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Plastik in der Plazenta

Porträt einer Umweltschutz-Pionierin

Jedes Jahr werden in Europa 42.000 Tonnen Mikroplastik produziert. Eine neue EU-Verordnung soll das stoppen. Denn längst lassen sich die gesundheitsschädlichen Partikel auch im menschlichen Körper nachweisen. Eine Vorreiterin aus Italien geht seit 40 Jahren aktiv gegen die Plastikflut vor und erklärt, welche Folgen sie hat. 

Von Helen Hecker, Palermo

Es wurde auf dem Everest, im ewigen Eis des Nord- und Südpols sowie in den Tiefen des Marianengrabens gefunden. Es befindet sich in Böden, Wasserschichten und in der Luft. Und mit den Apollo-Missionen ist es sogar auf dem Mond gelandet: Plastik. Vor allem aber existiert der Kunststoff an einem Ort, der viel näher liegt, als wir glauben – in unserem Körper. Unterschiedliche Studien haben bereits die Präsenz von mikroskopisch kleinen Partikeln in organischen Ausscheidungsprodukten wie Urin und Stuhl gezeigt.

Der italienische Professor Antonio Ragusa bewies nun jedoch als erster, dass Mikroplastik auch dort vorkommt, wo neues Leben entsteht. 2021 überraschte der Leiter der Gynäkologie des Fatebenefratelli-Krankenhauses in Rom mit seiner Veröffentlichung in der Zeitschrift „Environment International“ die Fachwelt: Ragusa hatte das Vorhandensein von Nanopartikeln in der menschlichen Plazenta von einem Dutzend von Frauen belegt. 

Nur ein Jahr später wies er diese auch in der Muttermilch nach. Und im gleichen Jahr spürte eine niederländische Forschergruppe (Öffnet in neuem Fenster) sie sogar im Blut auf. „Plastik verschmutzt mittlerweile nicht nur das Meer um uns herum, sondern auch unser ‚inneres Meer‘, in dem wir uns als Lebewesen entwickeln“, so der Gynäkologe. Das sollte nicht nur Müttern, sondern uns allen zu denken geben.

Ein neues Bewusstsein im Umgang mit Plastik

Eine Frau, bei der diese Worte auf offene Ohren stoßen, ist die italienische Aktivistin Rosalba Giugni. Seit Jahrzehnten führt die 77-Jährige einen epischen Kampf gegen die Flut an Müll und Plastik in den Meeren. Vor fast 40 Jahren gründete sie die italienische Umweltschutzorganisation „Marevivo (Öffnet in neuem Fenster)“, die erste Nichtregierungsorganisation in Europa, die sich auf den Schutz der Ozeane spezialisierte.

Unterstützt wird sie vor allem von zahlreichen Wissenschaftler*innen, die mühsam versuchen, der Gesellschaft ihre Forschungsergebnisse verständlich zu machen. So zückte Giugni auch diesmal augenblicklich den Hörer, als sie ein Interview mit dem Geburtshelfer im Fernsehen sah. Heute gehört der Professor zu den rund 30 Botschafter*innen von „Marevivo“, den sogenannten „Rittern des Meeres”, die durch ihre Medienpräsenz die öffentliche Aufmerksamkeit auf wichtige Umweltthemen lenken wollen. 

Gemeinsam mit Giugni versucht er immer wieder auf verschiedenen Events dem Publikum die komplexen Zusammenhänge hinter seiner Forschung deutlich zu machen: „Plastik ist nicht per se schlecht, sondern kann als Werkstoff in der Medizin mit unbestreitbaren Vorteilen sogar Leben retten.“ Dennoch sei es wichtig, dass die Menschen begreifen, welches Plastik aufgrund seiner chemischen Zusammensetzung gefährlich ist. (Öffnet in neuem Fenster)

Mikroplastik und die darin enthaltenen Schadstoffe (insbesondere Weichmacher) gelangen nicht nur aus dem Meer über das Trinkwasser oder die Nahrungskette in unsere Körper, sondern entstehen auch durch unterschiedliche Verschleißprozesse im Alltag. Das beste Beispiel sind Einwegflaschen oder Plastikbehälter, die durch UV-Strahlung, Wärmebelastung oder Abrieb kleinste Partikel freisetzen. Diese können aber auch über den direkten Kontakt mit der Haut durch Kosmetika, Textilien oder Spielzeug übertragen werden.

