Zum Hauptinhalt springen

Kathrin Wolf, Isabel Kreitz: In einem alten Haus in Berlin

Die Vermittlung von Geschichtswissen ist ja so eine Sache. Dank staubtrockener Jahreszahlen-Auffädler*innen weiß ich zum Beispiel zwar noch "333 - bei Issos Keilerei", aber wer sich da gekeilt hat und warum - keinen blassen Schimmer.

Wenn ihr euch jetzt ungefähr das Gegenteil davon vorstellt (ich hatte Glück und habe auch solche Lehrer*innen erlebt), also lebensnahe, lebendige und zusammenhängende Erzählungen von Geschichte: Dann seid ihr "In einem alten Haus in Berlin". Der "Streifzug durch 150 Jahre deutsche Geschichte" (so der Untertitel) beginnt im Jahr 1871. Der siebenjährige Karl Schwartz zieht mit seiner Familie in ein neues großes Haus in Berlin. Im Erdgeschoss befindet sich die Apotheke des Vaters, in der Beletage die Wohnung der Familie und der Hausangestellten, im Stockwerk darüber vermietet die Familie Wohnungen. Über fünf Generationen begleiten wir das Leben der Familie in dem Berliner Haus. Karl Schwartz und seine Nachkommen erleben das Kaiserreich und die Weimarer Republik, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung und zum Schluss sogar die Corona-Pandemie.

Zuerst konkret, dann im Kontext

Jede "Epoche" beginnt mit einer Doppelseite, auf der ein Mitglied der Familie (immer ein Kind!) wie in einem Tagebucheintrag vom aktuellen Geschehen berichtet. Darauf folgt eine weitere Doppelseite, die das Erzählte in den größeren Kontext einordnet. Ein Beispiel: Die 15-jährige Martha Schwartz erzählt, dass ihr Freund und dessen Vater dabei waren, als Karl Liebknecht die sozialistische Republik ausgerufen hat. Die folgende Doppelseite erklärt die Geschehnisse um die Novemberrevolution, stellt Karl Liebknecht und weitere Politiker vor und zeigt in comicartigen Ausschnitten, dass zeitgleich die Spanische Grippe grassierte und die Bevölkerung unter den Folgen des Krieges litt. Ein Stammbaum hilft dabei, den Überblick nicht zu verlieren, und am Ende des Buches werden Begriffe wie Berlinblockade, Marshallplan oder Versailler Vertrag noch einmal kurz erklärt.

Die Kunst, Geschichte lebendig werden zu lassen

Ich habe noch nicht so viele Kinderbücher über die deutsche Geschichte in der Hand gehabt, aber ich behaupte mal: Es muss eins der besten sein. Das Buch vermittelt genau das, was ich im Schulunterricht so oft vermisst habe: Geschichte ist nicht einfach eine Aneinanderreihung von Ereignissen - sondern das, was unsere Vorfahren erlebt haben. Die Ereignisse sind nicht einfach "passiert", sie hatten Ursachen und Zusammenhänge und Einfluss auf die Gegenwart. 150 Jahre deutsche Geschichte exemplarisch erzählt am Leben einer Familie: Da ist die Kunst gelungen, nicht nur das große Ganze verständlich zu machen, sondern auch, was es für die Menschen im Alltag bedeutet hat. Wenn man das Buch am Stück durchliest (so wie ich, weil ich einfach nicht mehr davon wegkam), braucht Zeit - aber man kann sich auch jeden Zeitabschnitt einzeln vornehmen.

Und zum Schluss noch ein schönes Detail: Im Stammbaum gibt es einen Papa mit türkisch gelesenem Namen, eine alleinerziehende Mutter, ein Kind of colour und unverheiratete Eltern. Wie das Leben eben ist.

Gerstenberg Verlag, ab 10 Jahren (und ab dann eigentlich immer), 28 Euro

Bestell die monatliche Buchguckerpost und verpasse keine Rezension mehr!

Cover von "In einem alten Haus in Berlin" von Kathrin Wolf und Isabel Kreitz aus dem Gerstenberg Verlag
Kategorie Neuerscheinungen

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Die Buchguckerei und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden