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Ich habe acht Stunden Werbung gesehen

Leberwurststulle mit Steuerkreuz und Facebuttons

Hier ist meine Expertise.

Ich habe fantastisch nette Menschen kennen gelernt, die was mit Werbung machen. Ich finde es nicht abwegig, dass Werbung überhaupt existiert. Ich bin nicht pauschal dagegen.

Aber ich muss zugeben, dass ich Werbung meide. Der letzte Werbeblock im linearen Fernsehen liegt Jahre zurück. Wenn ich mal wieder denke, ich müsste ein Free-to-Play-Mobile-Game ausprobieren und es zeigt mir ungefragt einen Werbespot, dann lege ich das Handy auf den Tisch, verlasse den Raum und hole mir einen Kaffee.

Und so viel Kaffee trinke ich gar nicht.

Wir brauchen weniger Leberwurst

Was in meinem Leben dagegen gar nicht weggeht, was immer irgendwo im Bild sichtbar bleibt, sind Videospiele. Werbung für Spiele schaue ich und hadere dabei. Früher habe ich aus jugendlicher Begeisterungsfähigkeit heraus und aus dem Gefühl, dass ich als Spielejournalist alle Spiele kennen müsste, endlos viel Zeit mit Gametrailern verbracht, auf Webseiten wie Gametrailers.com (Öffnet in neuem Fenster).

Heute streift mein kalter Blick durch Inbox und Newsreader und beurteilt alles in Sekundenbruchteilen. Zwei Stichpunkte und ein Screenshot müssen reichen. Das klingt hart, aber es gibt mehr gute Spiele als Zeit im Leben. So etwas wie Trailer schaue ich mir nur an, wenn ich schon weiß, dass mich ein Titel interessiert, und er selbst entweder ein Event ist, über das auch meine spielefernen Freund*innen reden, oder der Trailer zeigt endlich Gameplay, echte Inhalte, die mir eine Ahnung vom Spielerlebnis geben.

Menschen, die nicht ihr ganzes Leben lang mit Begeisterung in dasselbe Leberwurstbrot beißen können, haben irgendwann genug davon. Die Spielebranche kann sich das Genughaben schlecht leisten, sie muss jedes Jahr die geilste Stulle der Welt verkaufen. Ich verstehe schon den kapitalistischen Zwang und ich respektiere auch die echte Begeisterung der Menschen, die in dieser Maschinerie arbeiten.

Doch die Zeit der großen Wurstgalas ist vorbei. Ich kann das beurteilen. Ich bin in dem Sinne Experte, dass ich mir Jahrzehnte dieser Galas angeschaut habe, das Interesse verloren, immer mehr Präsis geschwänzt habe, und nun, am Ende aller E3s dachte, ich müsste dieses historisch besondere Summer Game Fest genauer studieren. Weil ich Indies genauso schätze wie Blockbuster, habe ich den ganzen Stundenplan (Öffnet in neuem Fenster) angegriffen. Ich habe elf Showcases geschaut; einige nur in Ausschnitten, aber doch rund acht Stunden.

Geoff Keighley schneidert ein Jackett aus einem alten Sofabezug

Die große Show, der Aufschlag, der Anker ist das Summer Game Fest selbst (Öffnet in neuem Fenster). Es ist der Versuch zu beweisen, dass wir noch Galas für Games brauchen. Endlich ist die Pandemie vorbei genug, dass Geoff Keighley vor einem johlenden Publikum auf die Bühne treten kann. Die Menge sieht im Video nicht klein aus, aber sie klingt klein, als würde nur ungefähr eine Schulklasse von den Mikrofonen erfasst.

Geoff ist an diesem Abend merkwürdig aufgekratzt, er überzieht in seiner Art, Dinge ins Mikrofon zu schreien, und klingt dabei nicht einfach ein bisschen distanziert, sondern er kippt ins Sarkastische. Wissend grinst er in die Kamera, als er durch die Buhrufe hindurch die Werbebotschaft für Doordash platziert. Nicolas Cage kommt auf die Bühne und wirbt mit seinem Auftritt für ein Videospiel, das sonst keinen Platz mehr auf dieser Bühne hätte. Pfefferminzgrün glänzt sein Anzug.

