Zum Hauptinhalt springen

[SHORTS:] Alle meine Farben

Heute ist der Tag.

Der Tag der Entzifferung.

Heute werde ich meine Farbe erfahren.

Und dort werde ich dann hingehören, für den Rest meines Lebens.

Ich bin Kya.

Kya Trusmitt.

Eine geborene Red.

Und selbstverständlich werde ich eine Red bleiben.

Welche andere Farbe als Rot – die Farbe unseres Blutes – kann eine geborene Red schon bekommen?

Wir sind die niedrigsten. Die Bauern. Die Knechte. Die Arbeiter.

Aber wir sind ein stolzes Volk. Wir halten zusammen.

Ja, es gibt andere.

Die orangen, die Angestellten in den Geschäften.

Die gelben, die Mönche und Nonnen der Laca.

Die grünen, die zur medizinischen Versorgung gehören; die blauen, die Lehrer; die grauen, die Verwalter und Ordnungshüter.

Die schwarzen – oh Gott, die schwarzen – das sind die Schlimmen, die kriminellen.

Die weißen, die Prediger, komisches Volk...

Und natürlich die violetten. Die violetten sind die königlichen.

Königliche werden geboren. Genauso wie Reds geboren werden.

Noch trage ich mein beige. Die Farbe der Nacktheit.

Der Babys, der Kinder, der Jugend. Aber ich bin jetzt 13 Jahre alt, und es ist der 7. Juni. Der Tag meiner Entzifferung ist da.

Ich warte nervös vor dem Testraum. Gleich werde ich aufgerufen.

„Nummer 321.“

Meine Füße tragen mich zum Stuhl.

Neben dem Stuhl baumelt eine Art Helm mit unendlich vielen Elektroden und Kabeln. Auch an Armen und Beinen werden Elektroden und Kabel angebracht, an meiner Brust, an meinem Rücken, auf meinem Bauch.

Ich werde angeschlossen für die größte und wichtigste Prüfung meines Lebens.

Gleich werden Bilder vor meinem inneren Auge auftauchen.

Eins nach dem anderen.

Und am Schluss – nach drei Minuten meist schon, höchstens nach fünf – wird meine Farbe feststehen.

Mein Rot.

„Bereit, Nummer 321?“

„Ja. “

Es geht los.

Ich sehe… beige.

Beige, das sich leicht ins rosa, rote färbt.

Doch dann wird es heller, immer heller.

Fast weiß.

Und dann wird es schlagartig schwarz vor meinen Augen.

Scheiße, was ist das?

Wieder weiß.

Wieder rabenschwarz.

Was ist hier los?

Für einen winzigen flackernden Moment taucht wieder das beige auf.

Ein kurzer Blitz ins Rot. Und dann bricht der Sturm los.

Ein um die andere Farbe zuckt durch mein Hirn. Blau-vio-lila-grün-orange-gelb. Rot weiß-giftgrün-pink. Weiß-schwarz-hell-dunkel-grau-knallrot.

Fuck, was zur Hölle passiert hier gerade?!

Panisch schlage ich die Augen auf.

Doch das macht es nur noch schlimmer.

Ich sehe… alle Farben. Alle miteinander.

Sie tanzen, sie verschwimmen, sie mischen sich, sie explodieren.

Mein Kopf!

Die Elektroden glühen.

Brennen sich in mein Hirn.

Es tut so unheimlich weh, und die Farben zucken.

Blitz um Blitz, und mein Körper krampft.

Ein Schrei – markerschütternd, wer kann so schreien?

Irgendwo am Rand meines Wahnsinns bemerke ich den Tumult um mich herum.

Ich beginne, um mich zu schlagen. Schreie, schreie.

Irgendwie gelingt es mir, eine Elektrode zu fassen, ich reiße sie weg.

Es wird immer schlimmer.

Blind vor Farben reiße ich weiter, bis alles schwarz wird und mein Hirn durchbrennt.

Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich renne.

Ich renne, ich renne um mein Leben.

Irgendwann, weit weit fort – in einem anderen Land – wage ich es, mich mit meinem Großvater in Verbindung zu setzen.

„Versteck dich, Kya“, sagt er mir. „Du – gefährdest ihr System. Weil du besonders bist. Anders als die anderen. Du siehst ALLE Farben.“

Von da an ist mein Leben nicht mehr dasselbe. Ich bin auf der Flucht. Jahrelang. Flüchte vor denen, die mich einsperren, die mir eine, meine Farbe aufzwingen wollen.

Doch wohin? Ich tauche unter, wandere von einer Farbe zur nächsten, versuche mich anzupassen. Doch nirgends passe ich dazu. Nicht mal bei den weißen. Nicht mal bei den schwarzen.

Irgendwann bin ich allein. Ich schippere tagelang übers Meer, bis ich zu einer kleinen Insel komme.

Dort ist alles bunt.

Und ich entdecke mich – und meine Farben.

Ich lerne, wie man aus Erde, Pflanzen, Tierdrüsensekret, oder auch vermischt mit meinem Urin, Farben herstellen kann.

Ich bekleckere mir die Finger und male in den weißen Sand und auf die hellen Steine.

Ich lerne, jede Farbe zu schätzen und zu lieben.

Und ich lerne, durch die Menschen auf der Insel, die mich irgendwann entdecken, auch dies: dass man auch mich lieben kann – mit all meinen Farben.

Und immer, wenn ich male, fühle ich die Kraft und die Emotionen, die mit jeder Farbe verbunden sind:

Das feurige ROT, die Farbe meines Blutes, leidenschaftlich, lebendig und kraftvoll.

Das tiefe BLAU, die Farbe von Himmel und Meer, Sehnsucht nach Unendlichkeit.

Das beruhigende GRÜN, die Farbe von Wiesen und Wäldern, hoffnungsvoll und frühlingshaft.

Das fröhliche GELB, die Farbe der Sonnenblumen, eine Farbe, die tatsächlich die Götter entzücken kann.

Das strahlende ORANGE, mit dem die Sonne hinter dem Horizont untergeht an den Sommerabenden.

Und schließlich das wunderbare, majestätische VIOLETT, wenn die Dämmerung hereinbricht und das Nachtfunkeln magische Träume verheißt.

All diese Farben leben in unserer wunderbaren Welt und tanzen auf unseren Bildern wie bunte Schmetterlinge, die lachend in den Himmel fliegen.

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Chrysalis und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden