Zum Hauptinhalt springen

Du erkennst nicht am Gesicht, was jemand fühlt

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Warum du lieber nachfragen solltest, was jemand fühlt, wenn er traurig aussieht.

Wir starten heute schrecklich. Die meisten Menschen in der westlichen Welt brauchen nicht mal Kontext, um zu erkennen, dass diese Frau gerade ihre Verzweiflung herausschreit.

Nur, dass sie das gar nicht tut. Das Foto zeigt die Tennisspielerin Serena Williams, nachdem sie ihre Schwester Venus bei den U.S. Open im Finale geschlagen hat. Sie ist nicht verzweifelt, was sie fühlt, ist pure Freude. Hier das ganze Bild:

Glückwunsch, Serena! Als eines der Kapitel im Buch How Emotions Are Made von Lisa Feldmann Barrett diese beiden Bilder zeigte, begann eine Grundannahme in mir zu bröckeln, die ich lange hatte.

Als ich in Osnabrück Kognitionswissenschaften studiert habe, lernte ich, dass jede Emotion ein bestimmtes Muster körperlicher Veränderungen mit sich bringt. Das kann man sich vorstellen wie einen Fingerabdruck. Fingerabdrücke einer Person sind zwar auch selten 1:1 gleich (mal hat man fettigere Finger, mal ist die Oberfläche glitschig), aber sie sind immer ähnlich genug, um sie einer Person zuzuordnen. Das Gleiche sollte für Emotionen gelten: Man sollte einen Gesichtsausdruck einer Emotion zuordnen können, unabhängig von Alter, Geschlecht, Persönlichkeit oder Kultur. Und Menschen sollten diese Emotionen erkennen können, überall auf der Welt.

Nun: Das stimmt nicht. Wir können nicht anhand von Gesichtsausdrücken erkennen, was jemand fühlt. Wie letzte Woche beschrieben: Das ist eine der Grundannahmen der klassischen Theorie von Emotionen, die Wissenschaftler:innen jahrzehntelang für wahr hielten (und einige tun das auch heute noch) und die ich bis vor ein paar Monaten wahrscheinlich auch unterschrieben hätte.

In dieser Mini-Serie geht es darum, was wirklich in uns passiert, wenn wir ängstlich, glücklich oder überrascht sind. Und hier kommt ein Mini-Versprechen: Wenn du diese Ausgabe liest, wirst du vielleicht etwas mehr zögern, wenn du das nächste Mal denkst, jemand würde dich wütend anschauen.

Was fühlen diese Menschen?

Nach der klassischen Theorie von Emotionen zeigt sich jedes Gefühl im Gesicht als ein ganz bestimmtes Bewegungsmuster, ein Gesichtsausdruck. Im Gesicht gibt es immerhin 42 kleine Muskeln, und das auf jeder Seite. Was tust du, wenn du glücklich bist? Lächeln. Was tust du, wenn du wütend bist? Die Stirn runzeln? Was tust du, wenn du überrascht bist? Den Mund weit öffnen. Diese Bewegungen ergeben sich aus einem Zusammenspiel dieser Muskeln. Und sie gelten als Teil des Fingerabdrucks der jeweiligen Emotion, wir können gar nicht anders, als unser Gesicht entsprechend zu verziehen (oder müssen uns schon sehr anstrengen, dem zu widerstehen). So die Idee.

In den 60er Jahren testeten die Psychologen Silvan Tomkins, Carroll Izard und Paul Ekman diese These. Sie stellten eine Reihe von inszenierten Fotos zusammen, die die sechs sogenannten Grundemotionen abbilden sollten: Wut, Angst, Ekel, Überraschung, Traurigkeit und Glück. Dafür baten sie Schauspieler:innen, diese Emotionen möglichst deutlich darzustellen.

Mit diesen Fotos wollten die Wissenschaftler untersuchen, ob Menschen Emotionen nur anhand des Gesichts erkennen können (und damit zeigen, dass Emotionen universell sind). Dafür zeigten sie zum Beispiel eines der Fotos, schrieben daneben eine Reihe von Emotionen und ließen die Teilnehmer:innen ankreuzen, welche Emotion das Bild darstellt.