Bühneninterviews sind immer schwer zu ertragen. Menschen müssen ihre vorbereiteten Sätze unbestimmt in den Raum schreien und wissen dabei nicht, ob sie in die Kamera, das Publikum, oder Geoffs Augen schauen sollen. Niemand schaltet für solche Augenblicke ein. Höchstens für Nicolas Cage, der natürlich immer weiß, wo er hinschauen soll. Zu sagen hat er allerdings nichts. Die komplette Bühnenshow zitiert ein Format, das selbst in der Krise steckt. Keynotes und Galas sind ja nicht nur in der Gamingbranche eine Zumutung. Fast patzig klingt Geoff, wenn er Spiele vorstellt, die ihn selbst offensichtlich nicht interessieren. Warum haben wir gerade Fae Farm (Öffnet in neuem Fenster) gesehen?

„I promised variety, there it is!”

Der Rettungsanker sind die anstehenden AAA-Titel, die ganz dicken Dinger. Mortal Kombat 1 sieht witzig aus, und kann ein paarmal überraschen. Zuerst geht die Zwischensequenz nahtlos in einen Kampf über, dann flitzt mitten im Kampf Goro durch die Arena.

Und als alle ahnen, dass die Show dem Ende entgegentreibt, als nur wenige große Titel und nicht eine einzige große, schockierende World Premiere vorgestellt wurde, kommt die Rettung. Final Fantasy 7 Rebirth (Öffnet in neuem Fenster) ist zwar kein Geheimnis, aber es wurde auf dieser Show nicht zwingend erwartet, und es ist der erhoffte Titel für Millionen. Dass das Spiel schon im Frühjahr '24 erscheinen soll, ruft echten Jubel hervor, und dass es ernsthaft auf zwei Blu-ray-Scheiben verkauft wird, ist ein guter Schenkelklopfer. Als hätte sich in all den Jahrzehnten eben doch nicht soviel verändert.

Als kleiner Junge hab ich noch Disketten gewechselt

Aber genau das bestätigt Geoffs Gala am Ende. Es wirkt wie der Auftritt einer Coverband zum noch einmal festhalten, noch einmal beim Zuschauen blinzeln und träumen, die E3 wäre doch gar nicht tot. Aber eine Daseinsberechtigung hat so eine Show nicht. Trailer hätten genügt.

Zu der merkwürdig altmodisch wirkenden Würstchenrevue passen auch die Menschen auf der Bühne. Exklusiv männlich, eher weiß und alt. Beim Zuschauen bekomme ich fast Phantomschmerzen: Gäbe es nicht andere, riesige Bereiche der Branche, die sich hier hätten präsentieren sollen?

Kurioserweise wird der offizielle Day-of-the-Devs-Stream (Öffnet in neuem Fenster) gleich im Anschluss gezeigt, und er zeigt trotz gegenseitiger Sympathiebekundungen ein krasses Gegenprogramm. Indie-Entwickler*innen werden mit Komplimenten anmoderiert, können ihr Spiel in Ruhe erklären, dürfen dabei gewitzt und sympathisch wirken.

Für einen Augenblick bekomme ich eine Vorstellung von guter und schlechter Spielewerbung. Der Vergleich ist natürlich unfair, weil ein fünfköpfiges Team mit kleinem Budget weniger Druck und mehr Freiheiten hat. Bei Call of Duty stehen tausende Existenzen auf dem Spiel.

Aber es geht nicht einfach um Größe. Die kleinen sind nicht automatisch frisch und nett, die Großen nicht immer kreativ bankrott. Ich kann das beurteilen; wie gesagt, elf Showcases. Und ich will nicht auf kleinen Shows herumtrampeln, aber ein paar Fragen stellen will ich doch.

Warum etwa begräbt Devolver vielversprechende Spiele unter einem nicht so guten zwanzigminütigem Sketch über KI?

Warum macht der PC Gaming Showcase einen vergleichbaren Sketch in noch länger und schlechter?

