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Der Hass auf mein früheres Ich

Der Hass auf mein früheres Ich

Oder auch: Habe ich moralische Pflichten gegenüber mir selbst?

Eine Kolumne von Charlotte Suhr (4. Mai 2024)

Es existieren nicht viele Fotos von mir als Jugendliche. Zwischen 13 und 19 Jahren habe ich mich einen großen Teil der Zeit entweder geweigert, fotografieren zu lassen oder hinterher alles gelöscht, auf dem ich zu sehen war. Ich konnte lange Zeit meinen eigenen Anblick nur schwer ertragen, weil ich mich so hässlich fand. In der 8. Klasse habe ich mich geweigert, mich auf Klassenfahrt mit auf das Gruppenbild zu stellen, weil ich mich so schrecklich fand und die Vorstellung, keine Kontrolle über das Ergebnis zu haben, mich fertig machte. „Hinterher freust du dich“, sagte meine Mutter oft, wenn ich mal wieder laut aufschrie, sobald sie mit dem Fotoapparat ankam. Ich dachte, sie hätte Unrecht, denn ich freute mich nie über die Ergebnisse. Heute finde ich es schade, dass ich nur auf so wenigen Bildern zu sehen bin. Mein Blick mir gegenüber hat sich gewandelt und inzwischen bin ich der Meinung, mein altes Ich nicht mehr hassen zu müssen. Es war ein langer Weg dorthin.

Es ist nicht lange her, dass ich regelmäßig Bilder aus der Hochphase meiner Essstörung und mit meinem höchsten Gewicht meinem Freund gezeigt und ihn gefragt: Damals sah ich doch schlimm aus oder? Guck, wie viel mehr ich dort wog! Was hätte er sagen sollen? Mich in meiner Fettfeindlichkeit mir selbst gegenüber bestätigen oder lieber sagen, er hätte mich immer schön gefunden? Ich hätte ihm ohnehin nicht geglaubt. Lange Zeit habe ich mich stark darüber definiert, eine klare Linie zwischen mir und meinem früheren Ich zu ziehen. Damals und heute. Das damals verschob sich immer mehr und wenn ich mit 24 noch dachte, meinem „alten Ich“ entkommen zu sein, fand ich mit 27 dann wieder diese Version von mir hässlich, cringe, doof, peinlich, nicht sportlich oder intelligent genug. Mein Wunsch, mich von mir und meiner Vergangenheit abzugrenzen bezog sich auf meinen Namen, meine Erfahrungen, meinen Körper, alte Menschen aus meinem Leben. Ich dachte, wenn ich meinen Namen ändern, abnehmen und meinen Doktor machen würde, könnte ich endlich ein neuer und besserer Mensch werden. Das Häufchen Elend von damals hinter mir lassen und einfach so tun, als wäre das alles nie passiert.

Damit ging jedoch stets die Angst einher, wieder „so“ werden zu können. Das Schreckensbild war nicht nur meine Vergangenheit, sondern auch eine latente Bedrohung. Wenn ich mir nicht genug genug Mühe geben würde, könnte ich davon eingeholt werden und andere könnten sehen, wer ich „in Wahrheit“ war. Ich hatte Angst davor, geoutet und enttarnt zu werden. Würden Menschen herausfinden, wer ich früher war, würden sie sicher aufhören, mich zu lieben. Mich peinlich und schrecklich finden.

Je älter ich werde und je mehr ich mich mit mir und meiner Vergangenheit auseinandersetze, desto gemeiner finde ich es, wie ich über das Mädchen - die junge Frau - denke, die ich damals war. Warum bin ich so vernichtend? Sie hat mir schließlich nichts getan, war kein schlechter Mensch und konnte für ihre Lebensumstände nichts. Was maße ich mir eigentlich an, über einen Menschen zu urteilen, der psychische Probleme, Depressionen, eine Essstörung, zwei undiagnostizierte Neurodivergenzen, Traumata, eine toxische Beziehung, Rassismus und Sexismus erlebt hat und ziemlich lange finanziell sehr prekär aufgestellt war? Es ist leicht, heute von einem hohen Roß zu schauen, aus einer privilegierten Situation mit genug Geld, viel Therapie, einer gesunden und liebevollen Beziehung, tollen Freund:innen und schönen Hobbys.

Wie kann ich selbst vermeintlich so hohe moralische Ansprüche haben und dann so eine arrogante und vernichtende Einstellung gegenüber einem Menschen, der es im Leben nun wirklich nicht leicht hatte?

