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Mulan am Ball

Ein vergessenes Stück Fußballgeschichte

Was verbindet die Anfänge des Frauenfußballs in Taiwan und Deutschland? Die Antwort: Eine lang vergessene Weltmeisterschaft in Taipei. Während Taiwans „Team Mulan“ mit Spitzenspielerin Chou Tai-ying bereits internationale Medaillen holt, wird in Deutschland noch über die Eignung der Frau zum Fußballspielen diskutiert. Das „Wunder von Taipeh“ soll alles ändern.

Von Carina Rother, Taipei

Eine Trillerpfeife schrillt. Zwei Dutzend Studentinnen in blau-weißen Trikots setzen sich in Bewegung. In zwei Reihen laufen sie einige Runden um den Sportplatz des Unigeländes, dann ist es Zeit, sich warm zu schießen. Die flinken Tritte der Stollenschuhe passen den Ball von einer zur anderen. Am Spielfeldrand ruft die Trainerin Kommandos aufs Feld. Mit strengem Blick verfolgt sie jede Bewegung der taiwanischen Nachwuchsfußballerinnen.

Die Trainerin heißt Chou Tai-ying*. Heute betreut sie die Frauenfußballmannschaft der Nationalen Normal Universität in Taipei. Der Höhepunkt ihrer eigenen Karriere liegt über 40 Jahre zurück. Dass die ehemalige Nationalspielerin ihr Uniteam trainiert, finden die Spielerinnen „ziemlich cool“ – denn in Taiwan gilt Chou Tai-ying als Nationalheldin. Im Rest der Welt ist sie kaum bekannt. Dabei hat die Taiwanerin bereits Fußballgeschichte geschrieben, als in Deutschland noch diskutiert wurde, ob Frauen überhaupt auf den Rasen gehören.

Mehr als 100 Tore in internationalen Turnieren hat sie geschossen – mehr als jeder andere Spieler der chinesischsprachigen Welt. Auf ihren Erfolg angesprochen, reagiert die frühere Spitzenspielerin bescheiden: „Heldin sein, das ist etwas für den Moment. Danach wird es Geschichte“, sagt sie lächelnd und wendet sich wieder dem Training ihrer Schützlinge zu.

Mit 14 in die Nationalmannschaft

Zeitsprung. Wir schreiben das Jahr 1977. Taiwans offizielle Frauenfußballnationalmannschaft ist gerade mal zwei Jahre alt. Trainer Liu Jun-tse sucht überall nach Nachwuchstalenten. An einer Mittelschule fällt ihm eine junge Handballerin auf. Es ist Chou Tai-ying, damals 14 Jahre alt. Liu rekrutiert sie für sein Team. Das Training ist hart, und ihre Eltern sind anfangs gegen das Fußballspielen, erinnert sich die heute 59-Jährige.

Der Sport erfordert viel Disziplin. Neben Trainings und Wettkämpfen schließt sie die Schule ab, besucht die Universität und arbeitet selbst als Trainerin – denn vom Sport allein können auch Taiwans stärkste Spielerinnen damals nicht leben.  „Wir haben trotzdem immer weitergespielt“, sagt Chou. Ihr Ehrgeiz treibt sie an.

Noch im ersten Jahr ihrer Fußballkarriere darf Chou Tai-ying darf Wettkampfluft schnuppern. Als Auswechselspielerin nimmt sie am Asien Cup teil. Der erste internationale Frauenfußballwettkampf weltweit wurde erst zwei Jahre zuvor ins Leben gerufen. Taiwans Team holt den ersten Platz. Für die taiwanische Frauennationalelf beginnt eine Glanzzeit. Drei Mal in Folge sind sie die unangefochtenen Champions des Asien Cups. Chou Tai-ying sorgt schon bald als Stürmerin für die Tore.

„Mit Chou Tai-ying konnte damals auch kein Junge mithalten. Sie konnte aus 35 Metern Entfernung direkt ins Tor schießen. Ihr Können am Ball und ihre Ambition machten sie zur stärksten Spielerin im Team“, beschreibt Ex-Trainer Kao Yung in einer Fernsehdoku das Talent seiner Spitzenspielerin.

