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[SHORTS:] Das Mädchen, das weinte und lachte

Das Mädchen weinte.

Erst war es ihm gar nicht aufgefallen. Aber sie saß ihm gerade so schräg gegenüber im Bus, dass sein Blick ganz natürlich auf sie gerichtet war; und so hatte er es bemerkt, dass sie weinte.

Sie schien sich nicht daran zu stören. Sie ließ die Tränen einfach ihre Wangen hinab rollen und wischte sie verstohlen weg.

Niki konnte den Blick nicht von der winzigen silbernen Spur abwenden. Wie gern hätte er sie in die Arme genommen und getröstet. Doch brauchte sie überhaupt Trost?

Erst jetzt fiel Niki der weiße Stecker im Ohr des Mädchens auf. Bestimmt hörte sie Musik über die Kopfhörer; bestimmt war es die Musik, ein bestimmtes Lied, das sie besonders anrührte.

Niki lächelte in sich hinein. Zu gerne hätte er mitgelauscht und gewusst, welcher Art Musik die schöne Unbekannte zugetan war. Aber das war unmöglich. Niki stopfte sich seine eigenen Kopfhörer in die Ohren und drehte auf.

Einige Stunden später, es musste wohl schon nach Mitternacht sein, lag Niki schlaflos im Bett. Das Mädchen aus dem Bus wollte ihm nicht aus dem Kopf.

Schließlich setzte sich Niki auf, machte das große Licht an, griff nach seinem Skizzenblock und begann zu zeichnen. Der Bleistift flog über das Papier, und bevor er es sich versah, hatte er ein Porträt des Mädchens vor sich.

Er wusste sofort, dass die Skizze Potential hatte. Dieses Mädchen brauchte eine größere Leinwand. Gleich in der Früh, versprach sich Niki, würde er sie in Farbe zum Leuchten bringen.

Am nächsten Tag stand Niki vor der leeren Leinwand. Er hatte das Bild des Mädchens klar vor Augen: wie sie den Kopf schräg legte, die Spur der Träne auf ihrer Wange, und ihre langen Wimpern, an denen eine weitere Träne wie eine kleine Wasserperle hing… Er musste sie einfach malen. Aber die Farben, die er gewöhnlich für solche Bilder benutzte – grau, blau, dunkle Töne – schienen irgendwie nicht zu dem Mädchen zu passen.

Nein, dachte er. Blau ist nicht deine Farbe. Und du sollst nicht traurig sein. Auch wenn du wunderschön bist, wenn du weinst…

Eine Stunde später war das Bild fertig. Ungewöhnlich war es: das Mädchen, in leichtem Flieder, eine t iefviolette Träne in ihrem Auge. Doch durch das Fenster schien Sonne, hell und orange, und wärmte ihre Wangen in einem sanften Pfirsichton. Das gesamte Bild wirkte warm, nicht düster… hoffnungsvoll.

Zufrieden legte Niki den Pinsel beiseite und betrachtete sein Werk.

Am Nachmittag machte Niki einen Spaziergang. Die Sonne strahlte herrlich über den See, und vom glitzernden Wasser wehte eine leichte Brise herüber . Verliebte Paare flanierten Hand in Hand über die Promenade oder küssten sich auf einer Parkbank.

Niki bezeichnete sich selbst als glücklicher Single – aber insgeheim fehlte ihm eine Freundin, um ebenfalls so vertraut zu turteln. Niki war schüchtern, was dahingehend wohl sein Hauptproblem war: einzig seine Kunst liebte er.

Niki blickte hinaus aufs Wasser, als er hinter sich plötzlich Gesang hörte. Was Gesang: eine Stimme wie die eines Engels! Klar und rein wie ein Bergbach, mit einer kleinen Prise Melancholie, intonierte sie ein Lied, das er irgendwoher zu erkennen schien. Niki drehte sich um – und blickte direkt zu dem Mädchen aus dem Bus.