„Die Entdeckungen von Professor Ragusa haben nicht nur einen symbolischen Wert, sondern geben zu verstehen, dass wir unseren Umgang mit Plastik dringend überdenken müssen, auch auf politischer Ebene“, so Giugni. Seine Studie zeige vor allem, dass es sich längst nicht mehr nur um ein Entsorgungsproblem für die Umwelt handele, sondern dass auch unsere Gesundheit davon betroffen sei. Seine Forschungsergebnisse haben unter anderem dazu beigetragen, dass man verstärkt analysiert, wie sich Mikroplastik auf den menschlichen Körper auswirkt.

Die Folgen für den Menschen

„Auch wenn es darauf bis jetzt noch keine eindeutigen Antworten gibt, können wir bereits heute sehen, was mit den Meeresbewohnern geschieht“, erklärt Giugni. „Sie ändern ihr Geschlecht, werden impotent oder blind, wie die neuesten Erkenntnisse der sizilianischen Forscherin Margherita Ferrante der Universität Catania belegen.“ Auch bei Säugetieren konnten Fruchtbarkeitsstörungen, Fettleibigkeit, autistische Verhaltensweisen oder neurologische Schäden nachgewiesen werden.

Daher sollte auch der potenzielle Einfluss von Plastik auf die Zellen und Genetik eines ungeborenen Fötus laut Ragusa mit großer Sorge betrachtet werden. Da die Forschung in diesem Bereich jedoch noch in den Anfängen steckt, seien bisher keine eindeutigen Aussagen möglich. Kaum verwunderlich, dass nun auch die Politik das Thema verstärkt auf die Agenda setzt. Seit dem 15. Oktober 2023 (Öffnet in neuem Fenster) hat die Europäische Kommission den Verkauf von Mikroplastik sowie von Produkten, die bewusst Mikroplastik enthalten, untersagt.

Die neue EU-Verordnung umfasst dabei alle synthetischen Polymerpartikel unter fünf Millimeter, die unlöslich und schwer abbaubar sind. Das betrifft vor allem Kosmetikartikel mit Glitter, Peeling-Produkte und Zahnpasta mit künstlichen statt natürlichen Mikroperlen, Granulat von künstlichen Sportflächen, aber auch Waschmittel, Weichmacher, Spielzeug, medizinische Produkte oder Dünge- und Pflanzenschutzmittel. Was in Deutschland insbesondere bei den Fans von buntem Glitzer vorübergehend eine Welle der Empörung auslöste (Öffnet in neuem Fenster), ist für die italienische Aktivistin ein riesengroßer Erfolg.

Im Auftrag des Meeres 

Seit vielen Jahren machte sich die Organisation von Giugni mit der Kampagne „Mare mostro: un mare di plastica?“, zu Deutsch „Das Monster im Meer: ein Meer aus Plastik?“, nicht nur im italienischen Senat, sondern auch auf europäischer Ebene für ein Verbot von Einwegplastik und Produkten mit Mikroplastik stark. „Nach Angaben der Vereinten Nationen landen jedes Jahr mehr als 200.000 Tonnen Plastik landen im Mittelmeer, das sind mehr als 500 Container pro Tag.“ Der Dialog mit der parlamentarischen Lobby oder das Initiieren von Petitionen ist dabei eines ihrer wichtigsten Instrumente, um oftmals langwierige Gesetzesänderungen zu erwirken.

Doch nicht nur das Engagement auf politischer Ebene zeichnen die Aktivitäten des Vereins aus: So fördert etwa das Portal „Marevivo Education“ durch kostenfreie Videokurse und Unterrichtsmaterialien die Umwelterziehung in Schulen und Bildungseinrichtungen. Das Herzstück der Organisation ist dagegen ein Netzwerk von Tausenden von Freiwilligen in ganz Italien. Diese gehen als Taucher*innen, Segler*innen, Kanu- und Kajakfahrer*innen oder bei einer der vielen Säuberungsaktionen am Strand gegen die Verschmutzung des Meeres vor.