Die Mannschaft bekommt auch einen neuen Namen: „Team Mulan“. Denn seit dem Ausschluss Taiwans aus den Vereinten Nationen können Sportler*innen im Ausland nicht mehr unter der taiwanischen Flagge antreten. „Mulan war eine unbesiegbare Heeresführerin. Das passte als Vorbild“, sinniert Chou.

„Ab dem Moment haben wir vier Jahre lang k"inziges Match mehr verloren. Wenn es kein Sieg war, war es ein Unentschieden,“ sagt sie zufrieden. „Team Mulan“ ist eine Erfolgsgeschichte – laut Chou war ihr Team aber keine Ausnahme im asiatischen Raum, wo die Hürden für Frauenfußball nicht so hoch waren wie in anderen Teilen der Welt. „Der Frauenfußball in Asien hatte einen Vorsprung. Als die anderen Länder erst anfingen, waren wir schon einen Schritt voraus.“

Startschwierigkeiten in Deutschland

Das zeigt sich deutlich im Vergleich mit Deutschland. Eine Frauennationalmannschaft gibt es zur gleichen Zeit dort nicht. Die wenigen Mannschaften, die seit 1974 zumindest um den Meisterinnentitel im eigenen Land spielen dürfen, brauchen ein dickes Fell. In den Medien wird diskutiert, ob der Fußball den Frauenkörper verforme, ob ein Brustschutz vonnöten sei, um die Stillfähigkeit zu erhalten, und ob Frauen überhaupt in der Lage seien, 45 Minuten am Stück einem Ball hinterherzulaufen.

Den offen zu Tage getragene Sexismus, dem Deutschlands Fußballfrauen der ersten Stunde begegnen, zeigt John David Seidlers Dokumentarfilm „Das Wunder von Taipeh“, erschienen im Jahr 2019. Der Titel deutet es schon an: Die Anfänge des deutschen Frauenfußballs sind mit Taiwan und der Blütezeit von „Team Mulan“ schicksalhaft verbunden. Anlass für die Begegnung der beiden Teams ist die inoffizielle Frauenweltmeisterschaft in Taiwan 1981.

Das Land lädt bereits zum zweiten Mal zum „Women’s World Invitational Tournament“ – 10 Jahre, bevor die FIFA ihre erste Weltmeisterschaft für Frauenfußball abhält. Die Trägheit der etablierten Fußballbünde in der Frauenförderung ist in Deutschland eklatant: Erst 1970 hatte der DFB ein Totalverbot für Frauenfußball in seinen Vereinen aufgehoben. Bis dahin hieß es im Regularium: „Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut.“

Auf eigene Kosten zur Weltmeisterschaft

Seit einigen Jahren drängen Deutschlands Spielerinnen nun in die Vereine und der Ruf nach einer eigenen Nationalelf wird immer lauter. Doch die Entscheidung des Deutschen Fußballbundes fällt Jahr um Jahr dagegen aus. 1981 trudelt schließlich die Einladung aus Taiwan ein. „Da hat der DFB zurückgeschrieben, sie hätten keine Nationalmannschaft“, erinnert sich Ex-Spielerin Ingrid Nandzik in Seidlers Reportage.

Damals ist sie Stürmerin des SV Bergisch Gladbach 09, dem amtierenden deutschen Meister. Dann sollen sie eben ihre stärkste Mannschaft schicken, lautet die Antwort aus Taiwan. Der SV Bergisch Gladbach 09 wird auserkoren, für Deutschland in Taipei anzutreten – nur finanzieren will der DFB die Reise nicht. Mit Werbedeals und Kuchenverkäufen kratzen die Spielerinnen das Geld zusammen. „Wir haben uns selber ausgerüstet, auf eigene Kosten, und dann sind wir gefahren“, beschreibt Nandzik.

