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Familie neu gedacht

Ein langer Weg zur Anerkennung

In Frankreich kämpfen LGBTQ-Familien noch immer um ihre Sichtbarkeit. Marie Durand vom Verein „Collectif familles.s“ hilft ihnen dabei und bringt dabei ihre ganz eigene Geschichte ein.

Zusammenfassung

Die Französin Marie Durand lebte bis zu ihrem 35. Lebensjahr in einer heterosexuellen Ehe mit Mann und Kindern. Bis sie eine Frau kennenlernt, die ihr Leben verändert. Mit ihr merkt sie, dass sie eigentlich auf Frauen steht. Heute lebt sie in einer glücklichen Patchworkfamilie mit Partnerin und Kindern und hilft anderen LGBTQ-Familien, ihren Weg zu finden.

Von Elisa Kautzky, Paris

Marie Durand sitzt in einem kleinen Café in Paris, die Brille ins Haar geschoben, vertieft in ihren Laptop. Die Französin ist Mitgründerin des „Collectif famille.s (Öffnet in neuem Fenster), (Öffnet in neuem Fenster) einem Verein, der LGBTQ-Familien unterstützt und vernetzt. Gerade sitzt sie an der Planung des jährlichen Family Pride Festivals im Frühjahr, bei dem LGBTQ-Familien zusammenkommen und sich austauschen können. 

„Vor zehn Jahren hätte ich noch gesagt, eine Familie besteht aus zwei Eltern, Mann und Frau, und Kindern. Heute weiß ich, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, eine Familie zu sein“, sagt die 43-Jährige. Durand selbst lebt seit sieben Jahren in einer glücklichen Patchworkfamilie, auf Französisch: „une famille recomposée“, mit ihren drei Kindern und ihrer Partnerin.

Dafür pendelt sie regelmäßig zwischen Paris und Lyon. Bis dahin war es jedoch ein langer Weg: Von der heterosexuellen Ehe mit Mann und Kindern bis zu der Erkenntnis, lesbisch zu sein – gefolgt von einer Scheidung und der Auflösung der Familie.

„Ich habe das nie hinterfragt“

Die Französin kommt selbst aus einer großen, religiösen Familie mit vier Geschwistern, in der das traditionelle Familienmodell gelebt wird. Über Homosexualität wurde nicht gesprochen. Ihren Mann lernte sie in ihren Zwanzigern kennen. „Ich habe das nie hinterfragt“, sagt sie. Bis zu ihrem 35. Lebensjahr lebt sie in einer heterosexuellen Ehe mit ihrem Mann und den drei Kindern.

Dann lernt sie eine Frau kennen, und alles ändert sich: „Ich wusste, dass ich so nicht mehr leben kann… und dass ich lesbisch bin.“ Ihre Kinder waren zu diesem Zeitpunkt acht, sieben und ein Jahr alt. Ein Doppelleben zu führen, als Ehefrau mit ihrem Mann, während sie eigentlich auf Frauen steht, war jedoch keine Option. Sie musste den Vater ihrer Kinder verlassen. „Es war wie ein Tsunami”, sagt sie. Und es war das Ende ihrer Familie.

Nun musste Marie Durand nicht nur ihre Sexualität für sich akzeptieren, sondern auch die Tatsache, dass ihre Kinder diesen Weg mit ihr gehen werden und darunter leiden könnten. „Wir haben ihnen erstmal nur gesagt, dass wir uns trennen, aber nicht warum“, erzählt sie. Eines Tages brachte Durand ihre neue Partnerin mit nach Hause.

„Für meine Kinder war die größte Veränderung, dass ihr Vater nicht mehr in unserem Alltag war. Dass ich stattdessen mit einer Frau zusammenkam, war eher nebensächlich“, sagt sie. Kinder, so die Französin, haben in jungen Jahren noch keine festgelegten Vorstellungen von Heteronormativität, also dass ein Mann an der Seite einer Frau sein muss. 

Auf der Suche nach einem Modell

In den darauffolgenden Wochen nahm sie sich die Zeit, mit ihren Kindern zu sprechen und ihre Fragen zu beantworten. Es sei wichtig gewesen, ihnen zuzuhören und ihren Sorgen Platz einzuräumen. Vorbilder von Patchworkfamilien hatte Durand damals nicht. Es gibt in Frankreich zwar Verbände, die sich um Familien und Menschen, die eine gründen wollen, kümmern – für LGBTQ-Personen gab es das aber noch nicht. „Als ich auf der Suche nach einem geeigneten Familienmodell war, habe ich keine Antworten gefunden”, sagt sie. Es mangelte an Repräsentation.