Ich glaube, dass die Abneigung gegenüber meinem früheren Ich eine Mischung aus ableistischen, sexistischen, fettfeindlichen und rassistischen Glaubenssätzen besteht und sich das einmal so klar zu machen ist ziemlich schmerzhaft und traurig. Würde ich anderen gegenüber so hässlich denken wie meinem jüngeren Ich, würde ich mich selbst dafür hassen. Aber weil ich meine, mir selbst keine moralische Ansprüche gegenüber haben zu müssen, quasi vogelfrei gegenüber diskriminierenden und vernichtenden Ansichten zu sein, weil es ja „nur“ mich selbst betrifft, macht das meine Einstellung nicht besser. In Wahrheit ist der vernichtenden Blick meinem alten Ich gegenüber nicht besser, als würde ich meine Nachbarin hassen, weil sie krank ist und kein Geld hat.

Ich habe darüber einmal vor Jahren mit einer Freundin debattiert. Ob man moralische Pflichten sich selbst gegenüber hat. Und ich bin mir bis heute nicht sicher, wie ich es sehe. Ich sagte damals, dass ich mit mir und meinem Leben machen könne, was ich wolle und die Regeln sich unterscheiden würden zwischen dem, was ich mit mir tue und was ich mit anderen tue. In gewisser Weise bin ich davon noch heute überzeugt. Denn wenn ich als geschädigte Person damit einverstanden bin, mich selbst als hässlich und armselig zu bezeichnen, ist das in etwa so, als würde ich rauchen oder 160 Kilo mit rundem Rücken Kreuzheben. Etwaige Schäden betreffen mich selbst und können daher von mir auch akzeptiert werden. Wenn ich den Consent dazu gebe, habe ich niemandes Grenze ungefragt überschritten. Doch einen moralischen Schaden habe ich ja dennoch angerichtet. Vielleicht ist die Frage nicht: Was darf ich mir selbst antun? Sondern: Was wäre wünschenswert mir selbst gegenüber? Niemand kann mich zur Rechenschaft ziehen, wenn ich hässlich über mich denke oder mich in Gedanken beschimpfe. Außer mir selbst. Aber genau das ist es. Ich selbst kann es tun. Wenn ich mich dabei erwische, wie ich mich schlecht behandele, dann sollte ich anerkennen, dass ich ein wertvolles und fühlendes Wesen bin, das solch eine Behandlung nicht verdient hat.

Hinzu kommt eine Sichtweise, die sich in der Philosophie von Kant finden lässt. Das Konzept von Verrohung. Im Kontext von Tieren und ob diese einen moralischen Status haben, argumentiert Kant gegen eben jenen. Er sieht Tiere nicht als vernünftige Lebewesen und daher auch nicht als moralisch relevant per se. Er meint jedoch, dass diese durchaus körperliche Empfindungen wie Schmerzen erleben können und wer einem Tier weh tut, so Kant, würde damit insgesamt als Mensch verrohen. Als würde man eine Grenze überschreiten und eine Charakterentwicklung vornehmen, die in diesem speziellen Fall zwar moralisch noch nicht schlimm ist, jedoch dazu führen kann, dass man in anderen Kontexten diese Grenze ebenfalls eher überschreiten wird. Anders gesagt: Wer Tiere quält, ist eher dazu geneigt, auch Menschen zu quälen.

Obwohl ich Kant darin widerspreche, dass Tiere keinen moralischen Status haben, sehe ich das Konzept von Verrohung als sehr wichtig an. Ich glaube, wenn ich mir selbst gegenüber - oder meinem früheren Ich - hässliche, fettfeindliche, ableistische Gedanken habe, dann bin ich auch eher dazu geneigt, diese gegenüber anderen Personen zu haben. Wenn ich selbst dazu neige, mich fertig zu machen, wenn ich einen Fehler mache oder nicht perfekt bin, neige ich eher dazu, auch anderen gegenüber so streng zu sein. Ich glaube nicht einmal, dass es möglich ist, sich selbst gegenüber diskriminierende, schlimme Ansichten zu haben, die aus gesellschaftlichen Glaubenssätzen resultieren, ohne diese auch gegenüber anderen zu empfinden. Wer sein Verhältnis zu anderen heilen und falsche Glaubenssätze ablegen möchte, muss daher unweigerlich die Beziehung zu sich selbst heilen. Moralische Ansprüche, die wir anderen gegenüber haben, sollten wir daher auch auf uns selbst anwenden - und vice versa.

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