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Trauern ist nicht nur traurig sein

Interview mit Anja Franczak

Vor 14 Jahren kam die deutsche Kulturwissenschaftlerin Anja Franczak wegen der Liebe nach Polen. Beruflich war sie in dieser Zeit in der Filmbranche tätig. Doch manchmal schreibt das Leben das Drehbuch selbst und Anja Franczak musste sich mit dem Thema Trauer auseinandersetzten. Danach hat sie das „Institut des guten Todes (Öffnet in neuem Fenster)“ in Warschau gegründet. Wir haben sie interviewt.

Von Katarzyna Karpińska, Łódź

Nach welchen Antworten suchen die Personen, die sich an das „Institut des guten Todes“ wenden? Wollen Sie wissen, wie man gut stirbt?

Unser Name ist ein Denkanstoß, eine Einladung ins Gespräch rund um Tod und Trauer. Viele Menschen suchen eine Art Bestätigung oder Erlaubnis dafür, dass so wie sie trauern ganz normal ist. Sie erleben einen großen Schmerz wegen des Verlusts und zusätzlich bauen sie eine zweite Schicht aus Selbstzweifeln auf oder übernehmen die Kritik von anderen Menschen, die sagen: ‚Jetzt stell dich nicht so an. Das wird schon wieder gut. Weint nicht so viel.‘ Wir sind da, um zu helfen, diese zusätzlichen Schmerzschichten abzulösen und zu zeigen, dass alles in Ordnung ist, wie es ist.

 

Was hat Sie dazu veranlasst, sich beruflich mit diesen Themen zu beschäftigen?

Eine sehr große persönliche Krise, die auch mit eigenen Verlusten zu tun hatte. In dieser Zeit habe ich zum ersten Mal bemerkt, was die Trauer in unserem kulturellen Kontext bedeutet. In meinem Umfeld habe ich eine riesige Hilfslosigkeit erfahren: Viele waren ganz schnell mit dem Thema überfordert und haben sich zurückgezogen. Erst einige Zeit später habe ich Menschen kennengelernt, die professionell im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung, aber auch persönliche Abschiedsrituale tätig waren – sie haben mich sehr inspiriert.

 

Wie war dann der Weg von der Schülerin bis zur Meisterin?

Als Meisterin würde ich mich nicht bezeichnen. Ich musste viele Hürden überwinden. Obwohl ich schon länger in Polen gelebt habe und die Sprache kannte, startete ich weiterhin von der Position einer relativ jungen Frau mit Migrationshintergrund. Außerdem fanden in Polen keine Fortbildungsmöglichkeiten zur Trauer- und Sterbebegleitung statt: Ich musste regelmäßig nach Deutschland fahren, um da zu lernen. In meiner neuen Heimat gab es auch keine richtige Übersetzung für meinen Beruf und gar keine offiziellen Strukturen. Das war wirklich alles learning by doing. Heute arbeitet unser Institut mit mehr als 100 Menschen zusammen. In meinem Kopf gab es zu der Zeit gar nicht diese Idee, dass ich so ein Netzwerk in Polen aufbauen könnte.

 

Wann hat sich das geändert? 

Noch während meiner Ausbildung haben sich Leute bei mir gemeldet, die von irgendjemandem gehört haben: Da ist so eine Anja, die mit Trauernden arbeitet. Ich habe mich noch gar nicht bereit gefühlt, aber sie wollten schon mit mir Termine vereinbaren. Dann kamen Einladungen, einen Vortrag zu halten oder einen Workshop zu gestalten und so habe ich hautnah erlebt, dass ein großer Bedarf in Polen besteht. Innerhalb von fünf Jahren sammelten sich immer mehr Leute, die Interesse an der Bildungsarbeit rund um das Lebensende hatten und so haben wir gemeinsam das Institut auf die Beine gestellt.

 

Was bieten Sie da an? 

Wir organisieren unterschiedliche Veranstaltungen, die einen interdisziplinären Charakter haben: Wir machen Ausstellungen, arbeiten mit Theatern und Musikbands, gestalten Ritualkreise für Trauernde. Darüber hinaus bieten wir Tagesseminare, Workshops und Fortbildungen zur Trauer- und Sterbebegleitung an, aber auch spezifische Kurse für Ritualgestaltung.

 

Und ist das Interesse dafür groß?

Obwohl wir ein privates Institut sind und alle unsere Schulungen selbst bezahlt werden müssen, ist die Nachfrage überraschend groß. Den Kurs zur Ritualgestaltung leiten wir seit drei Jahren einmal pro Jahr. Im Moment haben wir aber so viele Anfragen bekommen – vor allem von Frauen – dass wir 2024 diese Fortbildung häufiger veranstalten werden. Im Grunde genommen werden 90 Prozent unserer Workshops und Seminare von Frauen besucht. 

 

Woran kann das liegen?

Ich glaube, dass für Frauen dieses Todesthema – ähnlich wie das Geburtenthema – leichter zugänglich ist, also der Anfang und das Ende des Lebens. Auch die Sozialisierung spielt hier eine große Rolle: dass Frauen die Helferinnen sind. In Polen begegnet mir die Annahme tatsächlich sehr oft.