In Taiwan erwartet sie eine feuchte Hitze, in der sie neun Spiele in elf Tagen bestreiten müssen, sowie eine Öffentlichkeit, die sich für Frauenfußball interessiert. „Das Stadion war brechend voll“, erinnern sich die Sportlerinnen in Seidlers Film, „und sie hatten so schöne Spitznamen für ihre Spielerinnen“. Auch an Chou Tai-yings Beinamen erinnern sie sich noch: „Goldener Fuß“ nannten sie ihre Fans liebevoll. Taiwans goldener Kickerin ist bewusst, dass sie den Deutschen damals vieles voraushatten. „Wir waren eine Vorzeigemannschaft“, so Chou.

„Der Frauenfußball war unserem Land wichtig. Durch den Sport konnten wir Taiwans Platz in der Welt sichtbar machen. Die Einladungsturniere, die Flugtickets ins Ausland – das hat ziemlich viel gekostet. Der Frauenfußball hat damals viel Unterstützung von Regierung und Fußballverband erfahren.“ Vorurteile hätte es in Taiwan zwar auch einige gegeben, aber als die jetzige Trainerin gehört hatte, dass Frauenfußball in Deutschland lange verboten war, fehlten ihr die Worte. „Deutschland, das für seinen Fußball bekannt war!“ Sie ist heute noch fassungslos.

Kämpfen trotz ungleicher Voraussetzungen

Auch den deutschen Spielerinnen wird der Unterschied bewusst. „Was für eine Professionalität da vorherrschte“, erzählt Ex-Spielerin Brigitte Klinz in Seidlers Dokumentation. „Wo wir praktisch gedacht haben, das wären Entwicklungsländer. Die waren aber letztendlich um ein Vielfaches weiter, als wir es damals waren. Wir mussten ja um viele Dinge kämpfen. Die hatten eine ganz andere Möglichkeit, sich auf das Turnier vorzubereiten“, erzählt Klinz.

Trotz der harten Konkurrenz taucht Chou Tai-ying im „Wunder von Taipeh“ lachend neben ihren deutschen Kontrahentinnen auf. Sieben Jahre später sollte die Taiwanerin sogar für den SV Bergisch Gladbach 09 aufs Feld gehen – sechs Monate lang, auf Einladung der Deutschen. Aus der Begegnung in Taipei sind lebenslange Freundschaften entstanden. Doch damals, im 30 Grad heißen Oktober 1981, geht es zuallererst um den Titel.

Im Halbfinale stehen die deutschen Frauen dem „Team Mulan“ gegenüber. „Gegen Taiwan – das war schon hart“, erinnert sich Brigitte Klinz. Das Match endet 1:1 unentschieden und sichert den willensstarken Deutschen ihren Platz im Finale. Sie treffen auf die Niederlande und siegen – 2:1 für die deutschen Frauen.

Von der Weltspitze ins Hintertreffen

Jubel im Stadion – und Jubel auch, als die Weltmeisterinnen nach Hause kommen. Trotz allen Widerstands – oder gerade deswegen – haben Deutschlands Frauen in Taipei ihr Können bewiesen. Wochen später gründet der DFB die erste Frauennationalelf. Ein neues Kapitel Frauenfußballgeschichte kann beginnen.

Und in Taiwan? Chou Tai-ying spielt noch bis in die 1990er Jahre. Seither hat sie sich dem Nachwuchstraining verschrieben. Doch der internationale Wettbewerb ist härter geworden. Nach seinem glänzenden Start ist Taiwans Frauenfußball ins Hintertreffen geraten, berichtet Chou. „Mit der ersten offiziellen FIFA-Weltmeisterschaft 1991 hat sich die Sicht auf Frauenfußball geändert. Die anderen Länder fingen an, zu investieren,“ erinnert sie sich.

In Taiwan stagnierte die Förderung, andere Länder überholten das „Team Mulan“. Seit 1994 haben sich Taiwans Fußballfrauen nicht mehr für eine Weltmeisterschaft qualifiziert. Doch Chou Tai-ying bleibt eine Kämpfer*innennatur: „Die Frauenmannschaft wird sicher nicht aufgeben, an das internationale Niveau anzuschließen.“

* Chinesischsprachige Namen werden hier entsprechend der originalen Schreibweise mit „Nachname Vorname“ angegeben.

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