Alle acht Tage
Femizide in den Niederlanden
Etwa jede Woche wird in den Niederlanden eine Frau getötet, in vielen Fällen durch die Hand eines Partners oder Ex-Partners. Die Politik hat diesem Problem bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Einige Organisationen wollen nun einen neuen Blick auf Männlichkeit ermöglichen.
Von Sarah Tekath, Amsterdam
In den Niederlanden wird jede Woche eine Frau durch Gewalt getötet, oft durch (Ex-)Partner. Die Autorin und Aktivistin Tessel ten Zweege und Triene-Mie Le Compte überlebten gewaltvolle Beziehungen und setzen sich gegen Femizide ein. Organisationen wie „Emancipator“ arbeiten daran, traditionelle Männlichkeitsvorstellungen zu verändern und fürsorgliche Männlichkeit zu fördern. Workshops für Männer sollen helfen, gewalttätiges Verhalten zu verhindern. Diese Initiativen zielen darauf ab, Gewalt an Frauen sichtbar zu machen und das Verständnis für psychische und physische Gewalt zu schärfen.
„Ich schreibe, weil ich lebe.“ So beginnt das Buch „Femicide“ von Tessel ten Zweege, einer niederländischen Autorin, Künstlerin und Aktivistin. Darin erzählt sie von ihren Erfahrungen in einer gewaltvollen Beziehung. Mit dem Mann, der so weit ging, ihr ein Messer an den Hals zu halten. Sie überlebt und schafft es, dieser Beziehung zu entkommen. Ähnliches hat die Belgierin Triene-Mie Le Compte erlebt. Mehr als 20 Jahre verbringt sie in einer gewaltvollen Beziehung, überlebt mehrere Mordversuche. Sie entkommt, weil ihr Mann unerwartet einer Hirnblutung erliegt.
Anzahl ermordeter Frauen nimmt zu
Viele Frauen in den Niederlanden haben dieses Glück nicht. Ende 2023 gab „Atria“, ein Institut für Frauen- und Emanzipationsgeschichte, neue Zahlen bekannt. Alle acht Tage – also etwa jede Woche – wird in den Niederlanden eine Frau ermordet. Der Fachbegriff dafür lautet Femizid. Erhebungen des niederländischen Büros für Statistik CBS (Öffnet in neuem Fenster) bestätigen dies. Im Jahr 2022 stieg die Zahl der weiblichen Opfer um zehn Fälle, von 38 auf 48. Bei mehr als der Hälfte war der mutmaßliche Täter ein (ehemaliger) Partner.
Im Gesetz wird Femizid nicht explizit genannt. Nur in Zypern, Malta und Kroatien ist das anders. „Atria“ hatte bereits vor zwei Jahren die Aufnahme von Femizid in das Strafgesetzbuch gefordert. Totschlag in sexistischer Absicht sollte eine Sonderregelung erhalten, argumentierte das Institut in seiner Petition „Stop Femicide“.
Im Juni 2023 fand erstmals ein Runder Tisch im niederländischen Parlament statt. Wenige Monate später folge die erste Debatte im Ausschuss. Dabei kamen mehrere Vertreter*innen verschiedener Parteien zusammen, um darüber zu sprechen, was man konkret beim Thema Femizid unternehmen kann bzw. soll. Einer der Gründe, dass Frauenmord in den Niederlanden bisher nicht als strukturelles Problem erkannt wurde, ist, dass es oft im Kontext von Migrant*innen und arabischen Männern gedacht wird.
Ein Problem der anderen
„Unsere Recherchen zeigen, dass Frauenmord in allen sozialen Klassen, bei jeder Herkunft und Religion vorkommt“, so Le Compte. „Aber Menschen fühlen sich besser, wenn sie denken können: ‚In meiner Familie, in meiner Straße, in meinem Umfeld passiert sowas nicht. Bei uns Weißen Menschen passiert sowas nicht.‘“ Falls doch, werde es als eine Ausnahme verstanden.
