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Vom Gefühl ausgeschlossen zu sein

Inklusion in Deutschland

Knapp zwei Millionen Menschen in Deutschland haben Lernschwierigkeiten. Ihnen hilft die sogenannte Leichte Sprache, um Behördenbriefe oder Infotafeln zu verstehen. Betroffene kämpfen dafür, besser eingebunden zu werden – davon würden auch andere Menschen profitieren.

Von Anne Klesse, Hamburg

Die Speisekarte im Restaurant hat viele eng beschriebene Seiten. Tamara Werth seufzt und schiebt sie beiseite. „Habt ihr Kakao?“, fragt sie die Kellnerin. Draußen leuchtet der Slogan „Mobilität für alle“ an einer Infosäule, er weist auf Parkplätze für Elektrofahrzeuge hin. Werth ärgert sich: „Wenn das heißen soll, dass man dort aufladen kann – warum steht da nicht einfach: „Hier aufladen?“ Speisekarten und Hinweisschilder – Beispiele wie diese gibt es etliche. Sie überfordern Werth und zeigen, wie vieles verkompliziert wird, was einfacher ausgedrückt werden könnte.

Nämlich so, dass auch Tamara Werth es versteht. Die 33-Jährige weiß genau, was sie kann. Montage und Verpackungen fertigen zum Beispiel liegen ihr: Seit 15 Jahren arbeitet sie in einer Hamburger Werkstatt für Menschen mit Behinderung, ist dort im Werkstatt-Rat seit einiger Zeit sogar erste Vorsitzende, erzählt sie stolz. Sie setzt sich für faire Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen ein. Werth könnte sich für den Posten freistellen lassen, aber sie mag das Arbeiten in der Gruppe. Sie kann lesen – für ihre Behinderung nutzen sie selbst und Betroffenenvereine den Ausdruck Lernschwierigkeiten.

Seit acht Jahren lebt Werth in ihrer eigenen Wohnung, kocht und sorgt für sich. Schwierigkeiten hat sie vor allem damit, komplexe Informationen zu verstehen und neue Dinge zu lernen. „Lernschwierigkeiten“ ist ein Sammelbegriff für unterschiedlich ausgeprägte geistig-intellektuelle Beeinträchtigungen. Wie viele Betroffene in Deutschland leben, dazu gibt es keine offiziellen Zahlen. Schätzungen auf der Basis von Statistiken aus anderen Ländern gehen von etwa 2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Bei 83,2 Millionen Einwohner*innen sind das etwa 1,9 Millionen Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer in Deutschland, denen es schwerfällt, im Alltag Infotafeln, Fahrpläne, Speisekarten oder Hinweisschilder zu erfassen.

Fremdwörter und Wahlprogramme sind besonders schwierig

Ein besonderer Graus sind Werth Beipackzettel für Medikamente. „Da ist die Schrift viel zu klein, insgesamt ist es zu viel Text, zu unübersichtlich und unaufgeräumt, und es werden zu viele Fremdwörter benutzt“, findet sie. Von allem zu viel – da frage sie lieber ihre Eltern oder ihre Ärztin. Dann bekomme sie eine kurze und verständliche Antwort. Auch Wahlen verursachen regelmäßig Stress. Werbung und Flyer zu den Programmen der unterschiedlichen Parteien meidet Werth.

„Zu viele Informationen über zu viele Personen. Ich krieg das nicht auf die Reihe, wer was macht“, sagt sie. Allerdings ist sie nicht die Einzige, die sich damit schwertut: Die Universität Hohenheim in Stuttgart prüft seit 1949 Wahlprogramme auf Verständlichkeit. „Ich weiß, dass da manche kandidieren, aber insgesamt ist das einfach zu kompliziert. Am Ende wähle ich einfach immer das, was meine Eltern wählen“, so Werth.

