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Mit Herd und Herz

Wie Essen alle an einen Tisch bringt 

Migration und Asyl, kaum ein anderes Thema wird in Deutschland so heiß diskutiert. Die Kontroversen nehmen zu, Fronten verhärten sich. Doch wie schaffen wir es, als Gesellschaft zueinander zu finden? Ein Berliner Verein zeigt, wie es gehen könnte.

Von Giorgia Grimaldi, Berlin

„Mein Mann hat mich überredet, hierherzukommen“, sagt Sharmin*, als sie an einem Samstagnachmittag vor der Roßbachstraße 6 steht. Während die junge Frau spricht, hören andere Frauen zu und blasen den Qualm ihrer Zigaretten in die kalte Winterluft. „Ich habe mich zuerst nicht getraut, weil ich mich manchmal nicht so gut ausdrücken kann“, erklärt Sharmin und hält kurz inne. „Aber jetzt bin ich ja hier“, lacht sie. Sharmin stammt aus Indien und lebt seit fünf Jahren in Deutschland. Seit einem Jahr lernt sie aktiv Deutsch und sucht Anschluss. 

Dafür ist sie heute in Schöneberg, einem Stadtteil im Südwesten Berlins. Ankommen in Deutschland, das kann dauern. Das Landesamt für Einwanderung, umgangssprachlich auch „Ausländerbehörde“ genannt, ist bekanntlich überlastet. Bis ein Termin zur Beantragung des Aufenthaltstitel frei wird, vergehen oft viele Monate. Ohne Aufenthaltsgenehmigung gestaltet sich die Jobsuche allerdings schwierig. Und ohne Job keine Wohnung. Hinzu kommen Sprachbarrieren. Ein Sozialleben bleibt da oft auf der Strecke. 

Vor dem Hauseingang Nummer 6 flattert ein Banner mit der Aufschrift „Über den Tellerrand“. Ein Blick durch die große Glasfront lässt erahnen, warum sich die Frauen hier treffen: Der großzügige Raum beherbergt eine offene Küche mit Kochinsel in der Mitte, umgeben von Pflanzen, gut bestückten Bücherregalen und vielen Sitzgelegenheiten. Das warme Licht von innen lässt selbst das Grau der Fassade strahlen. „Gehen wir?“, fragt eine der Frauen, als sie ihre Zigarette ausdrückt. „Let’s go“, antwortet Sharmin und öffnet die Tür.

Kochen mit Freundinnen

„Wir wollen Begegnungen auf Augenhöhe schaffen“, erklärt Moana*. Sie ist eine von 13 festen Mitarbeiter*innen des gemeinnützigen Vereins am Standort Berlin. „Über den Tellerrand“ funktioniert als dezentrales Netzwerk und zählt über 40 Standorte in ganz Deutschland: in großen Städten wie Frankfurt oder München, aber auch in kleineren wie Heidelberg oder Bielefeld. Welches Ziel der Verein verfolgt, wird klar, sobald man sich im „Kitchen Hub“ umsieht, in dem sich ein Dutzend anderer Frauen verteilt haben.

Manche kennen sich bereits von vergangenen Veranstaltungen und grüßen herzlich, andere sind wie Sharmin zum ersten Mal hier und lassen den ersten Eindruck auf sich wirken. Töpfe scheppern und Messer schnippeln, während ein buntes Sprachmosaik aus Deutsch, Englisch und Arabisch den Raum füllt. Frauen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Alters beginnen zu kochen. Heute soll es Salat mit Granatapfelkernen als Vorspeise, ein syrisches Ratatouille als Hauptgang und Kokosnuss-Kuchen zum Nachtisch geben – basierend auf Rezepten, die die Teilnehmerinnen selbst mitgebracht haben. 

„Wir schaffen einen Raum, der Austausch zwischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen ermöglicht. Durch gemeinsames Kochen und Essen kommen hier Menschen mit und ohne Migrationsbiografie zusammen. Wir bieten aber allen Menschen, egal welcher Herkunft, Identität, Religion oder Gender einen Ort der Begegnung“, erklärt  Moana. Doch an diesem Tag sind tatsächlich nur Frauen eingeladen, denn das Event heißt „Kochen mit Freundinnen“ und richtet sich explizit an Menschen, die sich als weiblich identifizieren.

Das Konzept scheint aufzugehen: Im „Kitchen Hub“ brutzeln, kleckern und lachen die Frauen zusammen. Dabei lernen sie sich kennen, ganz ohne Druck. Niemand muss seine Lebensgeschichte ausbreiten. Viel eher geht es darum, einfach ins Gespräch zu kommen. Sharmin scherzt: „In Deutschland ist mir ‚scharf‘ nie scharf genug“, während sie mit den anderen Teilnehmerinnen, die sich um den Hauptgang kümmern, über die verschiedenen Gewürze für das Gemüse spricht.

Soziale Teilhabe ist eine Frage der Herkunft und des Geschlechts

Eine Syrerin an der Kochstation für die Nachspeise erklärt, dass sie Mengenangaben immer in „Gläsern“ formuliere, da sie ohne Küchenwaage oder Messbecher kochen gelernt habe. „Ein Glas hiervon, ein Glas davon“, sagt sie, während sie die Zutaten für den Kuchen vorbereitet.

