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„Sie wollen uns konsumieren“

Einblick in rechtsradikale Internetgruppen

Antisemitismus? Den gibt es nicht mehr und schon gar nicht in den USA. Das jedenfalls dachte Talia Lavin. Bis die jüdische Journalistin auf antisemitische Hasstiraden im Internet stieß. Um herauszufinden, was dahintersteckt, schlich sie sich in rechtsradikale Gruppen im Netz ein.  

Von Marinela Potor, Cincinnati

Es war 2013, als Talia Lavin zum ersten Mal Antisemitismus erlebte: Sie war 24 Jahre alt und moderierte in ihrem ersten Journalismus-Job Online-Kommentare bei der jüdischen Agentur „Jewish Telegraphic Agency“ (JTA) in New York. Was sie dort sah, schockierte sie. Anonyme Personen beschrieben detailliert, wie sie die Redakteur*innen zerstückeln und töten wollten. „Das traf mich bis ins Mark. Bis dahin war Antisemitismus für mich eher etwas Abstraktes, etwas, das es in der Gegenwart nicht mehr gab“, erinnert sie sich.   

Dass Feindlichkeit gegen jüdische Menschen existierte, war Lavin zwar durchaus bekannt. Schließlich sind ihre Großeltern Holocaust-Überlebende. „Ich hatte aber immer gedacht, Antisemitismus sei etwas Europäisches, aus der Vergangenheit. Das mag naiv klingen, doch ich bin sehr behütet aufgewachsen in einem jüdischen Stadtteil in New Jersey und hatte Judenfeindlichkeit bis dahin nie erlebt.“ Die Kommentare gegen ihre jüdischen Kolleg*innen zeigten Lavin allerdings, dass Antisemitismus in den USA sowie im Hier und Jetzt existiert.

Ein aufrüttelnder Moment

Nur wenige Jahre später, am 12. August 2017, verfolgte sie im Fernsehen den Aufmarsch „Unite the Right“ in Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia. Bei der Demonstration verschiedener rechtsextremer Gruppen sah Lavin Hakenkreuz-Fahnen und hörte Sprüche wie „Juden werden uns nicht ersetzen!“. Das sei sehr schwierig und schmerzhaft anzuschauen gewesen, erzählt sie. „Es war so toxisch, aber auch ein aufrüttelnder Moment.“ Spätestens jetzt war ihr klar, dass sie verstehen wollte, warum all diese Menschen Jüdinnen und Juden so sehr hassten.

Um das herauszufinden, setzte sie dort an, wo der Hass am ungezügelsten war: im Internet. In Foren wie „8chan“ las Lavin, wie User*innen jüdische Schädel mit Neandertaler-Schädeln verglichen. Auf rechtsradikalen Blogs fand las sie Aufrufe zum Töten der jüdischen Bevölkerung. „Da passierte etwas in mir“, sagt Lavin. Sie war wütend und beschloss, ein Buch zu schreiben.

2020 erschien „Culture Warlords: My Journey into the Dark Web of White Supremacy (Öffnet in neuem Fenster)“, zu Deutsch „Kriegsherren der Kultur: Meine Reise in das dunkle Netz der White Supremacy“. Ursprünglich sollte es eine Analyse werden, die antisemitische Mechanismen entlarvt. Doch es kam anders. Denn ohne es zu ahnen, begab sich Lavin damit auf eine Reise, die sie an dunkle Orte und persönliche Grenzen führte.

Stille Beobachterin

Talia Lavin beginnt als stille Mitleserin auf antisemitischen Online-Plattformen, etwa bei Telegram. Ein rassistischer Name und das Profilbild einer Banane reichen dafür – schließlich nutzt niemand echte Namen oder Bilder. Hier sieht Lavin Videos von Verstümmelungen nicht-Weißer Menschen, homophobe Memes oder Diskussionen, bei denen es um den geheimen jüdischen Einfluss auf die US-Politik geht. Doch Talia Lavin merkt, dass sie nur an der Oberfläche kratzt. 

Was treibt diese Menschen an? Was denken und fühlen sie wirklich? Antworten wird sie weder als jüdische Frau noch als stumme Leserin bekommen. Um hinter die Memes und Slogans zu blicken, muss sie tiefer eintauchen, die Sprache dieser Menschen sprechen und ihren Hass in all seinen unterschiedlichen Formen annehmen. So beginnt Lavin, in verschiedene Rollen zu schlüpfen.

