Marmor der Überlegenheit
Heute sprechen wir über rechtes Gedankengeut auf Twitter, wie antike Kunst dafür instrumentalisiert wird und was das mit den rassistischen Tiraden eines Star-Architekten zu tun hat.
Den Ursprung des folgenden Arguments finden wir in der Renaissance (franz. Wiedergeburt). Es war die Wiedergeburt antiker Ideen oder was man für solche hielt. 1506 zum Beispiel wurde in Rom die Laokoon-Gruppe (Öffnet in neuem Fenster) gefunden. Heute steht sie im Vatikanischen Museum, enstanden sein soll sie im 1. Jahrhundert v. Chr. oder im 1. Jahrhundert n. Chr. Ähnlich muskulös geformte Männerkörper erschuf Michelangelo. Man sieht es an seinem David (Öffnet in neuem Fenster), den er 1504 haute.
(Apollo von Belvedere, im 2. Jhd. v. Chr. entstanden, im 15. Jhd. nahe Rom wiederentdeckt, im 18. Jhd. als Ideal (Öffnet in neuem Fenster) gepriesen)
Das naheliegende Argument, wenn man über die Instrumentalisierung von Skulpturen für Ideologien spricht, ist die Etablierung einer Normästhetik. Männer, die was leisten, die leiden und in die Geschichte eingehen, sehen so aus. Kein Sixpack, kein Mythos. Und dann sind sie auch noch weiß. (Öffnet in neuem Fenster) Und weil in der Antike alle so schlau (Öffnet in neuem Fenster)waren, naja, muss da ein Zusammenhang zwischen weiß sein und intelligent sein bestehen. Jedenfalls lautet so oder so ähnlich die Erklärung, mit der später immer wieder rassistisch motivierte Diskriminierung legitimiert werden sollte und das besagte Narrativ von Überlegenheit genährt wurde.
Turns out, die Skulpturen waren vermutlich gar nicht so blass (Öffnet in neuem Fenster), wie wir sie kennen:
https://www.dw.com/de/antike-statuen-waren-bunt-bemalt/a-64492461 (Öffnet in neuem Fenster)Marmor-Supremacy auf Twitter
Was Nutzer*innen sozialer Netzwerke auch heute nicht davon abhält, weiße Marmor-Skulpturen (Öffnet in neuem Fenster) als Profilbild zu nehmen und an ihnen zu zeigen, wie viel besser die Gesellschaft früher war.
https://twitter.com/mattxiv/status/1614036693665075200 (Öffnet in neuem Fenster)Die gepostete Antwort ist natürlich lustig, der Account des Original-Tweets ist es nicht. Zumal das gewählte Beispiel den "Raub der Persephone", im Englischen deutlicher "Rape of Proserpina" darstellt. Wer auf dem Account die "Früher war Architektur noch Kunst"-Bildtirade ignoriert und dem "Free yourself"-Link folgt, findet Social Media-Scams, einen Blog mit Elon Musk als Napoleon als Logo und den Link zu einem Audiobook, das für knapp 60 US-Dollar verspricht zu erklären, wie man die "richtige" Frau findet und ein "man of substance" wird. Andrew Tate lässt grüßen. (Leider schrieb ich diesen Text ein paar Tage bevor die Bio des Accounts geändert wurde. Nun steht dort "Tradition is not the worship of ashes, but the preservation of fire" and that says it all.)
Eine Ausnahme, könnte man meinen. Ein Klick auf die Liste der Accounts, die folgen und denen gefolgt wird, offenbart eine Fülle an Profilbildern mit Marmor-Köpfen oder gemalten Porträts. Auch wenn nicht alle von ihnen explizit alt-right-Material produzieren. Das Ausmaß des Zusammenhangs zeigen die Bedrohungen einer Wissenschaftlerin (Öffnet in neuem Fenster), die in einem Artikel darauf aufmerksam machte, dass viele der antiken Fundstücke einst bemalt waren und race und whiteness soziale Konstrukte seien. Was diesen Aussagen folgten, waren Morddrohungen. Oder Pharos (Öffnet in neuem Fenster), ein Projekt des Vassar College, das die Aneignung antiker und klassizistischer Ikonographie durch Neo-Nazis dokumentiert und aufarbeitet. Die Neonazi-Organisation Identity Evropa nutzte beispielsweise das Gesicht der David-Statue, um an Colleges ihre alt-right-Ideologie zu verbreiten. Gleichzeitig findet im Fachgebiet selbst eine Reflektion statt, denn auch wissenschaftliche Befunde müssen vor ihren jeweiligen Hintergründen neu bewertet werden (Öffnet in neuem Fenster).