Auch in Filmen und Serien kommen LGBTQ-Familien nur selten vor. Im November 2020 gründete sie gemeinsam mit der Autorin Marie-Clémence Bordet-Nicais und weiteren queeren Menschen das „Collectif famille.s“. Der Verein soll Menschen eine Anlaufstelle bieten, die eine Familie gründen wollen, aber nicht wissen, wie. Dabei ist das französische Wort „famille“ bewusst mit einem zusätzlichen „s“ im Plural formuliert, um zu zeigen, dass die Familienplanung keine Grenzen hat.

Der Verein zählt inzwischen knapp 800 aktive Mitglieder. Er organisiert regelmäßige Familientreffen in verschiedenen französischen Großstädten, bietet Sensibilisierungsworkshops an Grundschulen an und organisiert ein jährliches Family Pride Festival mit bis zu 3.500 Teilnehmenden, (Öffnet in neuem Fenster) das Gelegenheit zum Austausch über homosexuelle Elternschaft, Patchworkfamilien und Co-Parenting bietet. Auch Eltern von Trans-Kindern sind willkommen. Das Kollektiv wird von Ehrenamtlichen sowie deren Mitgliedsbeiträgen und Spenden getragen.

Von wegen Égalité

„Viele fragen sich, warum es uns noch braucht, weil sie denken, dass es homosexuellen Menschen in Frankreich doch gut gehe”, sagt Durand. Tatsächlich stehen aber einige Rechte von LGBTQ-Familien ihrer Meinung nach derzeit auf der Kippe. 

Zwar gilt Frankreich in diesem Bereich als relativ progressiv: Seit 2013 dürfen gleichgeschlechtliche Paare heiraten und gemeinsam ein Kind adoptieren. Seit 2021 ist auch die medizinisch unterstützte Fortpflanzung für lesbische Paare legal, zum Beispiel die künstliche Befruchtung oder die In-Vitro-Fertilisation. Doch diese Errungenschaften sind brüchig.

Die unsichere politische Lage in Frankreich mit Parteien, die sich gegenseitig blockieren, bürokratische Hürden sowie ein Mangel an gesellschaftlicher Akzeptanz erschweren den Alltag vieler LGBTQ-Familien. Für die künstliche Befruchtung braucht es zum Beispiel ein von einem Notar erstellendes Dokument (Öffnet in neuem Fenster), das vorsieht, dass das Kind ab der Geburt rechtlich mit beiden Müttern verbunden ist, ohne dass dies angefochten werden kann.

Leihmutterschaft – „gestation pour autrui“ – ist in Frankreich verboten. Kinder, die auf diese Weise im Ausland geboren wurden, haben Probleme, eine Krankenkassenkarte zu erhalten, weil sie noch nicht die französische Staatsbürgerschaft besitzen. Schwule Paare, deren Kinder durch künstliche Befruchtung geboren wurden, haben einen erschwerten Zugang zum Vaterschaftsurlaub, da die Krankenkasse diesen in der Regel nur dem biologischen Vater zuschreibt. 

„Es fühlt sich oft an, als wären wir geduldet, aber nicht wirklich akzeptiert“, sagt Durand. Die fehlende rechtliche Sicherheit und gesellschaftliche Vorurteile machen es der queeren Community schwer, sich als gleichwertig akzeptiert zu fühlen. „Man ist als homosexueller Mensch noch immer eine Ausnahme und hat jeden Tag ein Coming Out“, meint sie. Zu behaupten, es wäre „kein Thema mehr“, führe auch dazu, dass LGBTQ-Personen weniger thematisiert und miteinbezogen werden.

Der Rechtsruck in der aktuellen Regierung verstärke die Unsicherheit in der Community. Da ist zum Beispiel Catherine Vautrin, die erneut als Gesundheits- und Familienministerin ernannt wurde und als notorische Gegnerin der Ehe für alle gilt. Oder der ehemalige konservative Innenminister Gérald Darmanin, der erneut zum Justizminister ernannt wurde. Jedes Mal, wenn ein neuer Gesetzesentwurf für LGBTQ-Personen verabschiedet wird, gäbe es Übergriffe auf die Community. 