Eine davon ist „Ashlynn“. Sie kommt aus Iowa, hat einen rechtsradikalen Vater und geht gerne jagen. All das, inklusive gefälschtes Profilfoto einer Weißen, blonden, blauäugigen Frau, erfindet Lavin, um Männer auf einer rassistischen Dating-Website, die sie über einen rechtsextremen Blog gefunden hat, zu täuschen. Sie will herausfinden, wie Männer ticken, die nur Beziehungen mit Weißen Frauen wollen.

Interessenten zu finden ist nicht schwer, denn außer „Ashlynn“ sind hier nur wenige Frauen aktiv. Das Misstrauen gegenüber Lavins falschem Profil ist gering. Die Nutzer sind froh, mit einer attraktiven Frau zu chatten und Lavin hat stets gut recherchierte Antworten zu ihrem Leben in Iowa parat. Oft reicht es, rassistische Sprüche zu schreiben, um das Vertrauen der Männer zu gewinnen. Die meisten wollen ohnehin eher über Hobbys, Haustiere oder ihr Abendessen sprechen. Einige schreiben ihr sogar Liebesbriefe. In einem heißt es: „Liebe Ehefrau, ich hoffe, du bist eine gute Christin, konservativ und hasst Diversität und Multikulturalität.“

Es gibt nicht „den Rechtsradikalen“

Im Austausch mit so vielen Männern erkennt Lavin, dass es „den Rechtsradikalen“ nicht gibt. Denn in den USA denken viele bei Neonazis an Weiße Männer aus der Unterschicht aus den Südstaaten. Die Realität sei aber viel diverser, so Lavin. In ihrem Buch schreibt sie: „Diese Männer kommen aus Utah, Kalifornien, New York, Ohio oder Colorado. Sie arbeiten in Fabriken, auf Bauernhöfen und viele sind Software-Entwickler. Sie haben Jobs, Häuser, Autos, erfüllte Leben, aber die White Supremacy motiviert sie. Diese weißheitsliebenden Männer tarnen sich sehr geschickt.“

Um weiter hinter diese Tarnung zu schauen, will Lavin einen Schritt weitergehen und zu einem hassenden Mann werden. Sowohl auf der Dating-Website als auch in anderen Foren fällt Talia Lavin auf, dass rechtsextreme Männer ein ähnliches Frauenbild haben. Ihre ideale Frau ist nicht nur Weiß, sondern auch unterwürfig. „Die Weißen Frauen gelten als unschuldig und sittsam. Jüdische Frauen dagegen werden als hässlich und eklig gezeichnet und da kursiert die Theorie, dass diese wollen, dass die Weißen Frauen genauso deformiert aussehen. Misogynie und Antisemitismus liegen sehr nah beieinander.“

Ist Misogynie damit eine Art „Einstiegshass“? Um das herauszufinden, nimmt Lavin eine neue Rolle an: Tommy O‘Hara. Tommy hat noch nie eine Frau geküsst oder Sex gehabt. Mit seinen 21 Jahren fühlt er sich wie in einem sexlosen Sarg gefangen. Mit diesem Profil kann sich Lavin unter eine frauenhassende Community von sogenannten „Incels“ auf der Plattform Reddit mischen. „Incels“ sind eine Subkultur heterosexueller Männer, die glauben, dass sie Frauen sexuell nicht anziehen können, weswegen sie oft frauenfeindliche Ansichten vertreten. Das „Incel“-Forum ist darum ein guter Einstiegspunkt, um Misogynie zu verstehen, glaubt Lavin. 

Auch wenn nicht alle Nutzer Weiß sind, liest Lavin viele rassistische Kommentare. Die Attraktivität von Frauen wird nach Rassen sortiert. Nutzer diskutieren, ob Italiener*innen wirklich Weiß sind oder ob die italienische Mafia von einer jüdischen Kabal kontrolliert wird. In den Jüdinnen und Juden sehen die „Incels“ zudem häufig die Ursache ihres sexlosen Lebens. Die Begründung? „Am Ende muss das keinen Sinn ergeben. Juden kann man immer für alles die Schuld geben“, sagt Lavin.