Dass solche Accounts mit ihrer Kunstpropaganda aufzeigen, wie wenig Verständnis sie von Kunst haben, ist für mich wahnsinnig witzig. Der Wert eines Kunstwerks scheint davon abhängig gemacht zu werden, wie gut es dem Verfasser / der Verfasserin fragwürdiger Tweets gefällt. Das wiederum ist maßgeblich davon abhängig, mit welchen Vorstellungen von Kunst jemand sozialisiert wurde. Was gilt als schön? Was als richtig? Was hat eine Existenzberechtigung und was ist Müll, weil ich es nicht verstehe und es keinen direkten Bezug zu mir hat? Hier zeigt sich einerseits ein extrem eurozentrisches Weltbild (was man auch als Nichteuropäer*in haben kann, immerhin sind die Ursprünge dieser Engstirnigkeit älter als zum Beispiel die USA).
Andererseits implizieren solche Herangehensweisen an Kunst, dass Werke für ein Publikum geschaffen werden, das sie mit seiner Reaktion und Kaufkraft legitimiert. Nicht etwa als Werkzeug seine Gedanken oder Emotionen auszudrücken, als kulturelles Artefakt, in dem sich Sorgen, Wünsche und Ängste einer Gesellschaft manifestieren oder Kunst um der Kunst willen. Wenn es einer vermeintlich breiten Masse mit einem konkreten Verständnis von Ästhetik nicht zusagt, ist es keine Kunst und nichts wert. So lesen sich Tweets, die auch immer den "Früher war alles besser"-Vibe haben.
Minimalismus ist rassistisch
Je tiefer man gräbt, desto schlimmer wird es. Es muss nichtmal Twitter sein. Wir blicken auf Adolf Loos, seinerzeit Star-Architekt und bedeutender Einfluss für moderne Architektur. Durch Funktionalität und minimale Formen und Farben geprägt, wird sein Stil immer wieder mit Klassizismus in Verbindung gebracht, einer Epoche, die ihre Inspiration aus römischer und griechischer Antike, aber auch italienischer Renaissance nahm. Er wurde aber auch als Sexualstraftäter (Öffnet in neuem Fenster)(Trigger-Warnung für die hinter dem Link geschilderten Taten) angeklagt. Sein Urteil fiel mild aus. Inwiefern sein Status in der Wiener Gesellschaft ihn vor einem schweren Urteil bewahrt hat, arbeitet die Forschung weiter auf.
(Das Looshaus in Wien)
In seinem Werk "Ornamente und Verbrechen" stellt Loos Verbindungen (Öffnet in neuem Fenster) zwischen Ornamenten und, naja, Verbrechen her. Der Text ist wild. Die Recherche dazu auch, immer wieder liest man "bahnbrechend" oder "auch heute kann man kaum noch widersprechen". OH BOY!
Er beschreibt, wie das erste Ornament, das Kreuz, erotisch sei, der Mann als der vertikale Strich in einer aktiven Rolle, die Frau als horizontaler Strich darf erstmal nur existieren. Weiter geht es mit Evolution, die durch das Weglassen von Ornamenten begleitet werde. Denn Ornamente seien primitiv, kindlich. Von einer "Ornament-Seuche" ist die Rede, es bleibt weiter unangenehm sexuell konnotiert, Tätowierte und Ornamentliebhaber*innen seien degeneriert. Ornamente seien unnatürlich, ihr Weglassen ein Zeichen "geistiger Kraft". Selbst wenn man krampfhaft versucht seine Wort nicht wortwörtlich zu nehmen und irgendeinen Ansatz für Moderne und schlichtes Design herauszulesen: der offen rassistische Ton macht es schlicht unmöglich. Der Versuch Ornamente und damit versehene Kunstwerke, Objekte und Produkte auszuradieren, ist auch immer ein Versuch andere Kulturen, deren Stimmen und Erbe zu löschen. Denn in Publikationen wie der von Loos werden Ornamente immer in Zusammenhang mit afrikanischen Völkern gebracht.
(Canvas "Room for Comfort color combination")
Minimalismus als zumindest gedankliche Weiterführung von moderner Funktionalität hat seinen Ursprung im Faschismus, wie es hier so schön heißt (Öffnet in neuem Fenster). Analog zum Marmor besticht Hyper-Minimalismus durch greige (Öffnet in neuem Fenster): grau und beige. Für manche ist es beruhigend, elegant, modern und clean, für andere traurig und tot. So oder so ist es ein zur Zeit noch anhaltender Trend und etwas, das Menschen vorbehalten bleibt, die es sich leisten können Inneneinrichtungstrends zu folgen.
Meme der Woche
Danke
Was für ein rabbit hole. Ich habe sicherlich viele Abzweigungen vergessen und nicht jeden Punkt ausreichend analysiert. Aber zum Glück ist das auch nicht der Anspruch meines Newsletters.
Vielen Dank fürs Anklicken und Lesen. Wenn dir dieser Mini-Newsletter gefällt, abonniere ihn gerne unten und empfehle ihn weiter. Das würde mich freuen.
Auf bald!
Christina