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Wenn geschwisterliche Beziehungen von der Wirklichkeit eingeholt werden

Anscheinend wurde Constanze von der Konfirmation ihrer Nichte nur aufgrund einer Kette unglücklicher Umstände ausgeladen. Warum kann sie trotzdem nicht schlafen?

Dear Daniel,

vor einigen Wochen sollte meine Nichte konfirmiert werden, aber wenige Tage vorher hat mein Bruder Corona bekommen. Wir haben also Züge und Hotelzimmer storniert und gehofft, dass zumindest meine Nichte negativ bleibt und sie auch ohne Fest konfirmiert werden kann. Etwas später stellte sich dann aber raus, dass nicht nur die komplette Verwandtschaft meiner Schwägerin angereist ist – deren Weg kürzer war als unserer gewesen wäre – sondern auch, dass bis auf meinen Bruder alle in der Kirche waren und danach gemeinsam im Garten gefeiert haben. Alle bis auf meine Kinder, meinen Mann und mich. Weder haben sie uns vorher nochmal angerufen, noch haben sie es uns im Nachhinein davon erzählt. Ich habe durch Zufall davon erfahren.

Natürlich gibt es jetzt kein nachgeholtes Fest, denn es wurde ja schon gefeiert. Wir dürfen an einem anderen Wochenende vorbeikommen und ein bisschen fühle ich mich wie eine DHL-Botin, die ein Geschenk vorbeibringen darf. Wirklich eingeladen fühle ich mich nicht. Ich kann gut verstehen, wie es zu der spontanen Umplanung der Feier gekommen ist. Ich verstehe auch, dass sie vielleicht gedacht haben, wir möchten die ein paar hundert Kilometer lange Anreise nicht spontan unternehmen. Vielleicht war es meiner Schwägerin einfach auch alles zu stressig. Dennoch fühle ich mich ausgeladen. Ich bin verletzt und sie verstehen noch nicht mal meinen Unmut. Ich schlafe schlecht, drehe mich gedanklich im Kreis. Ich verstehe mich selbst nicht mehr und weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll.

Nun frage ich mich: Warum trifft mich das so? Irgendwie muss ich aus dieser emotionalen Spirale herauskommen, um der Beziehung zu meinem Bruder willen, aber vor allem für mich selbst.

Deine Constanze

Liebe Constanze,

ich denke jetzt schon einige Stunden über dein Problem nach und kann dich so gut verstehen – ich wäre wahrscheinlich auch verletzt davon gewesen. Keine Frage. Zugleich frage ich mich aber auch das, was du dich selbst fragst: Warum treffen dich diese Ereignisse so schwer, obwohl du, wie du sagst, verstehen kannst, wie es zu ihnen gekommen ist? Warum gelingt es dir, mit anderen Worten, nicht, tolerant gegenüber dieser Kette von unglücklichen Umständen, Unachtsamkeit und Fehlern zu sein und nimmst sie stattdessen persönlich? Ohne genau sagen zu können, warum, habe ich den Eindruck, dass dahinter ein tiefergehendes Problem mit deinem Bruder und seiner Familie steckt.

Wir alle brauchen diesen schwammigen Toleranzbereich für die Fehler und Dummheiten von Menschen, die wir lieben - und meistens verfügen wir über ihn, ohne dass uns das bewusst ist.

Wir alle brauchen übrigens diesen schwammigen Toleranzbereich für die Fehler und Dummheiten von Menschen, die wir lieben, und meistens verfügen wir über ihn, ohne dass es uns bewusst ist. Wir können Unachtsamkeit mit einem Schulterzucken hinnehmen oder uns zumindest eine Zeit lang darüber ärgern, ohne darüber den Schlaf zu verlieren. Ohne diesen Toleranzbereich könnten wir die meisten unserer Beziehungen gar nicht führen und ich habe oft den Eindruck, dass es vielen Menschen guttäte, die diesbezügliche Toleranz ab und zu wie einen Muskel zu trainieren. Es ist eine gute Eigenschaft, die das Leben einfacher macht – für einen selbst und alle anderen.

Doch diese Sphäre lässt sich nicht künstlich herstellen. Wenn man sie einmal verlassen hat, kann man nicht einfach so wieder dahin zurück. Und meistens ist das ein Anzeichen dafür, dass in der Beziehung etwas im Argen liegt. Mein erster Vorschlag wäre, mit deinem Bruder und deiner Familie darüber zu sprechen, dass du dich verletzt fühlst. Doch dein Brief klingt so, als wäret ihr weiterhin selbstverständlich im Kontakt, aber als würden eure Gespräche nichts am Konflikt, der entstanden ist, oder an deinen Gefühlen ändern. Das deutet daraufhin, dass ihr nicht ganz ehrlich miteinander seid, was eure Gefühle angeht – oder dass du mit der falschen Person darüber sprichst.

Zwischen den Zeilen deines Briefes kommt heraus, dass es deine Schwägerin ist, die das Konfirmationsfest und wahrscheinlich alle sozialen Verpflichtungen ihrer Familie organisiert. Dein Bruder scheint sich diesbezüglich passiv im Hintergrund zu halten und froh darüber zu sein, sich dieser Verantwortung zu entledigen. Selbstverständlich steht deiner Schwägerin ihre eigene Familie näher als die einige hundert Kilometer entfernt lebende Familie der Schwester ihres Mannes. Das heißt, dass sie sicherlich keine so enge Beziehung zu euch hat, wie du sie erwartest, weil es sich dabei um die Familie deines Bruders handelt. Vielleicht hat sie sogar aus irgendeinem Grund ein Problem mit euch und sagt es nicht. Who knows. Menschen sind seltsam, irrational und oft nur schwer zu durchschauen.