Darum spricht Le Compte in ihrem 2020 erschienenen Buch „Wenn Liebe zum Überleben wird“ und auf ihrer Webseite (Öffnet in neuem Fenster) von einer unsichtbaren Epidemie. Mittlerweile gibt sie in Belgien und den Niederlanden Workshops und Lesungen, entweder öffentlich oder für staatliche Institutionen wie die Polizei.
Wird in den Medien über einen Frauenmord durch einen (Ex-)Partner berichtet, so führt die Wortwahl oft zu einer Verharmlosung der Situation. So veröffentlichte die niederländische Regionalzeitung „De Gelderlander“ 2023 einen Artikel und schrieb dazu den folgenden – mittlerweile gelöschten – Tweet: „Polizist Frank und seine Frau sind nicht mehr unter uns. Zehn Jahre Ehe finden ein grausames Ende.“ Der erste Satz des Artikels lautete: „Polizist Frank (50) aus Doetinchem nahm sich selbst am vergangenen Sonntag das Leben, nachdem er zuerst seine Frau Sanne (31) ermordet hatte.“
Verharmlosende Formulierungen wie Beziehungsdrama oder Familiendrama brechen eine Straftat wie Femizid auf eine private Ebene herunter. Über die Opfer, so Le Compte, werde meist im Passiv gesprochen: Ihr wurde etwas angetan. Sie wurde ermordet. „Damit nehmen wir einen großen Teil der Schuld weg. Es ist nicht einfach so passiert. Jemand hat das bewusst getan“, so Autorin Le Compte. Tessel ten Zweege ergänzt, dass es oft zum Ausschlachten brutaler Details gehe: „Bei einem Interview für eine Zeitung wurde ich gefragt, was denn die schlimmste körperliche Misshandlung in der Beziehung gewesen sei.“
Von allen Seiten wenig Verständnis
Auch Le Compte kennt Reaktionen des Unverständnisses. „Mein Mann war nicht körperlich gewalttätig. Der Missbrauch fand psychisch, emotional und finanziell statt“, sagt sie. In ihrem Buch spricht sie von einem Moment, in dem sie einer anderen Frau von ihrer gewaltvollen Beziehung erzählen wollte. Weil es dabei aber nicht um körperliche Gewalt ging, habe die andere Person verständnislos reagiert. Ohne blaue Flecken oder Kratzer zum Vorzeigen sei es schwer, Empathie zu bekommen.
Selbst bei ihrer eigenen Familie sei das so gewesen. Einmal habe sie versucht, ihrem Vater von der gewaltvollen Beziehung zu erzählen. Aber er habe es mit dem folgenden Satz abgetan: „Wenn zwei sich streiten, dann haben beide Schuld. Klärt eure Probleme im Privaten.“ Wahrscheinlich habe ihr Vater Recht, habe sie gedacht. Schmutzige Wäsche wäscht man nicht in der Öffentlichkeit. Ihrer Meinung nach fehle in der Gesellschaft das Verständnis, dass psychische Gewalt genauso gefährlich ist wie körperliche Gewalt.
„In Belgien, in den Niederlanden und in allen europäischen Ländern werden wöchentlich Frauen ermordet. Aber wir hören davon nichts. Würden bei terroristischen Anschlägen jede Woche Menschen ums Leben kommen oder wären es wöchentlich männliche Todesopfer durch die Hand ihrer Partnerinnen, dann wäre das ganze Land in Aufruhr. Bei Frauen hingegen heißt es, dass sie selbst schuld sind, sie hätten ja die Beziehung verlassen können.“
Im Jahr 2022 konfrontierte der Sender „Open Rotterdam (Öffnet in neuem Fenster)“ Passant*innen mit dem Fakt, dass jährlich 30.000 Frauen durch ihre Partner ermordet werden. Ob es sich dabei um eine weltweite Statistik handelt, wird allerdings nicht konkretisiert. Zeigte sich die große Mehrheit der Befragten schockiert und verurteilte das, so war auch zu hören „Ich finde auch, dass es ein bisschen an den Frauen selbst liegt. Sie sollte in bestimmten Situationen den Mann lieber in Ruhe lassen, sonst begibt sie sich wissentlich in Gefahr.“
Mit Männern über Männlichkeit sprechen
Einige niederländische Organisationen gehen das Problem von Gewalt in Beziehungen von innen heraus an, wie „Emancipator“, die seit ihrer Gründung 2014 eine neue Sicht auf Männer und Männlichkeit in der Gesellschaft erreichen will. „Beim männlichen Empowerment geht es darum, gewalttätige Männlichkeit zu verhindern und fürsorgliche Männlichkeit zu fördern, als Beitrag zur Emanzipation von Frauen und LGBTQ-Personen und zur Befreiung der Männer von traditionellen Männlichkeitsvorstellungen“, heißt es auf der Webseite (Öffnet in neuem Fenster) der Organisation.
