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Mit halber Lunge gegen Tuberkulose

Gegen die Stigmatisierung von erkrankten Frauen

Lange kämpfte Meera Yadav gegen die Tuberkulose. Heute ist sie geheilt, hilft Betroffenen und setzt sich für einen erleichterten Zugang zu Medikamenten, eine bessere Behandlung und mehr Aufklärung ein. Ein Porträt.

Von Natalie Mayroth, Mumbai

Manchmal durchfährt Meera Yadav für einen Augenblick der Gedanke, sie könnte ihre Medikamente vergessen haben. Kurz darauf muss sie lachen. Denn diese braucht die 32-Jährige heute nicht mehr. „Als es das erste Mal passierte, wurde mir klar, dass ich geheilt bin“, sagt sie. In einem roten Kleid sitzt Yadav in einem Café im Süden der Millionenstadt Mumbai. Aufgeregt erzählt sie, dass sie ihre Scheidung durchgebracht hat. Sie redet offen über das, was Frauen in Indien belastet: Die Erwartungen, dass Frauen sich zurücknehmen sollen – und sie spricht das gesellschaftliche Tabu an, schwer krank zu sein.

Lange hat Tuberkulose (TB) ihren Alltag geprägt. Nachdem bei ihr 2013 eine resistente Form diagnostiziert worden war, konnte sie über Jahre kaum das Haus verlassen. Die Krankheit hat sie fast das Leben gekostet. Doch das ist Vergangenheit. Meera Yadav hat nicht nur die Tuberkulose hinter sich gelassen, sondern auch eine neue Aufgabe gefunden: Menschen zu helfen, Mut zum Leben zu finden.

Yadav koordiniert neben ihrem Beruf in einer Jugendorganisation Unterstützung für Tuberkulosebetroffene. Sie ist in Gruppen wie dem „Mumbai TB Collective“ vernetzt. Mit der Pandemie verlagerte sich ihr Aktivismus auf Beratungsgespräche. Doch Seelsorge allein reicht ihr nicht: Yadav fordert eine bessere Behandlung, mehr Aufklärung und den Zugang zu neueren Medikamenten.

Deshalb zog sie mit einer weiteren Überlebenden vor Gericht (Öffnet in neuem Fenster), um Generika – also günstige Nachahmerpräparate der lebensrettenden Medikamente Bedaquiline und Delamanid – einzufordern. Ohne diese beiden Antibiotika hätte sie ihre eigene Erkrankung wohl nicht überlebt. Sie fordern in der Klage, dass die Patente für die Medikamente außer Kraft setzt werden. Denn in Fällen, in denen die öffentliche Gesundheit extrem gefährdet ist, können Regierungen eine Art Zwangslizenz für die nicht-kommerzielle Herstellung erteilen. Noch hatte sie damit keinen Erfolg.

Viele Fälle der Lungenkrankheit in Indien

Indien ist mit 2,6 Millionen (Öffnet in neuem Fenster) aktiven Fällen das Land mit der höchsten Tuberkulose-Belastung der Welt. Darunter befinden sich multiresistente Infektionen, bei denen herkömmliche Antibiotika nicht ausreichend wirken. Als Folge sterben täglich mehr 1.300 Menschen, obwohl es eigentlich eine kostenlose Behandlung gibt. Doch ist nicht jede*r, die*der das TB-Mycobacterium in sich trägt, krank oder ansteckend – bei einem intakten Immunsystem können Jahre vergehen, bis es zu einem Ausbruch kommt. In den vergangenen zwei Jahren war das in Mumbai zunehmend bei Frauen der Fall, die zum Beispiel nach einer Schwangerschaft geschwächt waren.

So geschah es auch bei Meera Yadav. Nach ihrem Abschluss auf der Wirtschaftsschule ging sie eine arrangierte Ehe ein. Wie üblich zog sie zur Familie ihres Mannes. Sie wurde schwanger, freute sich auf das Kind. In dieser Zeit musste sie weiterhin früh aufstehen und sich um den Haushalt kümmern. Nach der Geburt ihres Sohnes bekam sie Fieber, hustete stark, verlor Gewicht. Bei Yadav wurde eine Tuberkulose diagnostiziert. Sie begann ihre erste Therapie in einer kleinen Privatklinik. Schon damals schlugen die herkömmlichen Antibiotika nicht richtig an.

Das Stigma der Erkrankung

Aus Sorge vor einer Übertragung der Krankheit auf das Kind wurde sie ausgeschlossen. Die Familie ihres Mannes stigmatisiert sie. „Ich war mit so viel Ausgrenzung konfrontiert, dass ich beschloss, mich für andere TB-Patient*innen einzusetzen“, sagt sie über diese Zeit. Yadav trennte sich von ihrem Mann, zog wieder in ihr Elternhaus. Auf ihrem Handy zeigt Meera Yadav ein Foto von sich mit einem kleinen Jungen. Sie vermisst ihren Sohn. „Ich war bereit, alles für mein Kind aufzugeben, aber mein Mann war nicht bereit, sich zu ändern“, erzählt sie.