Aber auch im Alltag erfahren LGBTQ-Personen körperliche Gewalt, Beleidigungen oder Bedrohungen. 2023 wurden in Frankreich insgesamt 4.560 solcher Straftaten registriert. „Die Leute erlauben es sich noch immer, uns aufgrund unserer Sexualität anzugreifen“, sagt die Mit-Gründerin von „Collectif famille.s“ wütend. Dies sei besonders in ländlichen Regionen oder konservativen Kreisen der Fall.

Die Blicke der anderen

Außerhalb ihrer vier Wände muss ihre Familie täglich um Anerkennung kämpfen. „Wenn ich mit meiner Partnerin und den Kindern im Urlaub bin, fragen sich die Leute, ob wir zwei Freundinnen sind, die auf die Kinder aufpassen“, sagt sie. Die Nachfragen seien oft nicht böse gemeint, aber sie erinnern Durand daran, dass sie anders ist.

Die Blicke der Menschen seien am schwersten zu ertragen, vor allem für ihre Kinder. „Sie wissen, dass wir nicht der Standard sind.“ Das führte leider anfangs auch dazu, dass ihr Sohn keine Schulfreunde mit nach Hause brachte, weil er Angst vor ihren Reaktionen hatte. Alternative Familienmodelle seien in französischen Schulen kein Thema. Dort würden weiterhin das klassische Familienbild vermittelt. Darunter litten dann auch die Kinder, die eigentlich keine Vorbehalte gegenüber Homosexualität haben.

Wenn Durands Kinder in der Schule deshalb von anderen beschimpft oder ausgelacht werden, lädt sie diese dazu ein, ihr direkt zu sagen, was ihr Problem sei. Dann nimmt sie Kinderbücher mit, die andere Familienmodelle präsentieren und Zeit, um auf alle Fragen zu antworten. In der Regel habe sich das „Problem“ dann schnell erledigt. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass inklusive Familienbilder eben auch an Schulen vermittelt werden, damit die Existenz von Familien wie ihrer endlich anerkannt wird. 

Als weiße, französische cis-Person, die sich dem Geschlecht zugehörig fühlt, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde, habe sie es dennoch leichter als zum Beispiel Transpersonen, nicht-binäre Menschen oder queere BIPoCs – also Schwarze, Indigene und People of Color. Denn bereits in Frankreich, dem Land der Fraternité und der Égalité, mangele es an Gleichheit. Zum Beispiel beim Zugang der künstlichen Befruchtung, die nicht für Transfrauen gilt sowie stark von der Region abhängig ist. „Mediziner*innen müssten zudem besser ausgebildet werden, um LGBTQ-Personen sensibler zu behandeln“, betont sie. 

Auch hauptberuflich setzt sie sich für Sichtbarkeit ein und begleitet Unternehmen in Fragen der Vielfalt und Inklusion. Laut einer französischen Umfrage des französischen Marktforschungsunternehmen IFOP von 2022, bei der 1.068 LGBTQ-Beschäftigte online befragt wurden, (Öffnet in neuem Fenster)haben 55 Prozent bereits negative Aussagen, Witze oder Beleidigungen im Zusammenhang mit ihrer Sexualität und Identität gehört. 30 Prozent der Befragten gaben an, übergriffiges Verhalten am Arbeitsplatz erlebt zu haben. Die Folge laut Durand: Eine von zwei queeren Personen im Unternehmen hat kein Coming Out, weil sie sich vor Repressionen fürchtet. Aber ohne Coming Out ist man nicht sichtbar.

Es gäbe zwar noch viel zu tun, aber es ändere sich auch etwas: „Früher war es für eine LGBTQ-Person undenkbar, eine eigene Familie aufzubauen.“ Das sei heute anders. Durand hat ihre Familie neu erfunden. Dabei müsse jede und jeder ein eigenes Modell finden. Das gelte auch für heterosexuelle Paare. „Es geht nicht darum, die Norm zu brechen, sondern sie zu erweitern.“

Auch ihr Ex-Mann spielt darin eine Rolle: in einer Art Co-Elternschaft, ganz ohne romantische Gefühle, teilen sie sich die Erziehung ihrer Kinder auf. „Unsere Kinder haben dadurch gelernt, wie vielfältig eine Familie aussehen kann. Sie wissen, dass es mehr als einen Weg gibt, zu lieben und dass sie ihr eigenes Leben so gestalten können, wie sie es möchten.“ Zwar ist das noch keine Gleichheit für alle, aber immerhin die Freiheit, selbst zu entscheiden. 

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