Deine Verletzung stammt daher, dass du dich von deinem Bruder zurückgewiesen fühlst und vielleicht sogar eure Beziehung bedroht siehst. Diese Verletzung kannst du nicht mit deiner Schwägerin verhandeln.

Deine Verletzung stammt aber daher, dass du dich von deinem Bruder zurückgewiesen fühlst, dass du deine Beziehung zu deinem Bruder bedroht siehst oder vielleicht sogar fürchtest, dass sie einen irreparablen Einschnitt erfahren hat. Diese Verletzung kannst du nicht mit deiner Schwägerin verhandeln. Du kannst mit ihr noch so viele Feste, Einladungen und Reisen planen – es wird nichts daran ändern, dass dein Bruder, der sich aus allem herauszuhalten scheint, deine Verletzung begreifen muss und dass ihr beide euch ernsthaft über eure Beziehung, deine Ängste bezüglich der Beziehung und eure Erwartungen aneinander unterhalten müsst. Ich will damit nicht sagen, dass du nicht auch die Beziehung zu deiner Schwägerin pflegen musst, das dunkle Zentrum dieses Konfirmationsschlamassels allerdings ist dein Verhältnis zu deinem Bruder, das augenscheinlich nicht oder nicht mehr so ist, wie du es dir wünschst, es dir erhoffst oder erwartest.

Mein zweiter Vorschlag wäre daher, ein paar Stunden Zeit allein mit deinem Bruder zu verbringen, wenn du in deiner DHL-Botinnen-Funktion das Geschenk für deine Nichte vorbeibringst. Ihr müsst ehrlich miteinander reden, er muss verstehen, warum du verletzt bist, er muss verstehen, wovor du Angst hat und warum dich die Geschehnisse wachhalten. Höchstwahrscheinlich wirst du feststellen, dass er ein anderes Bild von eurer Beziehung hat als du. Dass er weniger Ängste hegt, was die Zukunft eurer Beziehung angeht. Vielleicht wirst du feststellen, dass er sich einfach nachlässig verhält, was all das angeht, und überhaupt etwas schwerfällig ist, wenn es um emotionale Finessen wie Empathie geht (das wäre, wenn du mich fragst, nicht unbedingt untypisch für heterosexuelle Männer). Vielleicht wirst du aber auch feststellen, dass er sich schlicht nicht so viel Nähe zwischen euren Familien wünscht wie du.

Meistens wollen wir genau solche Gespräche nicht führen, weil sie schwer sind und wir Angst vor dem haben, was dabei herauskommt. Stattdessen planen wir lieber Konfirmationen, die dann ins Wasser fallen. Dabei kann nur die Klarheit, die in solchen Gesprächen entsteht, der Ausgangspunkt für eine reale Beziehung sein.

Dein Konfirmationsschlamassel hat in diesem Sinne auch etwas Gutes: Es kann eine Möglichkeit für deinen Bruder und dich sein, euch neu kennenzulernen. Es kann den Grundstein dafür legen, eine ehrliche, eine reale Beziehung miteinander aufzubauen, die euren Lebensumständen und Nähebedürfnissen entspricht. 

Gerade in unseren Beziehungen zu unseren Geschwistern haben wir oft den Eindruck, dass das Skript schon längst geschrieben ist. Wir bekommen unsere ganze Kindheit lang gesagt, wie unsere Beziehung zu ihnen sein soll, und wenn wir erwachsen sind, tendieren wir dazu, zu glauben, dass sie auch genauso ist. Dabei können wir jedoch verpassen, echte Beziehungen mit unseren Geschwistern aufzubauen – Beziehungen, die nicht so sind wie das Skript, das wir bewusst und unbewusst ausagieren, weil sie eben echte Beziehungen sind.

Dein Konfirmationsschlamassel hat in diesem Sinne auch etwas Gutes: Es kann eine Möglichkeit für deinen Bruder und dich sein, euch neu kennenzulernen. Es kann den Grundstein dafür legen, eine ehrliche, eine reale Beziehung miteinander aufzubauen, die euren tatsächlichen Lebensumständen, psychischen Verfassungen und unterschiedlichen Nähebedürfnissen entspricht. Mit Sicherheit wird das eine andere Beziehung als die sein, von der glaubst, dass ihr sie als Geschwister führen „solltet“. Mit Sicherheit wird es schwer sein, sich in diesem Sinne neu zusammenzufinden, mit Sicherheit wird damit viel Trauerarbeit einhergehen, auf beiden Seiten. Aber es wird eine reale Beziehung sein, in der wieder dieser schwammige, aber selbstverständliche Toleranzbereich herrscht, der so wichtig für uns ist - und eine Beziehung, die dich nachts nicht mehr wachhält.

Ich wünsche dir alles, alles Gute für diesen Weg. Du bist nicht allein.

Hab’s gut und pass auf dich auf!

Daniel

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