Sie muss sich derzeit meist mit Telefonaten zufriedengeben, doch ihre Hoffnung ist, ihn öfter zu sehen, vor allem, nachdem sie wieder gesund ist. Doch das war ein langer Weg. Ihre Behandlung begann mit injizierbaren Medikamenten, einer älteren Therapieform, die zu Hörschäden führte, aber nur begrenzt Wirkung zeigte. „Für mich begann eine schmerzhafte Reise“, sagt sie. Sie verlor ihre Lebensfreude. Lange suchte sie nach einer Behandlungsmöglichkeit und ging 2016 ins Mumbaier Tuberkulosekrankenhaus Sewri.

„Ich erinnere mich, dass ich damals Fieber hatte, aus dem Mund blutete und unter starken Schmerzen litt.“ Nach einer Röntgenaufnahme wurde das Ausmaß klar: Ihre rechte Lunge war kollabiert. Sie musste sofort operiert werden, um ihren rechten Lungenflügel zu entfernen. Zeitgleich erfuhr Yadav in Sewri von einer ambulanten Behandlung in einer Spezialklinik von Ärzte ohne Grenzen (MSF) (Öffnet in neuem Fenster). In der Klinik im Osten Mumbais begann Meera Yadav erneut eine Therapie. Diesmal mit Bedaquilin und Delamanid gegen eine extrem arzneimittelresistente Tuberkulose.

„Mir wurde gesagt, dass meine Chancen gesund zu werden sehr gering sind“, erinnert sich sie. Doch die Beratung durch die Mediziner und der Zuspruch der Krankenschwestern halfen ihr. „Ich wurde wie ein Familienmitglied behandelt“, sagt sie rückblickend. In der Modell-Einrichtung werden Betroffene über Fachbegriffe hinaus aufgeklärt. Sie lernen, sich besser zu ernähren und erhalten psychologische Unterstützung. Bei einem Besuch fällt auf: Es sind viele Frauen, die hierher kommen.

Ungleichheit als Risikofaktor

Vikas Oswal sieht den Anstieg von weiblichen Patienten in Mumbai täglich. Er ist Facharzt für Tuberkulose. Für ihn spielt die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern eine Rolle. Frauen verbrächten mehr Zeit zu Hause in wenig belüfteten Räumen und übernähmen die meiste Fürsorgearbeit. Ein Phänomen, das durch die Coronapandemie wohl noch verschärft wurde. Andere Expert*innen verweisen darauf, dass Mangelernährung ein Auslöser für die Aktivierung von latenter Tuberkulose sein kann.

„Frauen neigen dazu, ihre Gesundheit zu vernachlässigen“, sagt Nisreen Ebrahim von der Nichtregierungsorganisation „Rangoonwala Foundation (India) Trust (Öffnet in neuem Fenster)“, die in sechs Slumgebieten in Mumbai in Gemeinschaftszentren in der Tuberkuloseprävention leisten. „Wenn es um den Zugang zu medizinischer Versorgung und Ernährung geht, stehen Frauen hintenan“, so Ebrahim. Dazu komme, dass – Zitat – „Tuberkulose immer noch mit einem großen Schamgefühl behaftet ist“. In den Familien sei die Sorge groß, „dass niemand ein Mädchen mit Tuberkulose heiraten will“, erklärt Ebrahim.

Dagegen hilft nur Aufklärung: Meera Yadav lernte in der MSF-Klinik auch die rechtliche Lage kennen. Das verhalf ihr zu ihrer ersten Anstellung: Nachdem sie 2018 tuberkulosefrei war, arbeitete sie kurz mit „Ärzte ohne Grenzen“ zusammen, danach war sie für die Kampagne „Missing Millions“ tätig, die unerkannte Tuberkulosefälle identifizierte. Seitdem hat sich ihr Bewusstsein geschärft, dass sich etwas bei der Behandlung ändern muss, denn neuere Therapien sind verfügbar.

Nach mehr als 40 Jahren gelten die Präparate Bedaquiline und Delamanid als Durchbruch. Die Weltgesundheitsorganisation erklärte sie als unverzichtbar für die Behandlung von multiresistenter Tuberkulose. Sie sind wirksamer und einfacher einzunehmen als ihre Vorgänger, bei denen starke Nebenwirkungen auftraten. „Wenn ich diese beiden Medikamente früher erhalten hätte, wäre meine rechte Lunge vielleicht noch da", erzählt Yadav.

In Indien werden solche Medikamente teils durch Spenden von Pharmafirmen und NGOs bereitgestellt, doch aufgrund der hohen Zahl an Patient*innen muss die Regierung zusätzliche Dosen für hohe Preise einkaufen. Aktivist*innen vermuten, dass diese Mengen zu gering sind. Die Medikamente seien deshalb regelmäßig nicht verfügbar, was zu einer Unterbrechung der Behandlung führen könne und wiederum Resistenzen fördere, warnt Yadav.