Anja Teufel ist Sozialwissenschaftlerin und seit bald 20 Jahren Übersetzerin für sogenannte Leichte Sprache. Die beiden Frauen kennen sich schon lange und arbeiten regelmäßig zusammen. Teufel berät viele Institutionen und Behörden, denen das Thema Barrierefreiheit wichtig ist und die ihre Webseiten oder Flyer in Leichter Sprache anbieten wollen. Tamara Werth und andere Betroffene prüfen die Übersetzungen und Entwürfe auf Verständlichkeit. „Ihre Rückmeldung ist unheimlich wichtig, erst mit der Prüfung ist die Übersetzung fertig“, erklärt Teufel. Seit einiger Zeit referieren sie und Werth gemeinsam bei Schulungen zum Thema Leichte Sprache, für die sie beispielsweise von Organisationen oder Unternehmen gebucht werden.

Im vergangenen Jahr haben sie gemeinsam an der Aktualisierung der sogenannten Werkstätten-Mitwirkungsverordnung gearbeitet, die Mitbestimmung und Mitwirkung von Menschen mit Behinderung in solchen Werkstätten wie der von Tamara Werth regelt. Teufel und ihre Mitarbeiterinnen haben übersetzt, eine Juristin die Leichte Sprache überprüft. Werth und andere aus der Prüfgruppe haben die Texte auf Verständlichkeit gecheckt. Sinn dieses ihnen am Herzen liegenden Auftrags war, dass diejenigen erfassen können, worum es in den Gesetzestexten geht, die sie selbst betreffen.

Kurze, aktive Sätze und Übersichtlichkeit sind wichtig

Für Leichte Sprache wird aktuell an DIN-Normen gearbeitet. Bisher gibt es schon bestimmte Regeln: Sätze sollten kurz, aktiv und positiv gebaut sein. Statt Fremdwörtern sollten gebräuchliche, präzise Begriffe benutzt werden. Als schlechtes Beispiel führt der Verein „Netzwerk Leichte Sprache“ in Berlin, der eine Übersicht zu den Regeln herausgebracht hat, den „öffentlichen Nahverkehr“ auf. Besser wäre, stattdessen einfach von „Bus und Bahn“ zu sprechen. Bei zusammengesetzten Nomen wird manchmal als Lesehilfe ein sogenannter Medio-Punkt verwendet. Das sieht dann beispielsweise so aus: Sprach∙förderung. 

Seit einiger Zeit wird unter den Expert*innen auch über gendergerechte Leichte Sprache diskutiert. Dabei zeigte eine empirische Studie (Öffnet in neuem Fenster) der Universität Graz, dass gendern Texte nicht unbedingt schwieriger lesbar macht. Und: „Leichte Sprache und Gendern verfolgen außerdem ein wichtiges gemeinsames Ziel: Inklusion.“ Neutrale Bezeichnungen wie „Team“ oder „Personal“ konnten die befragten Menschen mit Lernschwierigkeiten problemlos lesen und verstehen, ebenso die Nennung der männlichen und weiblichen Form. Partizip-Formen wie „Mitarbeitende“ funktionierten dagegen nicht so gut. Binnen-I oder Gender-Doppelpunkt schnitten unterschiedlich ab. Ist eine neutrale Bezeichnung nicht möglich, sollte laut Studie der Gender-Stern verwendet werden, weil dieser zumeist sofort und gut begriffen werde.

In der Aufbereitung von Informationen ist außerdem Übersichtlichkeit wichtig. Bilder und Symbole helfen, den Inhalt verständlicher zu machen. Leichte Sprache ist inklusiv, sodass auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen, mit Demenz oder Personen, die nicht gut Deutsch sprechen oder lesen können, besser am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Etwas schwieriger als die Leichte Sprache und damit eine weitere Abstufung ist die sogenannte Einfache Sprache, die etwas komplexer ist. Bei ihr werden beispielsweise ebenfalls kein Genitiv, kein Konjunktiv und keine Nebensätze sowie keine Ironie genutzt.

