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Kontinuierliche Verluste

Es muss im Hotel gewesen sein, im Zug oder im Restaurant in der Nähe des Heilbronner Bahnhofs, wo ich während eines zweistündigen Aufenthalts etwas zum Mittag aß. Ich war auf Lesereise, fünf Tage, fünf Städte, und hatte einen schwarzen Merino-Schal dabei, den ich schon sehr lange besitze. Bis ich ihn im Zug nach Schwäbisch Hall aus der Tasche holen wollte, ins Leere griff und augenblicklich verstand, dass ich ihn nicht mehr besaß und nicht wusste, wie ich ihn verloren hatte. Der Verlust durchfuhr mich ohne Übertreibung wie Schlag, er war von einer Intensität, die mich selbst überraschte. Schließlich war nur ein Schal. Er war teuer gewesen, aber nicht so teuer, dass sein Verlust einen Weltuntergang darstellte. Auch wenn er immer noch aussah wie damals, als ich ihn gekauft hatte, trug ich ihn schon über zehn Jahre lang. Er war warm, so breit und so lang, dass man ihn sich bequem um die Schultern legen konnte. Er passte zu fast allem und war ideal für die kühlen Abende nach den Lesungen in dieser Übergangszeit des Frühlings. Aus irgendeinem Grund spürte ich diesen Verlust so sehr, wie ich schon lange keinen Verlust mehr gespürt hatte und wusste nicht, warum.

Dieses Gefühl verschwand auch nicht, als ich nach meiner Ankunft in Schwäbisch Hall im Hotel, wo ich in der Nacht zuvor übernachtet hatte, anrief und dem Restaurant sowie dem Fundbüro der Bahn eine E-Mail. Auch nicht, nachdem die freundliche Leiterin der Buchhandlung, in der ich an dem Abend las, anbot, am nächsten Tag einen Kollegen aus der Heilbronner Filiale ins Mittagrestaurant zu schicken, um dort noch einmal nachzufragen. Sie sagte, sie könne mich gut verstehen. Ich glaube, sie schien etwas in mir zu erkennen, das ich selbst nicht verstand.

Warum wog gerade dieser Verlust so schwer? Gerade schien ich ohnehin sehr leicht erschütterbar. Ich hatte einige Monate intensiver Arbeit hinter mir, Monate, in denen sich mein Leben grundlegend gewandelt hatte. Anstatt Zeit zuhause zu verbringen und zu schreiben oder zu übersetzen, war ich fast jede Woche unterwegs, gab Interviews und sprach in Podcasts, im Radio oder im Fernsehen. Ich genoss die Zeit, fühlte mich aber auch extrem erschöpft und hatte den Eindruck, mit dem Integrieren all des Erlebten hinterherzuhängen. Darüber hinaus machte mir der russische Angriffskrieg in der Ukraine Angst. Diese Angst schien von einem inneren Ort zu kommen, den ich noch nicht kannte. Ich zwang mich dazu, nur noch einmal am Tag Nachrichten zu lesen, unterstützte nach den anfänglichen Demonstrationen zahlreiche Spendenaktionen und bemühte mich sonst, das Geschehen zu verdrängen.

Abends im Hotel, nach der Lesung, musste ich an einen Spaziergang mit Liat, meiner Nachbarin, und ihrer knapp fünf Monate alten Tochter Libi die Woche zuvor denken. Natürlich hatten wir über den Krieg in der Ukraine gesprochen und wir hatten festgestellt, dass wir beide Vorfahren hatten, die von dort stammten. Meine Urgroßmutter und ihr Mann waren mit ihren elf Kindern zu Beginn des Ersten Weltkrieg von dort geflohen, einem Zeitpunkt, als diese multiethnische und multikulturelle Ecke Europas zum ersten Mal unter einer unvorstellbaren Welle der Gewalt versank. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wann genau sie flohen, genauso wenig wie sich die vielen durch Entbehrung, Krankheit und Tod geprägten Jahre der Flucht durch Osteuropa rekonstruieren lassen, die sich daran anschlossen. Große Teile der Familien von Liats Großeltern wurden ein Vierteljahrhundert später im Zweiten Weltkrieg in den Massenerschießungen und den Konzentrationslagern der Deutschen ermordet. Ich weiß nicht, wo der Vater meiner Mutter und der Stiefvater meines Vaters während des Krieges kämpften, aber Männer wie sie haben diese Morde verübt. Liats Urgroßmutter und ihre Großeltern gehörten zur kleinen Zahl von Juden und Jüdinnen aus der Region, die diese unvorstellbare Welle der Gewalt überlebten. Nach Ende des Krieges ließen sie sich in Belgien nieder. Als Kind hatte sie ihre Urgroßmutter noch kennengelernt. Bis zum Ende ihres Lebens trug diese auf der Außenseite ihres Unterarms die Tätowierung der Häftlingsnummer von Auschwitz. Liat berührte die Stelle auf ihrem eigenen Unterarm, als sie davon erzählte. Und irgendwann stellte ich fest, dass mir Tränen die Wange hinunterrollten. Egal, wie sehr wir versuchen, das jeweilige Schweigen der Generationen vor uns zu durchbrechen: Die Geschichten, die wir uns erzählen, verbergen trotzdem noch so viele der von ihnen erlebten Schrecken, mehr als wir es uns je vorstellen können. Diese Schrecken halten an, leben in uns fort und prägen unsere Leben selbst zwei oder drei Generationen später. Der derzeitige Krieg in der Ukraine sorgt für eine Welle von Verlusten, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Obwohl wir jene kollektiven Verluste, die diesen Verlusten zuvorkamen und indirekt mit für sie verantwortlich waren, noch nicht einmal verarbeitet haben. Neue Traumata treffen auf alte, auf vererbte Traumata. Und auch sie werden einmal vererbt werden.