Warum müssen bei der Future Games Show zwei gestandene Voice Actors eine Kurt-Felix-und-Paola-Gedenkmoderation halten?

Schlimm ist das alles nicht, niemand muss zuschauen, die Trailer sind auch ohne Show auf Youtube verfügbar.

Nebenbei google ich das Frühwerk von Karl Dall

Aber diese Gimmicks verscheuchen die Erinnerung an Spiele eher, als dass sie mir helfen würden. Baby Steps (Öffnet in neuem Fenster) sieht witzig aus, aber das weiß ich nur, weil ich Bennett Foddy (Öffnet in neuem Fenster) bewundere und den Titel schon beim Zuschauen notiert habe. Sie drücken das Gegenteil von Wertschätzung aus. Sie wirken im Zweifelsfall ängstlich, als würden Spiele an sich nicht genügen und müssten mit Witzen unterfüttert werden.

Gibt es Menschen, die sich nicht für Games interessieren, die aber Devolver schauen, weil sie die Show lustig finden? Wenn ich die Antwort wirklich wissen wollte, würde ich das fragen.

Den Sonderpreis für den Ausblick auf unsere neue, nüchterne Realität erhält Ubisoft (Öffnet in neuem Fenster). Assassin’s Creed Mirage sieht aus wie eine Rückbesinnung auf vergessene Stärken, Avatar sieht aus wie ein kommerziell vielversprechendes Produkt und Star Wars Outlaws (Öffnet in neuem Fenster) ist vielleicht DAS Spiel dieser Festsaison. Doch das fällt eher nachher beim Blick auf den Spickzettel auf. Die Show selbst wirkt so, als hätte niemand vorher Bescheid gesagt, dass der Raum diesmal deutlich kleiner ausfällt. Ständig machen Leute Sprechpausen für Applaus, den ich kaum höre.

Der präsentationsmäßige Gewinner des Werberennens ist Microsoft. Wir brauchen kein klatschendes Publikum. Durch den Verzicht darauf wirkt der Xbox Showcase (Öffnet in neuem Fenster) zielstrebiger und erspart sich die peinlichen Momente, die entstehen, wenn Entwickler*innen und Führungspersonal versuchen, vor Publikum lustig zu sein. Eine gestreamte Show ist schneller, effektiver und unterhaltsamer ohne.

Und wer dann Sarah Bond hat, die sich unfallfrei durch Untiefen moderieren kann, wer dann auch noch Trumpfkarten wie Fable mit dem unverwüstlichen Richard Ayoade zücken kann, der gewinnt. Alle lieben Starfield, was ich durchaus respektiere, was mir aber auch wie der übliche konservative Reflex unserer Community vorkommt. Geliebt wird Starfield dafür, dass es wieder ein Rollenspiel wird, wie wir sie von Bethesda kennen. Der Maßstab ist noch größenwahnsinniger, und diesmal soll es ganz bestimmt nicht so viele Bugs geben wie sonst immer.

Das Xbox-Team hat verstanden, was beim Publikum auf der Bingo-Karte steht, hat sich gut überlegt, was bedient wird, und was weggeschnitten. Das Ergebnis ist ein einstündiger Werbeblock ohne Leerstellen, ritualisierte Wiederholungen von „World Premiere“ und „Play It Day One With Game Pass“, gut ausgesuchte Spiele, die den Eindruck einer lebendigen und gut versorgten Plattform bedienen. Und natürlich steht am Ende noch das Kaufangebot: Die kleine Xbox gibt es jetzt auch mit mehr Speicher, was ja sinnvoll ist. Die lange Starfield-Strecke und ausführliche Interviews mit Entwickler*innen werden nicht gestrichen, aber ausgelagert (Öffnet in neuem Fenster).

Wahrscheinlich gefällt mir der Xbox-Showcase am Ende aber am besten, weil er ehrlich ist. Er sieht aus wie Werbung, weil er genau das auch ist. Das muss man ja nicht verstecken. Wir wissen doch alle, warum wir hier sind.

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