So konnte man beispielsweise im Jahr 2022 im Rahmen des Projekts „Zusammen für das Mittelmeer“ mehr als 20.000 Kilogramm Müll an den Küsten des Stiefels bergen. 70 Prozent davon waren Fischereiutensilien, wie Netze, Styroporboxen oder Bojen. Insbesondere von den sogenannten „Geisternetzen“ – Fischernetze, die sich am Meer verfangen – geht eine der größten Gefahren für das Ökosystem unter Wasser aus. „Zuletzt haben wir mit unserer Taucherdivision in einem Jahr vier Kilometer dieser Netze geborgen“, bekräftigt Giugni.

Die Putzfrau vom Strand 

Was heute unzählige Menschen mitreißt, hat vor über 40 Jahren nur wenig Begeisterung ausgelöst – ganz im Gegenteil. Oftmals wurde Rosalba Giugni verspottet und ihr Engagement galt als „nutzlos“ und „bizarr“. “Sie haben mich die Putzfrau des Meeres genannt, als ich bereits Anfang der 80er Jahre begonnen habe, Plastik am Strand von Capri aufzulesen”, erzählt sie. Damals war Giugni 35 Jahre alt und hatte drei Kinder. Sie arbeitete für das Rote Kreuz als Pflegerin und kümmerte sich für ein Architekturbüro um Garten- und Landschaftspflege. 

„Mein Leben war vollgestopft mit Aufgaben. Und dennoch war da dieser kleine Teufel in mir, der darauf drängte, dass ich mich um etwas Bedeutenderes kümmere.“ Als gebürtige Neapolitanerin wuchs Giugni in einer Stadt auf, die jeden Tag, jede Minute – so sagt sie –  vom Meer beeinflusst wird. Bereits als Kind begleitete sie ihren Großvater dabei, Einheimische und Touristen auf dessen Fährschiffen von Napoli zu den nahegelegenen Inseln zu fahren.

Vor allem Capri wurde dabei zu ihrem zweiten Zuhause. Hier verbrachte sie jeden Sommer im Haus ihrer Eltern und entdeckte die große Liebe zum Meer. „Ich war erst fünf Jahre alt, als ich eine Tauchermaske meines Vaters fand und mir klar wurde, dass es unter der Wasseroberfläche einen anderen Planeten gibt.“

Taten sagen mehr als tausend Worte

Als sie dann viele Jahre später an den unberührten Stränden von Capri den ersten Müll angeschwemmt sah, begriff sie, dass das Meer in Gefahr war und krempelte die Ärmel hoch. Erst allein, bald zusammen mit 27 Helfer*innen, die sie für ihre Mission motivieren konnte und mit denen sie schließlich 1985 „Marevivo“ gründete. „Wir waren sowohl in Italien als auch in ganz Europa die ersten, die den Strand aufräumten.“ Nur in Kalifornien habe es damals noch eine weitere Gruppe mit dem gleichen Spirit gegeben, die später zur gemeinnützigen Umweltorganisation „Ocean Conservancy“ wurde.

Eine der Mitstreiter*innen, die bis heute an Giugnis Seite steht, ist ihre beste Freundin Carmen Di Penta. Gemeinsam engagierten sie sich einst für das Rote Kreuz, mittlerweile leiten sie mit Giugnis Tochter Raffaella als weibliche Dreierspitze „Marevivo“. Obwohl die Aktivistin sich heute vor allem auf Events und Konferenzen den Mund fusselig redet, um Menschen gezielt aufzuklären, ist sie immer noch davon überzeugt, dass „zu viel gesprochen, aber zu wenig gemacht wird“.

Jede*r könne schon mit kleinen Taten dazu beitragen, etwas zu verändern (Öffnet in neuem Fenster): der komplette Verzicht auf Einwegartikel, das Vermeiden von in Plastik verpacktem Obst und Gemüse, das Aufklären der eigenen Kinder oder das spontane Aufsammeln von Plastik in der Natur. „Das Wichtigste ist es, nicht wegzusehen oder Dinge zu akzeptieren, nur weil wir daran gewöhnt sind“, sagt sie abschließend. Obwohl sie dem Meer ihr Leben gewidmet hat, weiß sie, dass der Kampf noch nicht vorüber ist. Den künftigen Generationen wünscht sie den Mut, niemals aufzugeben – „selbst dann, wenn die Frustration droht, dich aufzufressen.“

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