitäre Organisation, die sich für die Bekämpfung von Armut und Ungerechtigkeit einsetzt. Der Fokus liegt dabei besonders auf der Unterstützung von Frauen und Mädchen, da sie in Krisen oft am stärksten betroffen sind. Gegründet im Jahr 1945, wurde CARE durch die berühmten CARE-Pakete bekannt, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Hilfslieferungen verteilt wurden.

Heute ist die Organisation in über 100 Ländern aktiv und arbeitet eng mit lokalen Partnern zusammen. Zu den zentralen Arbeitsbereichen gehört die Not- und Katastrophenhilfe, bei der CARE in Krisengebieten Soforthilfe leistet, Nahrung, sauberes Wasser, Unterkünfte und medizinische Versorgung bereitstellt. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit ist die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit.

Die Organisation bekämpft Gewalt gegen Frauen und stärkt ihre politische und wirtschaftliche Teilhabe, zum Beispiel durch Bildungsförderung von Mädchen und Mikrokredite. In Krisenregionen wie dem Westjordanland leistet CARE humanitäre Soforthilfe, indem es Trinkwasser, Hygieneartikel und medizinische Versorgung bereitstellt. Finanziert wird die Organisation mit Sitz in Bonn durch staatliche Fördermittel und Spenden.

 

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