Hoffnungsträger Generika

Wenn Generika-Hersteller zugelassen werden würden, könnte der Mangel behoben werden, hofft sie. Dafür protestierte sie auf der Weltkonferenz für Lungengesundheit, die vor der Pandemie in Indien stattfand. Yadav zeigt ein T-Shirt, das sie damals trug: Darauf prangt ein Slogan, der das Tuberkulosemedikament Bedaquiline für einen Dollar am Tag verlangt. (Öffnet in neuem Fenster) Es ist eine Forderung, die „Ärzte ohne Grenzen“ unterstützen. Der Preis von Bedaquiline wurde von der Pharmafirma Johnson & Johnson bereits gesenkt.

Nach Angaben von „Ärzte ohne Grenzen“ kostete im Februar 2022 eine Behandlung rund 300 Euro pro Patient und Monat. Der Preis von Delamanid von einer japanischen Firma liegt bei rund 1.400 Euro pro Monat. Geht man von einer bis zu 20-monatigen Behandlung von multiresistenter Tuberkulose aus, summieren sich die Medikamentenkosten in der Klinik im Schnitt auf mehr als 13.000 Euro pro Patient*in, die von der weltweit tätigen Nichtregierungsorganisation getragen werden.

Gegen die Armut vieler Erkrankter bietet die Regierung finanzielle Unterstützung: Registrierte erhalten für die Dauer der Behandlung 500 Rupien pro Monat, umgerechnet 5,70 Euro. Eine dieser Patient*innen ist Savita Pawar. Sie wird von Meera Yadav ehrenamtlich betreut. Dass Yadav es geschafft hat, sich ein neues Leben aufzubauen, gibt anderen Frauen Hoffnung. Ihr Beispiel zeigt: Es geht auch ohne Mann, und auch schwere Fälle können geheilt werden.

Neue Vorbilder: Frau ohne Mann

Über die Pandemie hinweg haben Pawar und Yadav oft telefoniert. Doch bei ihrem ersten Treffen geht ihnen der Gesprächsstoff nicht aus. Sie haben sich auf eine freie Bank an Mumbais Küste im Süden der Stadt gesetzt. Hohe Palmen spenden Schatten. Für Pawar mit ihrer akuten Tuberkulose ist es ein seltener Besuch in der Außenwelt. Längere Strecken zu Fuß machen ihr zu schaffen.

Die Beschwerden sieht man der sehr zierlichen Frau Anfang 30 hinter ihrer Atemschutzmaske aber nur bei genauerem Hinschauen an. Täglich nimmt sie eine Vielzahl von Tabletten. „Sie haben meine Haut dunkel gemacht“, sagt sie klagend. Das ist nur eine der Begleiterscheinungen.Ihr Schicksal ähnelt jenem von Yadav. Nach der Tuberkulosediagnose fehlte ihr als junge Frau Unterstützung.

Angesteckt hat sich Pawar vermutlich bei ihren verstorbenen Schwiegereltern. Ihr Mann verließ sie. Alleine fiel es ihr schwer, die Behandlung durchzuhalten. Pawar wurde gesund, doch eine Depression folgte. Sie erlitt einen Rückfall. Anscheinend waren nicht alle Bakterien abgetötet worden. In Yadav hat Pawar jemanden gefunden, die nur einen Anruf entfernt ist, wenn sie Zuspruch braucht oder es darum geht, eine neue Behandlung zu finden.

Die Bemühungen gegen Tuberkulose gehen auch in der Forschung weiter. Auf dem Präparat Pretomanid, dem dritten neuen Antituberkulosemittel, ruhen Hoffnungen. Die bisherigen Ergebnisse der Kombination mit anderen Antibiotika sind vielversprechend und es ist preiswerter als Delamanid, da es durch die gemeinnützige Organisation „TB Alliance“ entwickelt wurde. Die Behandlungszeit bei Resistenzen könnte sich damit weiter verkürzen. Und auch Meera Yadav macht weiter – ihr Telefon steht ohnehin nicht still.

Weitere Infos Tuberkulose:

In Westeuropa ist die Infektionskrankheit Tuberkulose selten geworden, doch gilt das nicht für alle Teile der Welt. 2021 sind1,6 Millionen Menschen daran gestorben. Tuberkulose befällt oft die Lunge, kann aber andere Organ betreffen. Vor 150 Jahren galt die „Schwindsucht“ als Volkskrankheit Nummer eins in Deutschland.

In Ländern wie Indien steigen die Fälle von multiresistenter Tuberkulose besorgniserregend. Sie gefährden nicht nur Indiens Ziel, bis 2025 tuberkulosefrei zu werden, sondern auch die weltweiten Bemühungen zur Tuberkulosebekämpfung, auf die sich die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Indien sowie in der (Öffnet in neuem Fenster)Ukraine (Öffnet in neuem Fenster) und Belarus (Öffnet in neuem Fenster) spezialisiert hat. In Deutschland ist Tuberkulose meldepflichtig. 2021 wurden in Deutschland 3.978 Tuberkuloseneuerkrankungen gemeldet.

Disclaimer: Die Recherche wurde vom Security Health Fund des European Journalism Center und der Bill & Melinda Gates-Stiftung unterstützt. 

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