Wie die New Yorker Autorin Kathryn Schulz in ihrem Buch „Lost & Found“ feststellt, sind Verluste eine sonderbare Kategorie, die alles mögliche einschließen kann, auch Dinge, die nichts miteinander zu tun haben: das Große und das Kleine, den Alltag und die Weltgeschichte. Wir verlieren Schlüssel, Handys oder Kleidungsstücke, aber auch unser Herz, unseren Verstand, unser Leben, unser Land oder unseren Glauben an die Welt. Ein verlorener Merinoschal kann Verdrängtes wiederkehren lassen, unterschwelligen Verluste ins Bewusstsein bringen und sogar vererbte Verluste aktualisieren, die, ob wir es wollen oder nicht, in unseren Leben nachwirken.

Die nächsten Lesungsabende absolvierte ich ohne Schal und ich finde es fast albern, das zu schreiben, albern, dass mich dieser eigentlich so unbedeutende Verlust so traf. Erst ein paar Tage später, als ich nach meiner letzten Lesung im Zug zurück nach Berlin saß, fiel mir auf, wie stark meine durch dieses Ereignis aufgedeckte Verdrängungsleistung wirklich war. Als mein Handy klingelte, sah ich, dass die sympathische Buchhändlerin aus Schwäbisch Hall mir geschrieben hatte. Übers Wochenende hatte sie ihre Eltern besucht und war kurzentschlossen selbst in Heilbronn, das auf dem Weg lag, vorbeigefahren, um im Restaurant nachzufragen, ob dort mein Schal gefunden wurde. Doch er blieb verloren. Ich war ungeheuer gerührt von ihrer Freundlichkeit und ihrer Großzügigkeit. Und dann kamen mir plötzlich erneut die Tränen, etwas, das seit einigen Monaten öfter passiert. Es war die Erwähnung ihrer Eltern gewesen, die mich an jenen Verlust denken ließ, den ich am stärksten verdrängte und der mein Leben seit einiger Zeit auf so grundlegende Weise einfärbt, dass ich noch nicht einmal daran denken kann. An jenen Verlust, der noch nicht eingetreten ist, aber unentwegt seine dunklen Schatten vorauswirft. Es ist knapp ein halbes Jahr her, dass mein Vater, der kurz nach Kriegsende auf der erneuten Flucht seiner Familie aus Osteuropa geboren wurde, sehr krank wurde. Seine Diagnose war so erschütternd, dass meine zurückgezogen lebenden Eltern meinen Geschwistern und mir lange nichts davon erzählten. Seit wir davon wisse, fühlt sich jedes Telefonat, jedes Treffen wie ein Abschied an. Wie ein Abschied, der meine inneren Kräfte übersteigt und der eine solche Sprachlosigkeit in mir verursacht, dass ich auch an dieser Stelle nichts mehr dazu schreiben möchte. Vielleicht nur so viel: Es ist die Präsenz meines Vaters in meinem Leben, die sich immer wie jener große, breite Schal angefühlt hat. Verlässlich und warm. Etwas, das man für gegeben hält, als selbstverständlich betrachtet und von dem man glaubt, dass es für immer da sein würde. Etwas, das man sich, wenn es kalt wird, um die Schultern legt.

Wir verlieren die ganze Zeit Dinge. Permanent, jeden Tag, bewusst oder ohne es zu merken. Das ist eine Grundbedingung unseres Lebens. Wir versuchen uns gegen diese Kontinuität des Verlusts, die Kontinuität von Leid, Krieg und Flucht, die Kontinuität von Leben und Sterben zu wehren. Doch in bestimmten Momenten des Alltags, etwa wenn wir auf einer Lesereise ein geliebtes Kleidungsstück verlieren, tritt diese Kontinuität schmerzhaft in unser Bewusstsein. Wir leben in der Illusion, dass uns Verluste nur sporadisch heimsuchen, dass unser Leben, unsere politische Ordnung und unser Frieden beständig sind. Wir leben in der Illusion, dass die Menschen, die wir lieben, für immer bei uns bleiben werden. Das sind wichtige Illusionen, die uns durch den Alltag helfen. Doch tief in uns drin ahnen wir, dass sich all das über Nacht ändern kann. Es tut weh, das zu erkennen.

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