Sie stand, eine Gitarre in der Hand, am Rand der Promenade und hatte den Gitarrenkasten vor sich aufgeklappt. Ein Stapel CDs türmte sich neben ihr auf einem Stehtischchen, mit einem Schild „dreamwings – 15€“. Einige Scheine und Münzen lagen in ihrem Gitarrenkasten. Und sie sang und sang, und Niki war, als hätte er nie etwas Himmlischeres erlebt.

Sie hatte die Augen geschlossen, konzentrierte sich auf die Musik. Doch dann verklang das Lied, und ihr Blick traf den von Niki. Wo hatte sie ihn schon einmal gesehen?

Leicht verunsichert griff sie nach ihrer Gitarre und begann weiterzuspielen. Ihre Wimpern senkten sich wieder, und die Emotion, die sich hinter dem nächsten Song verbarg, übermannte sie. Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge und rann ihre Wange hinunter. Niki war der Einzige, der die Träne fallen sah. Im nächsten Moment lief ihm selbst das linke Auge über.

Nach dieser Begegnung hatte Niki noch mehr Schwierigkeiten, das Mädchen zu vergessen. Schließlich, genau eine Woche später, packte er seine Leinwände mit seinen besten Gemälden und begab sich auf die Promenade. Was das Mädchen konnte, konnte er auch: nämlich seine Kunst präsentieren. Selbstverständlich stellte er die „warme Träne“ ganz nach vorne.

Sein Plan ging auf. Das Mädchen entdeckte ihn etwa eine Dreiviertelstunde, nachdem er seinen Stand aufgebaut hatte. Als sie ihr Abbild in Acryl sah, kam sie näher.

„Hallo“, sagte sie, fast ein wenig scheu, mit ihrer Engelsstimme.

„Hallo…“, gab er, noch schüchterner, zurück.

„Du hast mich gemalt? Sollte das ich sein?“, fragte sie.

„Äh… ja“, meinte Niki.

„Das ist schön geworden.“

„Weil du schön bist.“ So ein Kompliment hatte Niki noch nicht vielen Frauen gemacht. Aber er setzte gleich noch eins drauf: „Und du singst wunderschön.“

Plötzlich lachte das Mädchen. Sie lachte – glücklich und befreit. Ihre Zähne blitzten hervor, und Niki fühlte, dass er nie mehr ohne dieses Lachen leben wollte. Er wollte dieses Mädchen in seinem Leben, er wollte, dass sie lachte.

„Du lachst auch schön.“ Da lachte sie noch mehr.

„Ehrlich“, bestätigte Niki.

„Und du malst schön. Ich würde viel dafür geben, malen zu können“, gab das Mädchen ein Kompliment zurück.

Niki deutete auf die Parkbank neben seinem Stand. Er wusste nicht, wo er plötzlich den Mut hernahm. Aber wusste, er durfte jetzt nicht zulassen, dass das Mädchen wegging.

„Magst du dich ein wenig mit mir unterhalten?“

„Okay“, meinte das Mädchen und lächelte dabei.

„Wie heißt du?“

„Iris.“

„Darf ich dich was fragen?“

„Ja, klar.“

„Warum hast du letztens geweint?“

„Geweint?“, fragte Iris erstaunt. „Ach so. Ich…“

„Ja?“

„Ich fühle die Musik sehr stark… sie rührt mich an… und das Lied von letztens… es war der Lieblingssong meiner Mutter. Sie ist letzten Monat gestorben.“

„Das tut mir leid. Mein herzlichstes Beileid.“

„Danke. Ich vermisse sie sehr. Weißt du, ich habe sonst niemanden mehr…“, plötzlich verschleierten sich die Augen des Mädchens wieder.

Niki blickte sie an und hob langsam eine Hand zu Iris‘ Wange. „Nicht weinen.“

„Werde ich nicht…“, murmelte sie.

„Ich habe auch niemanden“, sagte Niki. „Nicht mal…“, er verstummte.

„Oh“, sagte sie plötzlich, als ihr aufging, was er gemeint hatte.

Dann blickten sie sich an.

Und da, mitten auf einer Parkbank am See – umgeben von Liebenden, die Händchen hielten, und Schwänen, die ihre Hälse zueinander reckten – begann für Niki und Iris etwas Neues, Zauberhaftes…

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