 

Der Tod selbst kennt kein Geschlecht, ist demokratisch und international. Doch das Wissen über Sterben und Trauen ist bei jedem unterschiedlich. Was kann man Ihrer Meinung nach tun, damit wir uns damit auseinandersetzen?

Ich habe mehrere Ansätze im Kopf: Das Thema sollte auf jeden Fall in die Schulen – weg von diesem Denken, dass es zu schwer für Kinder ist. Es gibt viele Kinder, die damit ganz früh konfrontiert sind. Sie verlieren ihre Eltern oder ein Geschwisterkind stirbt. 

Außerdem sehe ich einen großen Bedarf in der Bildung von medizinischem Personal. Tod und Trauer kommt bei Ärzten und Ärztinnen erschreckend wenig in deren Ausbildung vor. Die Kommunikation mit Patienten und Übermittlung von schwierigen Nachrichten – das sollte Teil der Grundausbildung sein. Eigentlich auch in vielen anderen Berufsausbildungen, etwa für Lehrer und Lehrerinnen oder Personalabteilungen in Firmen. Also überall, wo Menschen einen Beruf haben, in dem sie häufiger mit anderen Menschen zu tun haben. Da werden sie früher oder später auch trauernde Menschen treffen.

 

Und was kann jede*r von uns im Alltag machen, um den Tod zu enttabuisieren? 

Offen darüber sprechen. Man muss das Thema normalisieren und zeigen, dass wenn man über den Tod redet, das nicht heißt, dass jemand sofort stirbt. Wir brauchen eine neue Trauer-Kompetenz. Viele wissen nicht, wie man mit Verlust umgeht. Wie können wir uns selbst und gegenseitig unterstützen? Das wird in den nächsten Jahren ganz groß werden.

 

Warum?

Weil die Zeit, in der wir leben, ganz besonders von Verlusten geprägt ist. In Anbetracht der Klimakatastrophe, der Pandemieerfahrung, der bestürzenden Kriege, der fortschreitenden gesellschaftlichen Spaltung usw. haben viele Menschen ein Grundgefühl der Sicherheit oder gar die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft verloren. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir gesellschaftlich und ökologisch noch viel mehr verlieren werden. Menschen haben nicht generell Angst vor Veränderungen aber Angst vor den Verlusten, die mit Veränderungen einhergehen. Es ist eine Kunst, mit Verlusten warmherzig und auf eine unterstützende Weise umzugehen. Das Thema ist noch größer als nur die Sterbebegleitung.

 

Gibt es noch mehr Gründe?

In unserem Wirtschaftssystem, das auf Konsum und Wachstum ausgerichtet ist, gibt es eigentlich gar keinen Platz für das Thema Verlust und Trauer. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Versprechungen des Kapitalismus ist in meiner täglichen Arbeit vielleicht nicht so offensichtlich, aber im Grunde genommen liegt genau dort ein zentraler Teil des Problems.  Verlust und Trauer sind ganz tief in unser Leben eingeschrieben und wir tun aber so, als ob das nicht wahr wäre. Ein Beispiel dafür ist der rasante Anstieg chirurgischer Eingriffe, die den Alterungsprozess verlangsamen, bzw. letztendlich nur kaschieren. Aber wir werden alle sterben und alle, die wir lieben, werden auch sterben. Statt davor die Augen zu verschließen, können wir nach den Antworten suchen, wie wir mit dieser Essenz unserer Existenz bewusster umgehen können.  

 

Kann es sein, dass nach einem Verlust die Trauer nie endet?

Ja, das kann passieren. Doch Trauer muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Alte Trauermodelle gingen davon aus, dass der Prozess verarbeitet werden muss, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen: nämlich, dass man aufhört zu trauern. In der zeitgenössischen Trauerpsychologie beschreibt man eher eine Erfahrung, die nicht endet, aber sich verändert. 

 

Wie soll das funktionieren?

Die Trauer beinhaltet nicht nur schwierige Gefühle wie Wut, Traurigkeit, Angst und so weiter, sondern auch Dankbarkeit, schöne Erinnerungen, ein Gefühl der inneren Verbundenheit oder ein Gefühl diesen Menschen immer noch zu lieben. Bei diesen Gefühlen will man doch gar nicht, dass sie aufhören! Menschen fragen mich: Wie lange wird die Trauer noch dauern? Dann meinen sie meistens gar nicht die ganze Trauererfahrung. Sie möchten, dass der Schmerz kleiner wird und dass sie die schwierigen Emotionen abfließen dürfen, ohne das Gefühl der Verbundenheit zu verlieren.

 

Denken Sie häufiger an Ihren eigenen Tod?

Nicht so viel. Ich glaube, über den Tod selbst kann man auch nicht wirklich sprechen, weil er außerhalb unseres Denkvermögens liegt. Statt die Antwort auf die Frage zu suchen „Was ist nach dem Tod?“ frage ich mich viel öfter: Was ist mit dem Leben vor dem Tod? Wie will ich eigentlich leben? Wie kann ich bewusst mit meinen Werten und damit, was ich gut kann, einen Beitrag zur Gesellschaft leisten? Das sind die Fragen, die ich mir stelle, seitdem ich mich mit dem Tod so intensiv auseinandersetze – und mein Leben hat sich sehr verändert. Zum Guten.

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