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Zeiten des Rückzugs

Wenn sich Menschen zurückziehen, begegnen wir dem oft mit Skepsis. Doch häufig brauchen sie das. Häufig erleben sie einen Wechsel ihrer inneren Jahreszeiten

Dear all, 

Gerade bin ich auf dem Weg nach Düsseldorf, zu einer kleinen Frühstücksfernsehen-Aufzeichnung, die zugleich den Startschuss für die nächste Etappe der Lesereise bildet. Und ich versuche, die vergangenen Wochen ein wenig für mich zu ordnen.

Ich fand den Februar, ehrlich gesagt, ziemlich mühsam. Ich hoffe, dass es euch anders ging. Doch meine Stimmung fühlte sich an wie die vielen grauen Tage in den hiesigen Breitengraden. Drinnen und draußen gab es nur wenige sonnige Nachmittage. Nach den Schreibworkshops und einigen Textaufträgen im Januar hatte ich mir vorgenommen, mich etwas zu entspannen, bevor es im März wieder auf die Tour gehen würde. Auch wenn ich wegen einiger Verpflichtungen keinen richtigen Urlaub machen konnte, hatte ich weniger zu tun als sonst und fand mich seit langer Zeit zum ersten Mal in der luxuriösen Situation wieder, dass sich mein Alltag verlangsamt hatte und weniger Ansprüche an mich stellte. 

Die ersten Tage des Monats besuchte ich ein befreundetes Paar in der Eifel, um ein bisschen zu wandern und abends Barbra-Streisand-Filme zu schauen, die alle überraschend gut waren. Ich hatte das Gefühl, auf einer Art Genesungsurlaub zu sein und die beiden kümmerten sich ungefragt so aufmerksam um mich, dass es mich sehr rührte. Doch die Zeit der Ruhe in Berlin danach, die ich mir als so etwas wie einen Luxus vorgestellt hatte, war schwerer als gedacht. Ich wollte so viele meiner Freundinnen und Freunde wie möglich sehen, wollte ins Kino, ins Konzert und ins Theater, die Ausstellungen anschauen, die ich noch nicht kannte, und in einige Restaurants gehen, die ich mochte. Stattdessen sagte ich fast alle Verabredungen ab und verließ meine Wohnung nur für ein paar Spaziergänge.

Innerlich nahm sich etwas in mir Raum, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Mein Wunsch sich zu sammeln, spielte sich auf einer Tiefenebene ab, die ihren eigenen räumlichen und zeitlichen Gesetzen zu folgen schien.

Innerlich nahm sich in dieser Phase des Rückzugs etwas in mir Raum, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Mein Wunsch sich zu sammeln, spielte sich auf einer Tiefenebene ab, die ihren eigenen räumlichen und zeitlichen Gesetzen zu folgen schien. Ich beschäftigte mich, räumte meinen Kleiderschrank um und sortierte die Kleidung aus, die ich nicht mehr trug. Ich kochte etwas mehr als sonst und kümmerte mich um steuerliche und finanzielle Dinge, die ich ein wenig hatte schleifen lassen. Auf Empfehlung von Dana, einer Freundin, verbrachte ich täglich ein paar Minuten mit einer App, um etwas Italienisch zu lernen. Aber es passierte nicht viel. Alles brauchte so viel mehr Zeit als sonst. Wenn ich abends schlafen ging, hatte ich selten den Eindruck, etwas geschafft zu haben. Ich wusste, ich war tatsächlich dabei, mich zu ordnen, doch dieser Prozess ging in einem kaum wahrnehmbaren Tempo voran.

Psycholog*innen nennen diesen Prozess „cocooning“ und tatsächlich hatte ich das Gefühl, meine Zeit in einer Art Kokon zu verbringen. Ein Kokon, der herangewachsen war, auch wenn ich es gerne anders gehabt hätte. Ich versuchte mich nicht dafür zu verurteilen. Ich wusste, dass es wichtig ist, dass wir in bestimmten Phasen unseres Lebens stärker die Verbindung zu anderen Menschen, zur Gemeinschaft, nach außen suchen, und andere Phasen unseres Lebens eher der Innenschau widmen - um uns über Dinge klarzuwerden, wieder zu einer besseren Verbindung zu uns selbst zu finden oder auch nur, um uns von Phasen der Überstimulierung zu erholen.

