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„Wir sind anders. Amen!“

Queere Kirche im Dorf

Steffi und Ellen Radtke sind Pastorinnen in Niedersachsen, miteinander verheiratet, Mütter einer kleinen Tochter und seit 2020 erfolgreiche YouTuberinnen. Mit ihrem Kanal „Anders Amen“ wollen die beiden Frauen ein Zeichen setzen für mehr Vielfalt in der evangelischen Kirche.

Von Eva Tempelmann, Ibbenbüren

Schon der Trailer zum YouTube-Kanal „Anders Amen“ macht neugierig: Der Blick geht auf zwei Fenster, zwei Frauen in schwarzen Talaren öffnen die Fensterläden, beugen sich zueinander und küssen sich. Dann schauen sie in die Kamera. Die zoomt hinaus, die Fenster gehören offensichtlich zu einer Kirche in ländlicher Umgebung. Zwei Worte erscheinen: Noch Fragen?

Oh ja: Steffi und Ellen Radtke, Mitte 30, lesbische Pastorinnen in Niedersachsen, seit zehn Jahren in eingetragener Lebenspartnerschaft verbunden, seit fünf Jahren verheiratet, Mütter eines Kindes und erfolgreiche YouTuberinnen, werfen jede Menge Fragen auf – und zwar bewusst. „Wie man in nur 16 Sekunden alles ausdrücken kann, Neugierde weckt und Diskussionsstoff für mindestens 16 Stunden triggert – ich bin angetan“, schreibt eine Userin in den Kommentaren zum Video.

Genau darum geht es den beiden Pastorinnen. Auf ihrem YouTube Kanal „Anders Amen“ erzählen sie einmal in der Woche von ihrem Leben in Eime, einer 2.500-Seelen-Gemeinde bei Hannover. Ihre Themen: Queersein, Kirche und Dorfleben. In verschiedenen Formaten – Videotagebücher, Talks und Q&As – betreiben sie „Aufklärungsarbeit im weitesten Sinne“. Die Zielgruppe: die queere Community, die wissen will, wie Homosexualität mit einer wenig diversen Kirche vereinbar ist, sowie für alle anderen, die Fragen haben zu Queerness und Frausein in der Männerdomäne Kirche.

Aufklärung mit Humor

In ihren Videos nehmen die Pastorinnen kein Blatt vor den Mund und sich selbst nicht allzu ernst. Als Lesbe in die Kirche? Adoption oder künstliche Befruchtung? Ihr peinlichster Moment während eines Gottesdiensts? Die Radtkes sprechen über ihre eigenen Coming-Outs, stellen und beantworten grundsätzliche Fragen zur Kirche und teilen intime Momente wie den Besuch einer Kinderwunschklinik oder die ersten Stunden mit Baby Fides, dessen lateinischer Name „Glauben“ und „Vertrauen“ bedeutet.

Der Kanal soll eine Online-Gemeinde für alle sein, sagt Steffi Radtke, denn „die evangelische Kirche braucht definitiv mehr Glitzer in ihren Türmen“. Produziert werden die Videos vom Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen-Bremen.

Coole Kirche bei YouTube

Die Idee zu „Anders Amen“ entstand Ende 2019 bei einem geselligen Abend mit Medienmenschen aus der Kirche, erzählt Ellen Radtke. Über einen YouTube-Kanal hatten sie und ihre Frau schon länger nachgedacht, weil Kirche und Glaube dort vor allem mit konservativen Botschaften verbunden seien. Dem wollten sie etwas entgegensetzen: mit klaren Statements für Vielfalt und mit Humor. Aus ersten wilden Ideen – eine Art Daily Soap, quasi GZSZ für die Kirche – entstand an besagtem Abend ein Konzept und die Entscheidung: Wir probieren das aus. Sechs Wochen später ging das erste Video online.

Ein Jahr später erreichten ihre Videos bereits eine Million Klicks. Heute haben rund 26.000 Menschen den YouTube-Kanal der Pastorinnen abonniert. Für ihr Projekt sind die Pastorinnen 2020 sogar mit dem „Smart Hero Award“ ausgezeichnet worden. Der Preis wird seit 2014 an Menschen und Organisationen vergeben, die sich für eine faire und soziale Gesellschaft einsetzen.

Die Begründung für die Auszeichnung: „Die Frauen geben einen unterhaltsamen und fundierten Einblick in das Leben queerer Menschen in und mit der Kirche und regen die Community mit ihrem Mix an Themen zur eigenen Auseinandersetzung mit Vielfalt in der Kirche an.“

Der Zuspruch freut die beiden sehr. Zwar betonen sie: So besonders sei ihr Leben gar nicht. „Ich bin eine ganz normale Dorfpastorin, halte sonntags Gottesdienste und unter der Woche beerdige ich ab und zu“, sagt Ellen Radtke lapidar. Dennoch ist ihnen die Wirkung ihrer öffentlichen Auftritte natürlich bewusst. Es gebe viel Gesprächsbedarf und Aufklärung zu den Themen Queerness und Frausein in der Kirche.

Frau Steffi und Frau Ellen

Als das Paar vor fünf Jahren von Berlin in das Dörfchen Eime zog, wusste die Gemeinde bereits, dass zwei lesbische Gottesfrauen sie künftig seelsorgerisch betreuen würden. Hat das zu Konflikten geführt? Anfangs seien sie neugierig bis skeptisch beäugt worden, erinnert sich Ellen Radtke, aber dann habe es vor allem Interesse gegeben – und sprachliche Unsicherheit bei den Älteren. Wie sagt man denn nun zur Partnerin der Pastorin? Grüßen Sie mir Ihren Mann? Es müsse bei einem Ehepaar doch immer einen Mann geben.