Von Abscheu erfüllt

Viele Nutzer sieht Lavin aufgrund ihrer Rage gegen Frauen am Rande einer Gewalttat. Sie findet ihre Hypothese bestätigt: Von Frauenfeindlichkeit ist es nur ein kleiner Schritt zu anderen Formen von Hass. „Ashlynn“ und „Tommy“  sind nur der Anfang. In weiteren Monaten ihrer Recherche erfindet Talia Lavin einen Fabrikarbeiter aus West Virginia, um sich einer nationalistischen Bewegung anzuschließen. Als junge Frau infiltriert sie ein Netzwerk von Neonazis, in dem sie selbst Tötungsszenarien von jüdischen Menschen schildert. So tief in die Abneigung anderer einzutauchen, ist alles andere als distanziert und analytisch.

Was sie lesen und schreiben muss, traumatisiert und erschüttert Lavin. In einigen Situationen hat sie Angst, dass ihre Tarnung auffliegt und diese gewaltbereiten Menschen ihre echte Identität herausfinden. Teilweise ertappt sie sich dabei, wie sie die Abscheu gegen jüdische Menschen annimmt und sich im Spiegel als die bucklige, armselige Jüdin wahrnimmt. Gegen Ende ihrer Recherche kapselt sich Lavin immer mehr ab, arbeitet nur noch an ihrem Buch. Dabei verfällt sie in eine Depression.

„Ich hasste mich, die Welt und meine Worte. Ich konnte nicht essen, mein Hals fühlte sich weich und verletzbar an, so geschwollen aus Sorge, dass es mir Angst machte“, schreibt sie in ihrem Buch. Gleichzeitig will sie nicht aus Angst aufhören. Zuflucht findet sie in dieser Zeit in einem ungewöhnlichen Hobby: Schwerter! Seit ihrer Jugend hat Lavin ein Faible für Schwerter, wie sie in Mittelalter-Filmen zu sehen sind.

Während sie an ihrem Buch arbeitet, schenkt ein Freund ihr eine Nachbildung von „Anduril“, dem Schwert von Aragorn aus „Herr der Ringe“. In einer Zeit, in der sie täglich im Netz lesen muss, wie viele Menschen sie umbringen wollen, ist es für Lavin beruhigend, eine scharfe Waffe in ihrer Wohnung zu haben. Benutzen musste sie diese bislang nicht.

Wann kommt die Wende? 

Was für Talia Lavin als Ausflug in rassistische Online-Foren begann, mündete in einer emotionalen Reise in eine irrationale und hasserfüllte Welt. „Antisemitismus ist komplexer und subtiler als andere Formen von Rassismus“, erklärt sie. Das liege auch daran, dass die Gefühle widersprüchlich seien, so Lavin. „Sie hassen und sie lieben uns. Aber sie lieben uns, wie man eine Bratwurst liebt: Sie wollen uns konsumieren und zerstören. Gleichzeitig brauchen sie uns aber auch, um ihre Weltsicht zu erklären und zu rechtfertigen.“

Um diesen Mechanismus zu enttarnen, ist es für Lavin wichtig, weiter über das Thema zu schreiben. Neben ihrer journalistischen Arbeit und Veröffentlichungen auf ihrem Blog (Öffnet in neuem Fenster) arbeitet sie an einem neuen Buch, in dem sie die religiöse und politische Seite des Antisemitismus aufdecken möchte. Auch wenn sie mittlerweile Abstand zu ihrer Recherche gewonnen hat, ist ein Gefühl nicht gewichen: Wut. Wut auf die Menschen, die sich jeden Tag für Hass entscheiden und Wut auf alle, die nichts dagegen tun. Das treibt sie an.

Mit ihren Werken will sie nicht nur die antijüdischen Mechanismen im Land entlarven. Sie glaubt noch an einen Wandel. „Ich hoffe immer noch, dass wir irgendwann an den Punkt kommen, an dem für so viele die Schmerzensgrenze überschritten ist, dass sich die Gesellschaft gegen diesen Hass wehrt“, sagt sie. Bis dahin kämpft Talia Lavin weiter, wie sie am Besten zu kämpfen weiß: mit ihren Worten.

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