Die Nichtregierungsorganisation bietet Workshops an – von Männern für Männer – zum Beispiel an Schulen und in Unternehmen. Gründer Jens van Tricht schrieb 2023 das Buch „Was für ein Mann willst du sein? Warum Männer und Feminismus einander brauchen“. Edward van der Vliet arbeitet seit mehreren Jahren mit „Emancipator“ zusammen. Als alleinerziehender Vater wünsche er sich sehr, dass seine Tochter in einer Welt aufwachsen könne, in der Geschlechterrollen kein Thema mehr seien.
„Als Kind habe ich gesehen, wie meine Mutter mit den gesellschaftlichen Erwartungen an sie zu kämpfen hatte, besonders wenn es um berufliche Chancen ging. Als meine Tochter geboren wurde, hatte ich zwei Möglichkeiten: Sie so erziehen, wie die Gesellschaft es will oder endlich den Teufelskreis meiner Familie durchbrechen und ihr die Chance geben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es will.“
In seiner Arbeit bei „Emancipator“ beobachte er, dass einige Männer defensiv reagierten, wenn es um Fragen gehe, was ein Mann sei und wie sich ein Mann zu verhalten habe. Themen, die die eigene Männlichkeit in Frage stellen könnten, seien schwierig. „Die Männer fühlen sich persönlich angegriffen. Jede Diskussion wird abgeblockt, die Männer verschließen sich komplett“, so van der Vliet.
Sich in Männlichkeit überbieten
Iline Ceelen, die seit 2021 bei „Emanicaptor“ ist, hat eine Erklärung dafür: „Ich denke, diese Männer sind sehr unsicher und halten gerade darum so sehr an ihrer Männlichkeit fest, um keine Schwäche zugeben zu müssen.“ Dies zeige sich vor allem bei Männergruppen wie niederländischen Studierendenvereinigungen oder im Fußball. „In dieser Dynamik nehmen Männer das schlechte Verhalten anderer Gruppenmitglieder an, anstatt sich dagegen auszusprechen. Anderenfalls würden sie von der Gruppe ausgelacht und ihre eigene Männlichkeit stünde wieder in Zweifel.“
„Emancipator“ bezeichnet dieses Phänomen als Männer-Box. Wer sich nur einen Schritt aus dieser Box herauswage, werde ausgelacht oder beschimpft, erklärt Ceelen. Der Gruppenzwang gefährde die eigene, bereits sehr verletzliche Männlichkeit und führe meist zu noch extremeren Verhalten, um diese zu beschützen. Edward van der Vliet kennt diese Dynamik aus eigenen Erfahrungen.
„Wenn ich etwa in einer Gruppe frauenfeindliches Verhalten angesprochen habe, hat sich die ganze Gruppe gegen mich gewendet, anstatt ihr eigenes Benehmen kritisch zu betrachten.“ Darum seien aus seiner Sicht Organisationen wie „Emancipator“ so wichtig – um Denkanstöße zu geben. Doch dafür müssten Männer zuerst einmal das eigene Verhalten und Männlichkeit kritisch in Frage stellen. Sein Fazit: „Bevor die Person nicht selbst erkennt, dass es ein Problem gibt, bewegt sich gar nichts.“