Mittlerweile haben „Frau Steffi und Frau Ellen“, wie die Senior*innen die beiden Frau Radtkes heute liebevoll nennen, ihren Platz in der Gemeinde gefunden. Die meisten Menschen im Dorf stehen hinter dem unkonventionellen Pastorinnenpaar, „und wir lieben es hier“, sagen die beiden. Dorfpastorin zu werden sei ihr Traum gewesen, sagt die gebürtige Berlinerin Steffi Radtke, die in Eime die Jugendarbeit vorantreibt.

Die Menschen brächten ihr ein großes Grundvertrauen entgegen. Das liege mehr an ihrer Haltung als Pastorin denn an der Tatsache, dass sie eine Frau sei – auch wenn es immer wieder irritierte bis freudige Kommentare gebe, wenn eine der Pastorinnen Lippenstift trage oder hochhackige Schuhe unter dem Talar hervorblitzten.

Hasskommentare im Internet

Die Radtkes wissen: Noch vor 20 Jahren wäre so ein Leben nicht möglich gewesen. Erst seit 2019 erlaubt die Landeskirche Hannover, für die sie tätig sind, die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare. In anderen Bundesländern seien die Gesetze der Landeskirche deutlich strenger. Erst vor Kurzem sei ein Orgelspieler in Sachsen entlassen worden, nachdem er sich als schwul geoutet habe, erzählt Ellen Radtke. In der katholischen Kirche, in der alle Entscheidungsmacht von oben komme, sei die Bereitschaft zu mehr Offenheit und Veränderung nochmals geringer. Sie, die in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen ist und „wegen der Frauenfrage“ mit 18 Jahren zur evangelischen Kirche wechselte, sagt über ihr Anliegen: „Es ist ein langsamer Prozess.“

Das spüren die Radtkes auch persönlich. Denn mit ihrer progressiven Einstellung stoßen die Pastorinnen nicht nur auf Zuspruch. „Fahrt zur Hölle“, ist in den Kommentaren mitunter zu lesen, oder „Euer Leben ist nicht von Gott gewollt“. Die Pastorinnen kontern mit Humor und gnadenloser Offenheit. Sie erstellten eine Hitliste der bösesten Kommentare und zeigten damit auch: „Liebe Kirche, nur weil wir lesbische Pastorinnen sind und die Kirche uns bezahlt, ist nicht alles gut“, so Steffi Radtke. „Wir haben Kollegen, die eine Zusammenarbeit mit uns ablehnen und Vorgesetzte, die das Meinungsfreiheit nennen“, schreibt sie zum Pride Month im Juni 2022 bei Facebook.

Allgemein tummelten sich in der Kirche immer auch Menschen mit reaktionären Welt- und Menschenbildern, die von den Radtkes „Fundis“ genannt werden. „Da geht es oft nur noch darum: Du bist falsch, ich verurteile dich.“ Ein Austausch sei hier nicht möglich, online noch weniger als offline. Dabei seien menschenfeindliche Positionen mit dem christlichen Grundsatz der Nächstenliebe eigentlich gar nicht zu vereinbaren, finden die bibelfesten Frauen.

Sichtbar werden

Auch die fehlende Sichtbarkeit und Mitsprachemöglichkeiten von Frauen in der Kirche – vor allem in der katholischen, aber auch allgemein – entspreche nicht der tatsächlicher Realität. Weder damals noch heute. Mit „Anders Amen“ geht es den Macherinnen auch darum, Frauen in der Kirche überhaupt sichtbar zu machen, anknüpfend an Initiativen wie Maria 2.0, die 2019 im katholischen Münster gestartet ist.

Damals hatten Kirchenfrauen in einer Online-Petition mit einem offenen Brief an den Papst den Zugang für Frauen zu allen kirchlichen Ämtern gefordert, die Aufhebung des Pflichtzölibats und die kritische Auseinandersetzung mit den Machstrukturen in der katholischen Kirche. Die Initiative fand große mediale Beachtung und wird bis heute in mehr als 100 Ortsgruppen in Deutschland vorangetrieben.

„Das Frauenbild in der Kirche hat sich immer gewandelt, auch in der Bibel selbst“, sagt Ellen Radtke. Sie findet in dem Buch durchaus feministische und empowernde Bezüge: Frauen, die selbstbewusst ihren Weg gehen. Weibliche Gottesbilder – Gott als Hebamme, Gebärende und Mutter zum Beispiel – die jedoch überlesen würden, weil Gott als Vater und Herr sprachlich so fest verankert sei. Aber Kirche sei nicht nur männlich und hetero.

Ihre Botschaft an andere Frauen, in und außerhalb der Kirche: Seid laut, stellt Forderungen! Es sei wichtig, sich von den Stimmen anderer nicht irritieren zu lassen. Das gelte auch für das Frausein an sich. „Was ist schon eine richtige Frau?“, fragt sich Ellen Radtke. Sie selbst habe lange mit dem Bild von Weiblichkeit und Normschönheit gehadert. Nie sei sie frei gewesen, selbst wenn sie gegen gesellschaftlich etablierte Vorstellungen vom Frausein oder Queersein ankämpfte: Der Blick aus dem Außen war immer dabei. Mittlerweile folge sie dem Motto: Sei einfach eine falsche Frau, dann ist es schon richtig.

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