Bislang kaum barrierefreie Nachrichtensendungen

Die Kellnerin im Café bringt den Kakao mit Sahne. Tamara Werth hat sich angewöhnt, jemanden zu fragen, wenn sie etwas wissen möchte. Doch manchmal hilft das nicht weiter. Und nicht immer ist sie in der Stimmung, andere – vor allem fremde Menschen – einzubeziehen. Werth will ein Erwachsenenleben führen wie andere Gleichaltrige. Dafür ist sie darauf angewiesen, dass etwas so formuliert ist, dass sie nicht daran verzweifelt oder aufgibt. Sie erinnert sich an den Brief einer Hamburger Behörde, der auf einer Seite in gängiger und auf der Rückseite in Leichter Sprache formuliert war. „Das war gut, ich habe alles verstanden. Das hat mich sehr gefreut.“

Doch das ist die Ausnahme. Werth liest kaum Bücher, die sind ihr zu lang. Bücher in Leichter Sprache gibt es nur sehr wenige. Stattdessen kauft sie sich manchmal Promi-Magazine, mit vielen Fotos und wenig, aber meist sehr verständlichem Text. Wünschen würde sie sich für sie verständliche Nachrichten im Fernsehen. „Es gibt zwar Sendungen für Kinder, aber die behandeln Themen, die Kinder interessieren, und nicht Erwachsene wie mich“, sagt sie. Dabei würde sie oft gerne mehr wissen darüber, was in der Welt passiert. Dass manche denken, wer zum Beispiel Wahlprogramme nicht verstehe, sollte nicht wählen können, verletzt sie. „Auf meiner Arbeit in der Werkstatt sprechen wir viel über sowas. Sind wir etwa keine normalen Bürger?“

15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention hieß es im März vom Deutschen Institut für Menschenrechte, dass Deutschland noch „weit entfernt von einer inklusiven Gesellschaft“ sei. „Menschen mit Behinderungen haben in vielen wichtigen Lebensbereichen immer noch keine echten Wahlmöglichkeiten, die ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen würden, wie es für ihre Mitmenschen selbstverständlich ist“, hieß es in der Mitteilung zum Jahrestag. Bund, Länder und Kommunen sollten gegenzusteuern und die nötigen Weichen stellen – ordnungspolitisch, institutionell oder finanziell.

Wunsch, nicht in eine Schublade gepackt zu werden

„Oft lässt sich Leichte Sprache sehr einfach integrieren“, sagt Übersetzerin Anja Teufel. „Bei der Säule am Bahnhof kann ja ruhig Mobilität für alle stehen bleiben. Aber es würde nicht schaden, wenn da außerdem noch stünde Zum Aufladen. Das würde niemandem wehtun.“ Universelles Design und Piktogramme, die international verstanden werden, sind gerade an touristischen Orten bereits weit verbreitet. Sie wünsche sich, dass auch Sprache von vornherein mehr berücksichtigt werde.

Tamara Werth ist froh, sich mit ihr gemeinsam dafür zu engagieren. „Ich wünsche mir, dass wir Menschen mit Behinderungen nicht ausgegrenzt und in keine Schublade gedrückt werden. Alle reden immer davon, dass alle miteinander leben und auskommen sollen. Aber mein Gefühl ist, dass ich immer weiter ausgeschlossen werde. Seitdem ich mit Anja zusammenarbeite, bin ich vom Kopf her gewachsen.“ Die freut sich über das Kompliment und ergänzt: „Ich finde, Menschen mit Lernschwierigkeiten sollten dazu ermutigt werden, im regulären Arbeitsmarkt Beschäftigungen zu suchen. Aber dafür braucht es Engagement und Offenheit von allen Seiten.“

Bislang brüsteten sich Unternehmen, die Betroffene einstellten, oft unangenehm damit, als sei es Wohltätigkeit – und das in Zeiten des Fachkräftemangels, in denen eigentlich jeder Mensch, der arbeiten könne und wolle, gebraucht werde. Teufels Fazit: „Ernst genommen zu werden, zu wachsen, zu lernen, neue Dinge auszuprobieren – all das sollte in unserer Gesellschaft selbstverständlich sein – für alle Menschen.“

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