Zum Hauptinhalt springen

Late To The Party #3

Liebe Abonnent*innen vonn Late To The Party,

ich wünsche Euch allen ein frohes neues Jahr! Heute ist der 6.1., ich glaube, da darf man das noch sagen. Nächste Woche vermutlich auch noch, da kommen alle wieder aus dem Zwischenjahresloch zurück in die Büros (und anderen Arbeitsplätze), sehen ihre Kolleg*innen wieder und sagen "Frohes neues Jahr!", dann sagen sie: "Sagt man das jetzt noch? Haha!" und "Stimmt, ist ja gar nicht mehr so neu. Hehe!" und so weiter. 

Ich hoffe, ihr habt viele gute Bücher zu Weihnachten geschenkt bekommen. Und seit in der Zeit zwischem den Jahren dazu gekommen, euch mal wieder so richtig in einem dicken Buch zu verkriechen. Bei mir war es "Anna Karenina" von Tolstoi. Ich hatte mir eingebildet: Jetzt les ich es aber endlich mal zuende. Der Roman hat ja 1200 Seiten, und ich hab ihn schon seit längerer Zeit in Arbeit. Vermutlich seit zwei Jahren. Es kommt immer mal wieder etwas dazwischen, dann les ich erstmal ein anderes, kürzeres Buch. Und hab ein schlechtes Gewissen "Anna Karenina" gegenüber. Immerhin bin ich jetzt 250 Seiten weiter gekommen. Geht euch das auch so? 

Mit "Das Lesen der Anderen" hab ich eine kleine Winterpause eingelegt. Deshalb ist die folgende Abteilung dieses Newsletters ziemlich kurz.

Die letzten Folgen

Das Gespräch mit Max Gruber aka Drangsal ist die einzige Folge im Dezember. Aber ich war nicht untätig in der Zwischenzeit und habe etwas vorgearbeitet, um ab Mitte Januar (genauer gesagt: dem 13. Januar) wieder frisch durchstarten zu können. Freut euch auf Episoden mit Samira El Ouassil, Jochen Schmidt, Rocko Schamoni, Rainald Grebe und Ricarda Lang. 

Die Folge mit der stellvertretenden Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen habe ich gerade vorhin aufgenommen. Erscheint vermutlich im Februar. 

 

Kurze Frage zwischendurch

Hört Ihr "Das Lesen der Anderen" eigentlich, indem ihr für jede Folge auf die Homepage geht oder habt Ihr den Podcast in einem Podcatcher, also einer App wie Apple Podcasts, Castro oder Pocket Casts abonniert? Könnt ihr natürlich machen wie ihr wollt. Wenn ihr dem Podcast was Gutes tun wollt, dann wäre es toll, wenn ihr die Abo-Variante wählt (bei Spotify: dem Podcast folgen). Das ist (und bleibt) völlig kostenlos, für mich hat es aber den Vorteil, dass "Das Lesen der Anderen" dann seine regelmäßigen Abrufzahlen steigern bzw. stabilisieren kann. Das würde mir sehr helfen bei dem Versuch, dieses Angebot weiterhin aufrechtzuerhalten.

Oh, und wo wir gerade dabei sind...

... würdet Ihr "Das Lesen der Anderen" bei Apple Podcasts vielleicht eine 5-Sterne-Bewertung geben bzw. noch besser eine kurze Rezension schreiben? Auch das würde mir wirklich sehr, sehr helfen. Jetzt schon mal vielen Dank dafür!

Und jetzt zu einer neuen Rubrik dieses Newsletters, nämlich (Trommewirbel):

Das Lesen von Euch

Mich interessiert nicht nur, was bekannte Menschen lesen und welche Bücher sie geprägt haben. Ich bin auch neugierig auf Euch, die Hörer*innen von "Das Lesen der Anderen" und Abonnent*innen dieses kleinen Newsletters. Deshalb gibt es jetzt diese Rubrik. Da lerne ich Euch besser kennen. Und ihr die anderen Menschen, die sich für diesen Podcast interessieren. In jeder Ausgabe des Newsletters stelle ich eine Person mit ihren prügenden Büchern vor. Den Anfang macht Nicola Wessinghage aus Hamburg, sie ist eine der ersten Hörer*innen und auch eine der ersten Unterstützer*innen von "Das Lesen der Anderen" bei Steady. 