„Kochen mit Freundinnen“ ist eines von zwei Formaten, die darauf abzielen, für besonders vulnerable Personen innerhalb der Zielgruppe Angebote zu schaffen. Außerdem gibt es noch die „Rainbow Kitchen”, die ausschließlich Mitgliedern der LGBTQ-Community vorbehalten ist. „Beide Aktivitäten sind als Safer Spaces konzipiert, also nur für Menschen zugänglich, die sich diesen Communitys zugehörig fühlen“, erklärt Moana.

Das sei sehr wichtig, betont sie, denn die soziale Teilhabe sei für zugewanderte queere Menschen und Frauen schwieriger als für Männer. „Es gibt einfach großen Bedarf für Räume, in denen sich Frauen begegnen können, unabhängig von Männern. Seit den Jahren 2015, 2016 wurde der Blick besonders auf die Männer gerichtet, die nach Deutschland kamen. Das zeigt, dass Frauen mit Fluchterfahrung nicht so einen starken Zugang zur Gesellschaft haben.“

Das habe ganz unterschiedliche Gründe, erklärt Moana. Oft würde Kinderbetreuung eine Rolle spielen. In diesem Fall blieben Frauen meist zu Hause und unter sich. Andere fühlten sich in der Nähe von Männern aufgrund persönlicher, religiöser oder kultureller Motive einfach nicht wohl.

Doch warum soll ausgerechnet Kochen beziehungsweise Essen da helfen? Dahinter steht nicht etwa nur die Lust auf eine schmackhafte Mahlzeit, sondern ein Konzept. „Das ist ein sehr niederschwelliges Angebot“, erklärt Moana. „Immerhin essen und kochen wir ja alle – selbst wenn es nur Nudelwasser erhitzen ist. Das verbindet.“ Und: Kochen sei nicht so stark sprachbasiert. Menschen kämen durchs Tun zusammen und jeder könnte dabei einen Beitrag leisten: Schneiden, Tisch decken, Musik auswählen oder abwaschen.

Die Idee kam vor elf Jahren 

Die Idee zur Vereinsgründung entstand 2013. Der Oranienplatz in Berlin war monatelang Schauplatz der sogenannten Flüchtlingscamps, ein provisorisches Zuhause für Migrant*innen. Später kam es dort zu Protesten: Menschen forderten mehr Rechte für Geflüchtete und eine bessere Asylpolitik. Auch Studierende wollten einen Beitrag leisten und überlegten, was sie tun können, damit die Menschen in den Camps mehr Lebensqualität erfahren und einen Zugang zur Gesellschaft finden.

Eine spontane und simple Idee brachte alles ins Rollen: Die Studierenden kamen mit Campingkochern in die Lager und begannen, mit den Menschen dort Gerichte zuzubereiten. Daraus entstand zunächst ein Buch mit dem Titel „Über den Tellerrand kochen“ und ein Jahr später der fast gleichnamige Verein. Heute finden an den verschiedenen Standorten etwa 20 bis 30 gut besuchte Veranstaltungen pro Monat statt. Für die Teilnehmenden sind diese stets kostenlos.

Um sicherzugehen, dass alle das Angebot verstehen und sich eingeladen fühlen, kommuniziert der Verein auf Social Media auf mehreren Sprachen, meist auf Deutsch, Englisch und Arabisch. Neben Kochevents gibt es kreative und sportliche Aktivitäten sowie Spieleabende und Sprachcafés. Die 20 bis 50 Teilnehmenden pro Termin zeigen, dass der Verein einen Nerv trifft. Manche von ihnen werden später selbst bei „Tellerrand“, wie die Community den Namen oft abgekürzt, aktiv – nicht zuletzt auch hauptberuflich, wenn es Stellen gibt.

So war es auch bei Moana. Doch stabile Einnahmen sind ein schwieriges Thema. Der Verein finanziert sich über Fördergelder, etwa von Ministerien, auf Bundes- und Länderebene, oder auch privaten Trägern. „Es ist prekär, anders kann man es nicht sagen. Geld fließt immer nur so lange, wie der Projektantrag genehmigt wurde. Danach müssen neue Anträge gestellt und neue Gelder akquiriert werden. Es ist weder viel noch planbar.“ Unterstützung erfährt der Verein aber auch durch viele ehrenamtliche Helfer*innen, die Teil des Netzwerkes sind. 

Eine Prise Menschlichkeit

Aktive bei „Über den Tellerrand“ wünschen sich eine Stärkung sozialer Arbeit in der öffentlichen Wahrnehmung. Doch das ist nicht die einzige Baustelle. Auch gesellschaftlich müsse etwas passieren, sodass Begegnungen stattfinden können und Menschen unterschiedlicher Herkunft einen Platz in der Mitte der Gesellschaft finden. „Nur wenn wir Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung als Individuen kennenlernen, können wir aufhören, sie als anonyme, homogene Gruppe zu sehen und so Vorurteile abbauen“, erklärt Moana.

Zurück im „Kitchen Hub“ steigen süße und herzhafte Düfte in die Nase. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Das Essen ist bald fertig. Mediterranes Gemüse gart im Fleischsud, während aus dem Ofen ein verführerischer Duft von Butter und Kokos emporsteigt. Doch hier entsteht mehr als nur ein Vorgeschmack auf ein leckeres Mahl. Sharmin und die anderen Frauen scheinen zu finden, wonach sie gesucht haben: Anschluss und einen schönen Moment in Gesellschaft. Und obwohl nicht alle die gleiche Sprache sprechen, entsteht durch das gemeinsame Kochen ein Dialog, der Fremde zu Freundinnen macht.

* Sharmin und Moana werden auf eigenen Wunsch nur mit Vornamen im Text erwähnt.

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