In einem anderen Setup zeigten sie zwei gestellte Fotos und eine kurze Geschichte und die Teilnehmer:innen musste auswählen, welches Gesicht am besten zur Geschichte passt. Und sie schnitten gut ab! In den westlichen Ländern lagen die Versuchspersonen zu 85 Prozent richtig! Hunderte von veröffentlichten Experimenten haben diese Methode angewandt, und sie gilt auch heute noch als der Goldstandard.

In ihrem wohl berühmtesten Experiment (Öffnet in neuem Fenster) reisten die Wissenschaftler nach Papua-Neuguinea und führten Experimente mit einer einheimischen Bevölkerung, dem Fore-Volk, durch, die kaum Kontakt mit der westlichen Welt hatte. Selbst dieser abgelegene Volksstamm konnte die Gesichter durchweg den erwarteten Gefühlsworten zuordnen. Daraus schlossen die Wissenschaftler, dass die Erkennung von Emotionen universell ist – unabhängig davon, wo man geboren wurde oder aufgewachsen ist.

Der Goldstandard hat Kratzer

Obwohl diese Methode so erfolgreich war, hatte sie zwei offensichtliche Schwachstellen: Erstens waren die Fotos alle gestellt, sie stammten nicht aus dem Alltag, sondern waren überzeichnete Darstellungen einer Emotion. Eine Art Prototyp. Zweitens beeinflusst es Teilnehmer:innen, wenn neben den Fotos eine Liste mit Emotionen abgebildet ist. In der Psychologie nennt man sowas klassischerweise Priming.

Nahm man die Liste weg und bat Teilnehmer:innen einfach nur zu sagen, welche Emotionen das Gesicht auf dem Foto abbildet, lagen die Teilnehmer:innen deutlich seltener richtig.

Je mehr Experimente die klassische Sicht auf Emotionen und Gesichter infrage stellten, desto mehr schien darauf hinzudeuten, dass der Kontext entscheidend ist, in dem wir ein Gesicht wahrnehmen. In einer Studie (Öffnet in neuem Fenster), die Lisa Feldmann Barrett in ihrem Labor durchgeführt hat, arbeitete man wieder mit Fotos von Schauspieler:innen, die ihr Gesicht diesmal passend zu einer Geschichte in Pose setzen sollten.

Die Testpersonen wurden dann in drei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe las nur die Szenarien, z.B. „Er war gerade Zeuge einer Schießerei in seinem ruhigen, von Bäumen beschatteten Viertel in Brooklyn“. Die zweite Gruppe sah die Szenarien und den Gesichtsausdruck eines Schauspielers. Die dritte Gruppe sah nur den Gesichtsausdruck.

Das Gesicht allein verrät doch nicht so viel

Die ersten beiden Gruppen erkannten zu 66 Prozent, dass der Schauspieler ängstlich war. Bei der dritten Gruppe, die nur das Gesicht (ohne Kontext der Geschichte) zu sehen bekam, sah das anders aus. Hier bewerteten nur 38 Prozent den Gesichtsausdruck als ängstlich. 56 Prozent hingegen bewerteten die Emotion als Überraschung. Der Kontext war entscheidend, mit dem Gesicht allein konnten die Teilnehmer:innen nicht viel anfangen.

Bei einer anderen Geschichte waren die Ergebnisse ähnlich. Fast drei Viertel der Testpersonen, die nur einen Gesichtsausdruck sahen, bewerteten es als traurig. Wenn die Testpersonen die Geschichte dazu kannten, kamen sie zu 70 Prozent darauf, dass das Gesicht eher ängstlich ist.

Bleibt die Frage, warum es sich trotzdem so anfühlt, als könnten wir in den Gesichtern anderer erkennen, was sie fühlen (wir liegen doch total oft richtig!?). Lisa Feldmann Barrett hat dafür eine Erklärung, die weitreichende Folgen haben könnte. Sie sagt:

Um weiterlesen zu können, musst du ein echtes Brain werden. Echte Brains haben Zugriff auf alle Ausgaben und ermöglichen so diesen Newsletter.

Echtes Brain werden! (Öffnet in neuem Fenster)

1 Kommentar

Möchtest du die Kommentare sehen?
Werde Mitglied von Das Leben des Brain und diskutiere mit.
Mitglied werden