Nicola Wessinghage (Öffnet in neuem Fenster) ist Mitgründerin und Co-Geschäftsführerin der Kommunikationsagentur Mann beißt Hund und hat sich auf Wissenschafts- und Bildungskommunikation spezialisiert. Nicola schreibt regelmäßig in ihrem Blog „Inkladde“ (Öffnet in neuem Fenster) und ist Host des Podcasts „Lob des Gehens (Öffnet in neuem Fenster). Zusammen mit Christian Friedrich moderiert sie zudem den Podcast „Hamburg hOERt ein HOOU“ der Hamburg Open Online University. Sie lebt in Hamburg.

Drei Bücher von Nicola Wessinghage

Schon die Aufgabe, darüber nachzudenken, welche Bücher mich geprägt haben könnten, ist ein Geschenk. Sehr schnell und klar war ich bei den ersten beiden, das letzte war bis zum Schreiben sehr variabel – nahezu unmöglich, mich da festzulesen.

In allen Fällen sind es Bücher, die weitere, ähnliche, verbundene nach sich gezogen haben. Prägend ist für mich nicht nur das jeweils einzelne Buch, sondern der Anstoß zu weiteren, den es mir gegeben hat.

Judith Kerr – Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (erschienen 1971)

1978 wurde die erste Verfilmung des Jugendbuchs in der ARD ausgestrahlt, die mich zu dem Buch geführt hat. Film und Buch handeln von der neunjährigen Anna, deren Vater, ein bekannter Publizist, vor den Nazis in die Schweiz flüchtet. Das Buch erzählt aus der Perspektive des Mädchens die Flucht, die die Familie nach Frankreich und dann nach England führt. Die Geschichte ist stark autobiographisch geprägt – Judith Kerr ist die Tochter des Schriftstellers Alfred Kerr, der in der NS-Zeit als Kritiker des Regimes ausgebürgert worden war.

Anna „feiert“ ihren zehnten Geburtstag auf der Flucht – kaum jemand hat in der durch Angst und Sorge über die Zukunft geprägten Lage Zeit, sich um sie zu kümmern. Am Abend ist sie darüber sehr traurig – ihren „ersten zweistelligen Geburtstag“ habe sie sich anders gewünscht, sagt sie.

Ich habe den Film am Vorabend meines eigenen zehnten Geburtstags gesehen – und erinnere mich an keine Romanfigur meiner Kindheit, der ich mich so nahe gefühlt habe wie damals Anna. Es war gleichzeitig der krasse Gegensatz zu meiner eigenen Situation. Ende der 70er Jahre aufgewachsen in Westdeutschland, habe ich mich damals grundsätzlich sehr sicher und behütet gefühlt. In der Geschichte von Anna habe ich erlebt, wie es sein könnte, wenn die eigene Existenz von einem auf den anderen Tag in Bedrohung gerät.

Ich habe danach alle Bücher der Trilogie von Judith Kerr und dann noch viele Bücher gelesen, die das Erleben des Nationalsozialismus und auch des Holocaust aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen erzählen. Diese Erzählungen und weitere literarische Verarbeitungen von Flucht und Exil später im Studium haben mein „nie wieder“ geprägt.

Albert Camus – der Fremde ( erschienen 1942)

Diesen Klassiker habe ich als Schulliteratur gelesen, zum Glück angeleitet durch einen philosophisch sehr interessierten und belesenen Französischlehrer.

„Der Fremde“ ist ein Mörder, ein Franzose, der in Algerien auf seine Hinrichtung wartet. In einer Art Dokumentation wird berichtet, wie es zu dem Mord kam, für den es kein Motiv zu geben scheint. Der zweite Teil behandelt den Prozess, der Meursault gemacht wird. Vorgeworfen wird ihm offenbar weniger der Mord als die Gleichgültigkeit, mit der er ihn ausgeführt hat. Meursault, so scheint es, wird am Ende wegen emotionaler Kälte und Gottlosigkeit – beides inakzeptabel für die Gesellschaft, in der er lebt – zum Tode verurteilt.

Ich war damals fasziniert von der minimalistischen Sprache genau wie von der gesamten Konstruktion der Erzählung. Es war auch ein Buch voller offener Fragen, die Ahnung, dass es um etwas Grundsätzliches, für mich damals fast Feierliches ging. Etwas, das ich zu dem Zeitpunkt allerdings gar nicht richtig erfassen konnte. Später habe ich in der Schule erste theoretischen Schriften des Existenzialismus gelesen, mehrere Bücher und Texte von Simone de Beauvoir. Der Lektüre folgten einige Jahr später der endgültige Abschied aus der katholischen Kirche, ein Jahr in Frankreich im Studium und eine bis heute besondere Verbindung zur französischen Kultur.