Diese Phasen des inneren Rückzugs gehen sie mit einer eigenen Form der Ruhe einher, manchmal sogar mit einer gewissen Genesung, einem zarten inneren Wachstum. Wir geben uns in ihnen den Raum, grundsätzlicher über unser Leben nachzudenken, von Dingen Abschied zu nehmen und zu trauern und auch zu überprüfen, ob wir noch auf dem Weg sind, von dem wir tief im Inneren wissen, dass es unser Weg ist.  

Ich habe mich lange Zeit meines Lebens gegen diesen Wechsel der inneren Jahreszeiten gewehrt, doch irgendwann merkte ich, dass dieses Sich-Wehren mehr und mehr zu Erschöpfung führte. Heute versuche ich, den Zeiten des Rückzugs mit Akzeptanz und sogar einer vorsichtigen Hingabe zu begegnen. Geduld mit mir zu üben. Manchmal, wenn ich in den vergangen Wochen Verabredungen mit Freundinnen und Freunden absagte, hatte ich den Eindruck, dass sie sich Sorgen um mich machten oder dass sie meinen Rückzug gar als Ablehnung empfanden. Anfangs gab ich mir Mühe, ihnen diese Sorgen zu nehmen, doch irgendwann ging ich dazu über, darauf zu vertrauen, dass sie mich gut genug kannten, um das nicht persönlich zu nehmen. Ich wünschte mir schließlich auch für sie, dass sie sich zurückziehen könnten, wenn sie es mussten. Diese Phasen des inneren Rückzugs sind wahrscheinlich nie eine rundum gute Erfahrung, doch zumeist gehen sie mit einer eigenen Form der Ruhe einher, manchmal sogar mit einer gewissen Genesung, einem zarten inneren Wachstum. Wir geben uns in ihnen den Raum, grundsätzlicher über unser Leben nachzudenken, von Dingen Abschied zu nehmen und zu trauern und auch zu überprüfen, ob wir noch auf dem Weg sind, von dem wir tief im Inneren wissen, dass es unser Weg ist.  

Falls ihr merkt, dass eine Freundin, ein Freund oder Angehörige sich gerade zurückziehen, versucht ihnen, diesen Raum zu geben. Ich weiß, dass das schwer sein kann, und dass so etwas einfacher gesagt als getan ist. Doch vielleicht macht ihr ihnen damit ein Geschenk. Und wenn ihr euch selbst gerade in einer solchen Phase befindet, möchte ich euch den Mut zusprechen, die Notwendigkeit dieses Rückzugs anzuerkennen und euch die Zeit zu dafür zu nehmen. Oft benötigt man mehr Geduld, als man glaubt, um diese Phasen zu durchleben. Und noch öfter steht an ihrem Ende kein strahlendes Ergebnis, keine große Erkenntnis, keine Epiphanie. Doch letztlich brauchen wir diese Zeiten für unsere innere Ökologie – und um uns wieder mit einem Gefühl größerer Ganzheit, mit Aufmerksamkeit und Zuneigung unserem Leben und den Menschen darin widmen zu können.  

Ich werde die nächste Zeit viel unterwegs sein. Wahrscheinlich wird sich erst dann zeigen, was sich in den vergangenen Wochen gelöst hat, wie sehr ich mich tatsächlich gesammelt und geordnet habe. Einigen von euch werden ich womöglich in den Signierstunden nach den Lesungen begegnen. Vielleicht bin ich mir dann schon mehr darüber im Klaren, und falls das so ist, werde ich es euch erzählen.    

Habt’s gut und passt auf euch auf!

Daniel

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