„Der Fremde“ ist mir nach meiner Schulzeit immer wieder begegnet. Als Film von von Luchino Visconti mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle. Als Ein-Mann-Theaterstück in Hamburg, inszeniert von Jette Steckel als Kammerspiel. Vor wenigen Jahren erst dann noch einmal in dem Roman Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung (Öffnet in neuem Fenster)von dem algerischen Journalisten und Schriftsteller Kamel Daoud (erstmals erschienen 2014). Er berichtet den „Fall“ aus der Sicht des getöteten, bei Camus namenlosen Arabers und wirft damit noch einmal einen ganz neuen Blick auf den Klassiker und auch auf den Autoren. Sehr empfehlenswert, mehr dazu schreibt Stefan Buchen 2015 bei Quantara.de (Öffnet in neuem Fenster).

Annie Ernaux – das Ereignis (erschienen in Frankreich, 2000, deutsche Fassung 2021)

„Das Ereignis“ habe ich erst im letzten Monat gelesen. Es ist vielleicht – konträr zu Camus –

der Höhepunkt einer Reihe von Büchern, die mich in den letzten Jahren besonders beschäftigt und auch berührt haben. Den Anfang der Reihe machte vor einigen Jahren „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon, es folgten Edouard Luis („Das Ende von Eddy“) und Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“). Alle spiegeln in ihren biographischen Erinnerungen den schmerzhaften Abschied aus der Klasse ihrer eigenen Herkunft. Der Aufstieg zu „Intellektuellen“ bleibt für immer verbunden mit dem Verlust der Bindung an die eigene Familie und einem Gefühl von Fremdheit im aktuellen Sein. Pionierin dieser Art des biographischen Schreibens ist eigentlich die Schriftstellerin Annie Ernaux. Sie macht in ihren Büchern die doppelte Entfremdung in einer Gesellschaft erlebbar, die immer noch nicht nur nach Herkunft sortiert, sondern auch nach Geschlecht.

In „Das Ereignis“ berichtet sie von ihrer eigenen Abtreibung als junge Literaturstudentin, Anfang der 60er Jahre in Frankreich, in einer Zeit, als Schwangerschaftsabbrüche noch verboten und stark tabuisiert waren. Frauen riskierten ihr Leben, wenn sie selbst eine Fehlgeburt auszulösen versuchten oder sich so genannten „Engelmacherinnen“ in die Hände begaben.

Beides versucht auch die junge Protagonistin, die sich vollkommen darüber im Klaren ist, dass die Schwangerschaft sie unweigerlich in ihre alte Existenz zurückwerfen wird, wenn ihr ein Abbruch nicht gelingen wird. Ihr Studium würde sie abbrechen müssen. Am Ende erlebt sie eine Fehlgeburt in der Toilette ihres Studierendenwohnheims und wird, kurz vor dem Verbluten, in die Notaufnahme eingeliefert.

„Etwas erlebt zu haben, egal, was es ist, verleiht einem das unveräußerliche Recht, darüber zu schreiben. Es gibt keine minderwertige Wahrheit. Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.“ (Annie Ernaux, das Ereignis)

Ich habe noch nie so anschaulich von einer Abtreibung gelesen. Die nüchtern-präzise, nahezu emotionslose Sprache wirft alles, was diese Erzählung auslösen kann, auf mich selbst zurück, den Schock, das Mitleid, den Unglauben und auch die Empörung. Sie stärkt die Erkenntnis, wie wichtig es war und ist, dass Frauen sich aus dieser Situation befreien können und Unterstützung erfahren – besonders wenn die Familie diese nicht leisten kann.

So viel zu den drei prägenden Büchern von Nicola. Welche drei Bücher haben Euch geprägt? Begeistert? Beeinflusst? Habt Ihr vielleicht Lust, in einer der nächsten Ausgaben des Newsletters darüber zu schreiben? Dann meldet Euch gerne unter: mail@daslesenderanderen.de. Ich freu mich auf Eure Nachrichten!

Das war es für dieses Mal von Late To The Party. Danke fürs Abonnieren! Und danke fürs Hören von Das Lesen der Anderen! Wie gesagt: ab dem 13.1. geht es wieder los mit neuen Folgen, alle 14 Tage! 

Habt ihr vielleicht Lust, den Podcast mit einer monatlichen oder Jahresmitgliedschaft zu unterstützen? Schaut Euch gerne mal hier um (Öffnet in neuem Fenster), da findet ihr alle Infos dazu. Würde mich sehr freuen!

Vielen Dank, bis zum nächsten Mal - und alles Gute für 2022!

Christian

Nur zahlende Mitglieder von Das Lesen der Anderen können hier Kommentare lesen und schreiben.